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DILJA/191: Neue Kronzeugenregelung macht Angeklagte zu Bezichtigungsgehilfen (SB)


Verdächtige Eile - Strafjustiz wird durch im Schnellverfahren durchgebrachtes Gesetzespaket massiv verschärft

Neue Kronzeugenregelung ersetzt Beweislast der Ermittlungsbehörden durch ein System von Bezichtigungen, Denunziationen und Verleumdungen


Nach einer von vornherein auf 90 Minuten begrenzten parlamentarischen Aussprache, die Wolfgang Neskovic von der Partei Die Linke deshalb als eine "Alibiveranstaltung für das Protokoll" [1] bezeichnete, hat der Bundestag am 28. Mai 2009 ein ganzes Paket strafrechtsverschärfender Gesetze verabschiedet. Der damit vollzogene Ausbau des Repressionsapparates untergräbt fundamentale Prinzipien des demokratischen Rechtsstaates und einer an rechtsstaatliche Grundsätze gebundenen Strafjustiz, wobei das um gleich drei neue Straftatbestände erweiterte Staatsschutzstrafrecht [2] den wohl tiefsten Einschnitt darstellt, weil von dem Grundsatz, mit den Mitteln der Strafjustiz eine Straftat und keineswegs eine unterstellte und per se nicht nachweisbare Absicht oder Gesinnung zu bestrafen, abgewichen wird.

Nicht minder problematisch und schon aus verfassungsrechtlichen Gründen abzulehnen ist die ebenfalls verabschiedete "Verständigung" im Strafprozeß [3], wodurch nach US-amerikanischem Vorbild auch in deutschen Gerichtssälen die Verpflichtung der Ermittlungs- und Anklagebehörden, die von ihnen angeklagte Straftat beweiskräftig nachzuweisen, faktisch unterminiert wird durch eine Bezichtigungspraxis, bei der Angeklagte unter der Anschuldigung schwererer Straftaten und damit höherer Strafen dazu verleitet wird, eine geringfügigere und für sie aussichtsreichere "Schuld" anzuerkennen. Doch damit nicht genug: Die Parteien der großen Koalition brachten mit dem "Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches - Strafzumessung bei Aufklärungs- und Präventionshilfe" eine Regelung durchs Parlament, die die Optionen des seit 1999 nicht mehr verlängerten und in seinem Kern höchst umstrittenen Kronzeugengesetzes noch erheblich ausweiten.

In der Aussprache oder vielmehr Alibiveranstaltung des Bundestages offenbarte Bundesjustizministerin Brigitte Zypries ein kritikwürdiges Rechtsverständnis, indem sie zur Begründung der neuen Kronzeugenregelung anführte, "wir" bräuchten ein "Prozessrecht, das hilft, Anschläge und andere schwere Verbrechen zu verhindern" [4]. So unstrittig wie es sein mag, daß in der Strafzweckdiskussion sehr wohl anerkannt wird, daß die Strafjustiz auch generalpräventive Aufgaben zu erfüllen habe, so fehlgeleitet ist doch die Auslegung, daß die eigentlich der Polizei und den exekutiven Sicherheitsbehörden vorbehaltene Aufgabe der Verhinderung drohender oder bevorstehender Straftaten auf das Strafprozeßrecht zu übertragen sei, dessen genuine Zweckbestimmung in der Gewährleistung eines an geltende rechtsstaatliche Normen und Verfassungsgrundsätze gebundenen Ermittlungs- wie auch Strafverfahrens liegt. So wird in einschlägigen juristischen Nachschlagewerken wie beispielsweise Creifelds Rechtswörterbuch [4] zum "Strafprozess(recht)" keineswegs der von Zypries angeführte Zweck, Anschläge und schwere Verbrechen zu verhindern, herangezogen:

Der Strafprozeß ist ein gesetzlich geordnetes Verfahren, in dem über das Vorliegen einer Straftat zu entscheiden ist: ggf. werden durch richterliches Urteil strafrechtliche Folgen ausgesprochen, nämlich durch den Ausspruch über Schuld und Strafe oder andere strafrechtliche Maßnahmen (...). Dadurch soll der gestörte Rechtsfriede der Gemeinschaft wiederhergestellt werden. Der Strafprozeß dient der Durchsetzung der materiellen Normen des Strafrechts; er wird geregelt durch das formelle Strafrecht, das sog. Strafprozeßrecht.

Der generalpräventive Zweck der Strafjustiz wird in Literatur und Strafrechtslehre als allgemeine Abschreckung postuliert, indem jedem potentiellen Gesetzesbrecher durch die tatsächliche Verhängung der in den jeweiligen Strafnormen angedrohten Sanktionen unmißverständlich klargemacht wird, daß auch er gegebenenfalls mit einer Bestrafung rechnen muß. Von Ermittlungs- oder Straftatsverhinderungsaufgaben in konkreten Einzelfällen, die wohlbemerkt mit den Mitteln des Strafprozeßrechts zu bewältigen wären, ist hier weit und breit nicht die Rede, und dies mit gutem Grund. Das Verhältnis staatlicher Repressionsorgane im Ermittlungs- und Strafverfahren ist stets ein grundrechtlich höchst sensibles, weil jeder Verdächtige, Beschuldigte und Angeklagte in seinen Grundrechten eingeschränkt werden kann und wird, weshalb sich gerade in der an rechtsstaatlichen Kriterien überprüfbaren Qualität der Strafjustiz die rechtstaatliche Qualität des gesamten Staates offenbart.

Mit dem nun vom Bundestag beschlossenen neuen Gesetz zur Strafzumessung werden nicht nur die Gründe, die auch namhafte Juristen gegen das von der damaligen Bundesregierung 1999 nicht ohne Grund nicht noch einmal verlängerte Kronzeugengesetz vorgebracht haben, ignoriert. Die höchst umstrittene Regelung wird in ihrem Anwendungsbereich gegenüber ihren Vorläufermodellen sogar noch erheblich ausgeweitet. Dazu führte das Bundesjustizministerium in seiner Presseerklärung vom 28. Mai 2009 [4] unter anderem aus:

Die neue Strafzumessungsvorschrift unterscheidet sich vor allem in zwei Punkten von den bisherigen Kronzeugenregelungen: Wir fassen künftig den Anwendungsbereich breiter und treffen Schutzkehrungen gegen Missbrauch.

Der wesentliche Nachteil der bisherigen Regelungen lag und liegt zum einen in ihrer Beschränkung auf bestimmte Deliktsbereiche. Gegenwärtig kann nur der Täter eines Betäubungsmitteldelikts oder ein Geldwäscher eine Strafmilderung erhalten und dies auch nur dann, wenn er hilft, ein Drogen- oder Geldwäschedelikt aufzuklären.

Damit fehlt ein Kooperationsanreiz für alle potenziellen "Kronzeugen", die eine andere Tat begangen haben, etwa für den Passfälscher, Schleuser oder Waffenhändler, durch dessen Angaben z. B. ein Sprengstoffanschlag vereitelt oder aufgeklärt werden kann. Deshalb haben wir eine allgemeine Strafzumessungsregelung geschaffen, die grundsätzlich unabhängig vom Delikt des "Kronzeugen" angewandt werden kann, wenn er wichtige Informationen zu schweren und häufig auch nur schwer aufklärbaren Straftaten preisgibt.

Bereits im Jahre 1976 bezeichnete der damalige Generalbundesanwalt Siegfried Buback die Kronzeugenregelung als eine "ganz unnötige Kapitulation des Rechtsstaates". Auch bei einer öffentlichen Anhörung, die der Rechtsausschuß des Bundestages am 25. März 2009 in Hinsicht auf den Entwurf der nun beschlossenen neuen Kronzeugenregelung durchführte, bezeichneten Sachverständige diese als fragwürdig. Nach Paragraph 46 StGB bestand bereits nach vorheriger Rechtslage unabhängig von den wenigen, an ganz bestimmte Straftaten geknüpfte Regelungen, in denen die 1999 aufgehobene Kronzeugenregelung fortbestand, ganz generell die Möglichkeit, im Rahmen der Strafzumessung das kooperative Verhalten mutmaßlicher Täter zu honorieren. Wer also gegenüber Polizei oder Justiz Angaben zulasten Dritter machte, konnte sich damit eine für sich günstigere Lage "erkaufen", die allerdings ihre Grenzen in dem rechtlichen Rahmen der in einer Strafvorschrift vorgesehenen Sanktionen fand, die nicht unterschritten werden konnten.

Mit dem nun verabschiedeten Gesetz zur Strafzumessung wurde das Tor zu einer Willkürjustiz noch weiter als bisher geöffnet, indem den Nöten der Strafermittler, denen die Aufgabe obliegt, eine für eine Verurteilung ausreichende Beweislage herzustellen, begegnet wird durch ein Beschuldigungs- und Denunziationssystem, in dem Beschuldigte durch die Bezichtigung anderer versuchen, ihren Hals zu retten. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang die in oben zitierter Pressemitteilung des Bundesjustizministeriums gewählte Formulierung, die neue Regelung käme in Betracht, wenn ein Kronzeuge "wichtige Informationen zu schweren und häufig auch nur schwer aufklärbaren Straftaten preisgibt". Das heißt, daß dieses System auch für den gemeinhin als schwer aufklärbar geltenden Bereich der Bagatell- und Kleinkriminalität gelten könnte.

In der Praxis könnte dies dann so aussehen, daß sich die Polizei oder Staatsanwaltschaft einen ihr irgendwie Verdächtigen schnappt, ihn mit schwersten Beschuldigungen und den durch die Kronzeugenregelung gebotenen Möglichkeiten konfrontiert und dann abwartet, ob dieser ihr brauchbares und wenn irgendmöglich auch gerichtsverwertbares Material gegen Dritte liefert. Es muß wohl nicht eigens angeführt werden, daß eine solche Ermittlungsarbeit mit den rechtsstaatlichen Prinzipien einer demokratischen Strafjustiz nicht zu vereinbaren ist und nur unter Bruch des in der Verfassung verankerten Rechtsstaatsprinzip realisiert werden kann.

Der Einwand, daß derzeit, zumindest in Teilbereichen, bereits so gearbeitet wird, ist allerdings zutreffend und unterstreicht die Annahme, daß mit der neuen gesetzlichen Regelung die bestehende Praxis lediglich der ihren Anwendungsbereich einschränkenden gesetzlichen Fesseln entledigt und damit immens ausgeweitet werden soll. So führte in der Bundestags-Alibi-Debatte am vergangenen Donnerstag Jerzy Montag von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Kronzeugenregelung aus [1]:

Das bedeutet praktisch und faktisch in der Zukunft, dass die Polizei, vielleicht sogar mit einem noch nicht verteidigten Beschuldigten, die Gespräche führen wird, die es heute in Drogensachen schon in jedem Verfahren gibt.

Das Allererste, was die Polizei zu einem festgenommenen Drogenbeschuldigten sagt, ist: Grüß Gott - in Bayern - oder guten Tag, das ist Paragraph 31 des Betäubungsmittelgesetzes, lesen Sie ihn sich genau durch. Darin steht, welchen Strafrabatt Sie von uns bekommen, wenn Sie Angaben machen. - Das ist das, was die Polizei regelmäßig erklärt. - Dann wird dieses Geschäft zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft einerseits und dem Täter andererseits natürlich zustande kommen. Dann - da haben Sie Recht - gehen diejenigen - nichts da! -, die das Geschäft verhandelt haben, vor den Richter - rein formal - und sagen mehr oder minder: Du bist der Notar, du bestätigst das nur noch.

Das wird in der Zukunft die Folge sein. So ist das auch bei Paragraph 31 Betäubungsmittelgesetz. Das ist die Praxis.

[Zwischen- und Zurufe wurden in dieser Zitation weggelassen, Anmerkung der Schattenblick-Redaktion]

Tatsächlich wird die neue Regelung das bestehende Strafjustizsystem im schlechtesten Sinne "revolutionieren", zumal das Ausmaß, in dem fürderhin in Ermangelung "harter Fakten", sprich überprüfbarer kriminologischer Beweise oder "normaler", das heißt ohne Zuhilfenahme von realer Be- und in Aussicht gestellter Entlastung zustande gekommener Zeugenaussagen mit Bezichtigung, Denunziation und Verleumdung gearbeitet werden wird, noch überhaupt nicht abzusehen ist. Aufgrund der unauflösbaren engen Verbindung zwischen der Absicht eines Beschuldigten, die ihm drohende Strafe von sich abzuwenden oder zumindest abzumildern und den dafür erforderlichen "Informationen" über bzw. gegen Dritte müßte der diesen vor Gericht zugebilligte Wahrheitsgehalt eigentlich generell bei Null angesiedelt werden.

Da Ermittlungsbehörden wie auch Strafgerichte jedoch das Interesse haben, zu möglichst vielen Aburteilungen zu kommen, war es bereits vor der Verabschiedung der neuen Strafzumessungsregeln in Strafprozessen mit Kronzeugen üblich, daß ihnen per se eine besonders hohe Glaubwürdigkeit unterstellt wurde. So haben Anwälte von durch Kronzeugen belasteten Angeklagten schon in der Vergangenheit immer wieder die Erfahrung machen müssen, daß diesen Zeugen vor Gericht weitaus mehr Glauben geschenkt wird als Angeklagten, die sich nicht bereitfanden, gegen andere auszusagen. Den Kronzeugen wurde fast schon die Rolle eines Polizisten zugebilligt, eines Belastungszeugen also, bei dem der Wahrheitsgehalt der von ihm gemachten Aussagen per se nicht hinterfragt oder in Zweifel gezogen wird, was angesichts der Interessen von Staatsanwaltschaft und Gericht nicht schwer zu erklären ist.

Daß mit der Kronzeugenregelung, noch dazu, insofern sie auf alle Deliktsgruppen und denkbaren Anwendungsbereiche ausgeweitet wurde, Falschbezichtigungen produziert werden, muß als hinlänglich bekannt, weil schon seit vielen Jahren in zahlreichen Publikationen erörtert, auch beim Gesetzgeber vorausgesetzt werden. So schilderte der Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck vom Bundesvorstand des Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) die - wenn man so will - psychologische Situation eines Menschen, der sich dazu verleiten ließ, als Kronzeuge aufzutreten, bereits vor neun Jahren in eindringlicher Weise [6]:

Es spielen sich im übrigen bei monatelangen Vernehmungen zwischen dem Kronzeugen und seinen Vernehmern psychologische Prozesse ab, die durchaus mit dem sogenannten Stockholm-Syndrom zu vergleichen sind. Alle Eindrücke der Außenwelt werden dem Zeugen nur noch über die ihn betreuenden Zeugenschutzbeamten und seine Vernehmer vermittelt. Er wird in vielfacher Hinsicht total abhängig von diesen Personen. Von der Bewertung seiner Aussagen hängt seine ganze weitere Existenz ab. Aber auch emotional wird der Zeuge eben mehr und mehr von den Vernehmern abhängig. Es entsteht für ihn eine schiefe Ebene, es gibt kein Zurück mehr.

Falschaussagen und -bezichtigungen, um nicht zu sagen Verleumdungen mit für die Betroffenen höchst schwerwiegenden Folgen, sind nicht Zufallsprodukte einer solchen Ermittlungsarbeit, sondern sehr wohl beabsichtigte Resultate. Längst sind Fälle bekannt, in denen sich herausgestellt hat, daß der Kronzeuge alles "erstunken und erlogen" hat, was die Ermittler von ihm hören wollten. So schilderte der Rechtsanwalt und Publizist Rolf Gössner bereits im März 2000 einen solchen Fall. In einem sogenannten Terrorismus-Verfahren hatte sich ein Betroffener den Ermittlern drei Monate lang als Kronzeuge zur Verfügung gestellt. Zwei frühere Bekannte waren als Mitglieder der Revolutionären Zellen (RZ) von ihm benannt worden. Später gestand er ein, daß "alles war bis ins Detail erlogen" gewesen. "Ich war in einem schlimmen Tief", versuchte er seine Lage und Handlungsweise hinterher zu erklären und führte an, er habe sich von den ihn verhörenden Beamten "total abhängig" gefühlt und habe, damit diese ihn nicht fallen ließen, "immer irgendwie Leistung bringen wollen" [7].

All dies wären bereits Gründe genug, um die Kronzeugenregelung in jeglicher Form und in jedwedem Anwendungsbereich in der Versenkung verschwinden zu lassen. Mit ihrer nun beschlossenen Wiedereinführung und Ausweitung werden die ohnehin höchst ungleichen Verhältnisse im Strafprozeß, der dem demokratischen Gerechtigkeitspostulat zufolge auf gleicher Augenhöhe zwischen Anklage und Verteidigung stattfinden soll, noch weiter zuungunsten der Verteidigung und damit auch der Angeklagten verschoben. Auch dies wird als eine vom Gesetzgeber sehr wohl beabsichtigte Wirkung dieses Gesetzes zu bewerten sein, zumal alle in dem am vergangenen Donnerstag durch den Bundestag im Eilverfahren manövrierten Gesetze zu Strafrechtsverschärfungen und somit einem Ausbau des Repressionsapparates führen und nicht ein einziges zugunsten der Betroffenen und zum Schutz ihrer grundgesetzlich verankerten Rechte dessen Befugnisse stärker als bisher einschränken.

Wolfgang Kaleck vom Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) hatte bereits vor neun Jahren festgestellt, inwiefern die (damalige) Kronzeugenregelung die Rechte und Möglichkeiten der Verteidigung massiv einschränkt [6]:

Ich möchte meine Kritik auf die zwei wichtigsten Argumente beschränken. Zum einen soll im Strafprozeß eine sogenannte Waffengleichheit zwischen Anklage und Verteidigung bestehen. Das faire Verfahren soll garantiert sein. Hiervon kann schon in "normalen Strafverfahren" kaum die Rede sein. Die Ermittlungsbehörden, insbesondere die Polizei, verfügt über einen absolut überlegenen Apparat. Die wichtigen Entscheidungen im Strafprozeß werden entgegen landläufiger Meinung nicht in der Hauptverhandlung vor Gericht, sondern im Ermittlungsverfahren getroffen, wenn das Verfahren in den Händen von Staatsanwaltschaft und Polizei ist. Dies zeigt sich besonders deutlich beim sogenannten Kronzeugen. Dieser wird über Monate vernommen, ohne daß die Verteidigung des jeweils Beschuldigten vollständig erfahren würde, was der Zeuge gegen ihren Mandanten im einzelnen ausgesagt hat. Ebenso ist es der Verteidigung in diesem Stadium unmöglich, eigene Fragen an den Zeugen zu richten. Die Verteidigung ist in solchen Fällen vielmehr gezwungen, abzuwarten, was der Kronzeuge gemeinsam mit den Ermittlungsbehörden an Vernehmungsprotokollen produziert und kann dann erst im Stadium der Hauptverhandlung mit der Verteidigung beginnen.

Wie begründet das Argument ist, daß mit der im Strafrecht postulierten Wahrheitsfindung nicht in Übereinstimmung gebracht werden kann, was ein von den Ermittlern abhängiger "Kronzeuge" an vermeintlichen Informationen produziert, läßt sich mit dem nun beschlossenen Gesetz auch insofern erhärten, als dem Kronzeugen der Lohn seines Verrats bzw. seiner etwaigen verleumderischen Äußerungen sehr wohl vorenthalten werden kann. In der Pressemitteilung des Bundesjustizministeriums [4] heißt es dazu unter dem Stichwort "Kein Automatismus der Strafmilderung":

Die Strafmilderung ist kein Automatismus. Vielmehr hat das Gericht ausdrücklich die Aufgabe, den "Wert" der Aussage zur Schwere der Tat des "Kronzeugen" ins Verhältnis zu setzen. Es muss also abwägen, ob der konkrete Nutzen der Aussage und die Schwere der dadurch aufgeklärten oder verhinderten Taten es rechtfertigen, dem "Kronzeugen" für seine eigene Tat eine Strafmilderung zu gewähren. Es bleibt dem Gericht daher insbesondere unbenommen, dem "Kronzeugen" wegen der besonderen Schwere seiner Schuld oder wegen des nur geringen Nutzens seiner Aussage eine Strafmilderung zu verwehren.

Mit anderen Worten: Die Strafermittlungsbehörden, die die Verhandlungen mit dem angehenden "Kronzeugen" führen, verpflichten sich zu nichts; an etwaige Absprachen oder dem Kronzeugen in Aussicht gestellte Verheißungen ist auch das urteilende Gericht nicht im mindesten gebunden. Die Zulastung gesellschaftlicher Schuld auf einzelne, die zu Straftätern gemacht und auf der Basis der ihnen nachgewiesenen oder auch nicht nachgewiesenen Verfehlungen gegen die Ge- und Verbote der herrschenden Ordnung stellvertretend abgestraft werden, wird damit auf die nächsthöhere Stufe gestellt. Die Bereitschaft, sich zuungunsten anderer persönliche Vorteile zu verschaffen, die als Prämisse des gesellschaftlichen Zusammenlebens bewertet werden könnte, wird damit zur Nutzanwendung gebracht in Hinsicht auf einen Bestrafungs- und Aburteilungsapparat, der sein Verurteilungsvermögen zu einem immer höheren Prozentsatz aus den Bezichtigungen und Gegenbezichtigungen betroffener Menschen zieht, die sich zum Nutzen des Staates gegeneinander ausspielen lassen.

Anmerkungen

[1] Plenarprotokoll. 16. Wahlperiode, 224. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Mai 2009, Beginn: 09.02 Uhr. Vorab-Veröffentlichung der nach Paragraph 117 GOBT autorisierten Fassung vor der endgültigen Drucklegung, Ausdruck aus dem Internet-Angebot des Deutschen Bundestages, 28. Mai 2009,
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/16224

[2] Zu den am 28. Mai 2009 verabschiedeten neuen Strafgesetzen im Staatsschutz siehe im Schattenblick unter RECHT\FAKTEN:
DILJA/184: Neues Staatsschutz-Strafrecht zielt auf unterstellte Absichten (SB)


[3] Zu dem am 28. Mai 2009 verabschiedeten Gesetz über die "Verständigung im Strafrecht" siehe im Schattenblick unter RECHT\FAKTEN:
DILJA/185: "Verständigung" im Strafrecht zu Lasten angeklagter Menschen (SB)

[4] Zitiert aus: Bundestag verabschiedet "Kronzeugen"-Regelung, Pressemitteilung des Bundesministeriums der Justiz vom 28. Mai 2009, im Schattenblick nachzulesen unter RECHT\FAKTEN: STRAFRECHT/378

[5] Rechtswörterbuch, 15. Auflage, Neuauflage 1999, Verlag C. H. Beck, München

[6] Siehe: "Wem dienen Kronzeugen?" von Wolfgang Kaleck, junge Welt, 8.6.2000

[7] Siehe: "Der Kronzeuge, Die Ware Verrat", Rolf Gössner, Ost-West-Wochenzeitung, 3.3.2000)

2. Juni 2009



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