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VÖLKERRECHT/058: Wo die Welt zu ihrem Recht kommt (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft 3/2008

Völkerstrafrecht
Wo die Welt zu ihrem Recht kommt

Von Albin Eser


In Den Haag, nach dem Ersten Weltkrieg zum Sitz des Internationalen Gerichtshofs erwählt, können seit dem letzten Jahrzehnt auch Einzelpersonen für Völkerrechtsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. Mit der Anklage gegen den sudanesischen Präsidenten Al-Baschir und der Verhaftung des Serbenführers Radovan Karadzic sieht sich diese noch junge internationale Strafgerichtsbarkeit hohen Erwartungen ausgesetzt - Erwartungen, die sie nach Meinung von Albin Eser nur dann erfüllen kann, wenn das Verfahrenssystem grundlegend verbessert wird.


"Welthauptstadt des Rechts" - diesen hohen Titel darf der Regierungssitz der Niederlande mit gutem Grund in Anspruch nehmen, residiert hier doch schon seit dem Ersten Weltkrieg im Friedenspalast der Internationale Gerichtshof, zuständig für die Beilegung zwischenstaatlicher Streitigkeiten. Inzwischen ist Den Haag auch Sitz des Internationalen Straftribunals für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) sowie des ständigen Internationalen Strafgerichtshofs (ICC), der jüngst durch Anklage gegen Sudans Präsidenten Al-Baschir diplomatischen Wirbel ausgelöst hat. Für weltweites Aufsehen sorgte auch das Jugoslawientribunal durch die Verhaftung des ehemaligen Serbenführers Radovan Karadzic.

Manche publizistischen Äußerungen zur Verhaftung von Karadzic und der noch ausstehenden von Ratko Mladic konnten den Eindruck erwecken, als sei ohne deren Verurteilung die Aufgabe des Jugoslawientribunals als gescheitert anzusehen. Diese Annahme ist richtig - und doch auch wieder falsch. Richtig ist sie insofern, als die internationale Strafjustiz ihre Mission in der Tat verfehlen würde, wenn bei massenhaften Gräueltaten nur die unteren Chargen zur Verantwortung gezogen würden, während die Hauptverantwortlichen einmal mehr strafrechtlich ungeschoren davonkämen. Andererseits wäre es falsch zu verkennen, dass mit mehr als 160 Angeklagten und bereits über 115 Abgeurteilten das ICTY ein markantes Signal gegen die scheinbar unausrottbare Straflosigkeit von völkerrechtlichen Verbrechen gesetzt hat.

Gleichwohl beschäftigt mich seit meiner eigenen richterlichen Tätigkeit am ICTY die Frage, ob die internationale Strafgerichtsbarkeit bereits ihre optimale Prozessstruktur gefunden hat, um langfristig die ihr gesetzten Ziele zu erreichen: aufgrund bestmöglicher und in fairer Weise durchgeführter Wahrheitsermittlung Schuldige zur Verantwortung zu ziehen und Unschuldige freizusprechen, den Opfern Genugtuung zu verschaffen, künftigen Völkerrechtsverbrechen entgegenzusteuern und - weil über die Aburteilung von Alltagskriminalität hinausgehend für Völkermord und Kriegsverbrechen besonders wichtig - auf Versöhnung verfeindeter Gruppen hinzuwirken.


Der Richter als bloßer Schiedsrichter?

Diese Ziele werden, um es unumwunden zu sagen, mit einer "adversarischen" Verfahrensstruktur, wie sie aus dem anglo-amerikanischen common law allzu unbesehen in die internationale Strafgerichtsbarkeit eingebracht wurde, schwerlich zu erreichen sein. So knapp wie möglich ausgedrückt, ist für dieses Prozesssystem charakteristisch, dass die Durchführung der Hauptverhandlung - als party driven anstatt judge led - vornehmlich in den Händen der Parteien, des Anklägers und des Verteidigers, liegt. Diesen bleibt es im Wesentlichen überlassen, welche Beweise sie präsentieren, welche Zeugen und Dokumente sie in den Prozess einführen wollen und in welcher Weise und Abfolge die Beweisaufnahme erfolgen soll.

Dem Richter bleibt praktisch nur die mehr formale Rolle eines Schiedsrichters, von dem - wie von einem ICTY-Richter beschrieben - nicht mehr erwartet wird, als "die Waage der Gerechtigkeit gleichmäßig zwischen den Parteien zu halten", ohne also selbst aktiv in die Wahrheitsermittlung einzugreifen. Das mag für die Aburteilung von Alltagskriminalität taugen, vermag jedoch schwerlich, wie inzwischen selbst von Richtern aus dem common law eingeräumt wird, der weitaus größeren Komplexität von völkerrechtlichen Verbrechen gerecht zu werden.

Dabei geht es nicht nur um die viel beklagte Überlänge adversarischer Strafverfahren, sondern (und dies noch weitaus schwerwiegender) um mögliche Mängel in der den jeweils einseitigen Interessen der Parteien überlassenen Wahrheitsermittlung. Auch für eine Mitwirkung von Opfern bleibt - über eine bloße Zeugenrolle hinaus - neben dem Ankläger und dem Verteidiger als den Hauptakteuren kein Raum.

Dieser Kritik Rechnung zu tragen, braucht nicht zu heißen, dass das adversarische Verfahrenssystem schlichtweg durch ein "inquisitorisches" System, wie es für die kontinental-europäische Tradition charakteristisch ist, zu ersetzen wäre. Wohl aber wären in der internationalen Strafgerichtspraxis verschiedene Korrekturen vorzunehmen, um sowohl Verurteilungen als auch Freisprüche in fairer und zügiger Weise auf bestmöglicher Wahrheitsgrundlage treffen zu können. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit erscheinen mir vor allem folgende Verbesserungen erforderlich.

Um mit der viel beklagten Überlänge der Verfahren zu beginnen, so hat die dahin führende Ursachenkette ihren Anfang bereits in der Aufspaltung des adversarischen Verfahrens: So gibt es den prosecution case, in dem der Ankläger für alle und die oft sehr zahlreichen Anklagepunkte sein ganzes Beweismaterial unter Beweis zu stellen hat, und den sich anschließenden defense case, in dem die Verteidigung ihr Entlastungsmaterial vorlegen kann.

Da nun aber der Ankläger noch nicht wissen kann, was ihm von Seiten des Verteidigers möglicherweise entgegengehalten wird, und er damit rechnen muss, beim Scheitern eines seiner Beweismittel nicht ohne Weiteres ein anderes nachschieben zu können, bleibt ihm, um kein Risiko einzugehen, nichts anderes übrig, als von vornherein alle anklagedienlich erscheinenden Zeugenaussagen und Dokumente in die Beweisaufnahme einzubringen. Dementsprechend wird zu gegebener Zeit natürlich auch die Verteidigung mit ihrem Entlastungsmaterial verfahren.

Das damit programmierte Übermaß an möglicherweise überflüssigem Beweismaterial wird zudem dadurch noch weiter erhöht, dass die Parteien nicht wissen können, was in den Köpfen der sich verschwiegen zurücklehnenden Richter vorgeht: ob und was diese bereits für ausreichend beweiskräftig und demzufolge alles Weitere für überflüssig halten, oder ob nicht stattdessen wesentlich anderes unter Beweis zu stellen wäre - mit der Folge, dass die Parteien auch dieser Unsicherheit mit allumfassender, aber dabei möglicherweise überflüssiger oder auch verfehlter Beweisführung vorzubeugen versuchen.

Um einer solchen Überfülle - oder auch Lückenhaftigkeit - entgegenzuwirken und die Beweisführung auf die rechtlich relevanten Elemente und dementsprechend beweisbedürftigen Tatsachen hinzulenken, sollten die Richter berechtigt und verpflichtet sein, so früh wie möglich, idealerweise bereits bei Zulassung der Anklage, zu prüfen, ob die Anklagepunkte durch hinreichend erscheinendes Beweismaterial abgestützt und die rechtlichen Modalitäten und Elemente der strafrechtlichen Verantwortlichkeit so klar wie möglich benannt sind.

Auf diese Weise sollen sowohl die Parteien wie auch das Gericht selbst von Anfang an in Stand gesetzt werden zu erkennen, was für eine Verurteilung rechtlich erforderlich und dazu tatsächlich zu beweisen ist. So ist dann auch die Zeugen- und sonstige Beweisliste wie auch die Beweispräsentation der Parteien leichter unter Kontrolle zu halten.

Um zudem die Parteien davon abzuhalten, aus Sorge vor der Ausschließung nachträglicher Beweise ein Übermaß an Zeugen und Dokumenten in die Beweisaufnahme einzuführen, sollte den Parteien in flexiblerer Weise gestattet sein, nachträglich weitere Beweise, gleich ob belastender oder entlastender Art, einzubringen. Schon solche Aussortierungs- und Beschleunigungsmaßnahmen setzen natürlich voraus, dass das Gericht, und dabei insbesondere der Vorsitzende Richter, eine nicht nur formal Streit schlichtende, sondern zwecks Relevanzprüfung auch eine in der Sache intervenierende und dazu eine aktivere Rolle einnimmt.

Zügigkeit des Verfahrens kann jedoch nur eines und schon gar nicht das wichtigste Ziel des Strafprozesses sei. Weitaus fundamentaler ist die Ermittlung der Wahrheit als Vorbedingung gleichermaßen echter wie buchstäblich wahrer Gerechtigkeit. Es dabei einfach den Parteien zu überlassen, was sie an Wahrheitsbeweisen vorzubringen oder auch vorzuenthalten belieben, das mag in einem auf bloßen Interessenausgleich gerichteten Zivilprozess angehen. Dagegen kann dies schwerlich die Maxime eines Strafverfahrens sein, in dem es um die Feststellung von Schuld oder Unschuld eines Menschen und davon betroffenen Opfern geht. Deshalb sollten sich - jedenfalls für den Bereich der internationalen Strafjustiz - die Richter auch im Interesse einer umfassenden Wahrheitsermittlung zu einer proaktiven Rolle verpflichtet fühlen.

Dies braucht keineswegs zu bedeuten, dass die Befragung durch die Parteien, wie sie diesen in manchen adversarischen Systemen sogar ausschließlich vorbehalten ist, nach kontinental-europäischer Tradition primär durch den Richter zu ersetzen wäre. Wohl aber wäre die Erstbefragung von Zeugen durch die Parteien für Nachfragen seitens der Richter offener zu gestalten.


Wahrheit durch Widerspruch

Erfreulicherweise gibt es dahingehende Möglichkeiten bereits in den Verfahrensregeln des ICTY, indem den Richtern gestattet ist, in jedem Stadium des Verfahrens an einen Zeugen Fragen zu stellen, die Untersuchung zusätzlicher Gegenstände zu erlauben, die Parteien zur Vorlegung weiterer Beweismittel anzuweisen oder dies gar von Amts wegen selbst anzuordnen. Von einer derart proaktiven Rolle des Richters wird jedoch, weil gewissermaßen dem Geist des adversarischen Verfahrens widersprechend, in der Praxis nur wenig Gebrauch gemacht.

Dabei wären richterliche Interventionen umso mehr geboten, wenn es ein beiderseitiges Abblocken der Parteien zu überwinden gilt. Etwa in dem nicht seltenen Fall, dass die Parteien ein für die Wahrheitsfindung wesentlich erscheinendes Beweismittel nicht einbringen, weil sie wechselseitig fürchten, mit möglicherweise unangenehmen Aussagen konfrontiert zu werden.

Vielleicht könnte im Übrigen schon ein Wechsel in der Terminologie zu einem besseren Verständnis der für die internationale Strafjustiz anzustrebenden Prozessstruktur beitragen: Indem diese weniger als "adversatorisch" denn als "kontradiktorisch" bezeichnet wird.

Adversatorisch ist schon durch die gegnerische Konnotation von "Feindlichkeit" belastet. Demgegenüber wird durch kontradiktorisch lediglich die Art und Weise, in der die Wahrheit durch Widersprechen - einschließlich der dafür erforderlichen Konfrontation - ermittelt wird, zum Ausdruck gebracht. Bei einem solchen Verständnis der Akteure eines Strafverfahrens als Partner eines (wenngleich kontroversen) Dialogs wäre es auch für den Ankläger leichter, sich nicht als einseitigen "Gegner", geschweige denn als "Feind" zu verstehen, der fest entschlossen ist, den Fall mit allen Mitteln zu gewinnen, und daher primär nur nach belastenden Tatsachen und Beweismitteln zu suchen. Stattdessen hätte sich das Office of the Prosecutor - im Sinne des römischen pflichtgebundenen officium - als ein Amt zu verstehen, das, wenngleich in kontradiktorischer Weise, sowohl nach belastenden als auch nach entlastenden Faktoren zu suchen hat.

Auch für das Selbstverständnis der Zeugen wäre eine Degradierung der "Adversarität" des Verfahrens wichtig. Indem wie bisher üblich die Zeugen von der einen oder der anderen Partei gerufen und dementsprechend als prosecution witness und als defense witness bezeichnet werden, müssen sie sich von vorneherein in eine einseitige Rolle gedrängt fühlen. Dies umso mehr, wenn der Vernehmung in der Hauptverhandlung, wie ebenfalls meist üblich, ein einseitiges witness proofing durch die jeweilige Partei vorausgeht, wobei mangels öffentlicher Kontrolle die Grenzziehung zu einem die Aussage programmierenden witness coaching nicht leicht zu bestimmen sein wird.


Neutrale Zeugen des Gerichts

Ein so vorbereiteter Zeuge wird sich trotz richterlicher Ermahnungen zur Unparteilichkeit aus einem nun einmal eingenommenen Rollenverständnis nicht so leicht herauslösen können. Dieser für eine unvoreingenommene Wahrheitsermittlung abträglichen Gefahr wird kaum anders als dadurch zu begegnen sein, dass unkontrollierte Zeugenvorbereitung untersagt wird und die Zeugen sich weder einseitig als "Zeugen der Anklage" noch als "Zeugen der Verteidigung", sondern als "Zeugen des Gerichts" auf der Suche nach Wahrheit zu verstehen haben.

Eine solche Neutralisierung der Zeugenrolle ist gerade für Verfahren wegen Völkermords und Kriegsverbrechen auch atmosphärisch wichtig, da diesen typischerweise politisch-ethnische Konflikte zugrunde liegen. Wenn bei solchen Verfahren die belastenden Aussagen meist von Seiten der Opfer und entlastende Zeugnisse aus dem Umkreis des Angeklagten kommen, werden Frontstellungen durch entsprechend gekennzeichnete Zeugenrollen leicht in den Gerichtssaal hinein verlängert und von dort aus auf dem Weg grenzüberschreitender Fernsehübermittlungen bis in die argwöhnisch-emotionalisierbaren Konfliktgruppen des Heimatlandes rückübertragen.

Wenn die Zeugen hingegen, anstelle der einen oder anderen gegnerischen Partei zugeordnet und dementsprechend plakatiert zu werden, sich einfach als neutrale "Zeugen des Gerichts" auf dessen Suche nach Wahrheit verstehen könnten, so wäre davon auch ein Beitrag zur Förderung von Aussöhnung zu erhoffen. Für eine nachhaltige Versöhnung zwischen Konfliktgruppen ist eine unparteiliche Feststellung der Wahrheit und deren Bewahrung umso mehr geboten, wenn Feindseligkeiten, wie bei ethnischen Konflikten nicht selten der Fall, zu einem beträchtlichen Teil aus Legenden und Geschichtsverzerrungen gespeist werden. Deshalb ist die bestmögliche Ermittlung der Wahrheit nicht nur für einen gerechten Urteilsspruch im einzelnen Strafverfahren wesentlich, vielmehr hat sie auch zur Erhellung der damit zusammenhängenden historischen Konfliktgründe zu dienen.

Gewiss brauchen sich die Richter nicht als Historiker zu verstehen. Gleichwohl dient das den Urteilen zugrunde gelegte und dafür zusammengetragene Tatsachenmaterial der Geschichtsschreibung. In dieser Hinsicht geht die Wahrheitsermittlungspflicht einer internationalen Strafgerichtsbarkeit sicherlich über die eines typischen nationalen Gerichts hinaus.

Nicht zuletzt sei auch diese Sorge nicht unterdrückt: Wenn ein internationales Gericht scheitern sollte, wird sich die Geschichte nicht darum kümmern, ob dies Regeln und Strukturen anzulasten ist, die es den Prozessparteien überlassen haben, was sie den Richtern zu präsentieren oder vorzubehalten belieben - jeweils einseitig davon abhängig, was dem Sieg der eigenen Sache am besten dienen könnte. Im Urteil der Geschichte wird es die Gerichtsbarkeit als Ganze - mit ihren Richtern an vorderster Front - sein, die für den Erfolg oder das Scheitern internationaler Strafgerechtigkeit für verantwortlich befunden wird.


Der Strafrechtler Albin Eser war bis 2003 Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg und von 2004 bis 2006 als Richter am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag tätig.


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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin der Max-Planck-Gesellschaft
Ausgabe 3/2008, Seite 15 - 18
Herausgeber: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Dezember 2008