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INTERNATIONAL/108: Mehr schlecht als recht? - Hintergründe der Justizreform in Argentinien (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Mehr schlecht als recht?
Hintergründe der Justizreform in Argentinien

von Hannah Steinfeldt
Juli 2013



• Die Frage nach der Beziehung zwischen Politik und Justiz stellt sich derzeit in mehreren Ländern Lateinamerikas. In Argentinien führte die Regierung unter Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner in den letzten Wochen im Eilverfahren eine groß angelegte Justizreform durch, die scharfe Kritik und massive Proteste bei der ungewohnt geeinten Opposition und in Teilen der Gesellschaft hervorriefen. Während die Regierung die Reform als Demokratisierung der Justiz deklariert, sehen Kritiker_innen die Unabhängigkeit der Justiz in Gefahr.

• Die Beziehung der Kirchner-Regierung zur Justiz war zuletzt angespannt, vor allem durch ihr Vorhaben, die Medienmonopole des Landes zu zerschlagen. Eine schnelle Entscheidung des Obersten Gerichts, das ein Kernstück der Reform für verfassungswidrig erklärte, sorgt nun für neue Sprengkraft. Die politische Dynamik wird dadurch verstärkt, dass im Oktober 2013 wichtige Wahlen anstehen, die entscheiden werden, mit welcher Mehrheit Cristina Kirchner ihr Mandat zu Ende führen kann. Vieles deutet darauf hin, dass die Reform auch im Interesse der Machtsicherung vorangetrieben wurde.

• Dem maroden Justizsystem attestieren beide Seiten Reformbedarf. Die aktuelle Reform geht jedoch in einigen Bereichen so weit, dass sie zu einer umfassenden Politisierung der Justiz führen könnte. Im Kontext der ohnehin polarisierten argentinischen Gesellschaft ist dies problematisch.

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Mit einem Paukenschlag startete die Regierung von Cristina Fernández de Kirchner ins Wahljahr 2013. Im Eilverfahren führte sie eine groß angelegte Justizreform durch, die scharfe Kritik und massive Proteste bei der Opposition hervorriefen. Die Offensive zur »Demokratisierung der Justiz« stellt eine deutliche Machtdemonstration der Präsidentin dar: Eine Verfassungsänderung wurde umgangen, die Gesetzesnovellen wurden taktisch so aufgeteilt, dass die besonders umstrittenen zunächst durch die sichere Mehrheit im Senat abgesegnet und die weniger kontroversen dem Abgeordnetenhaus überlassen wurden. Die ungewöhnlich schnelle Reaktion der Justiz, die Mitte Juni einen umstrittenen Teil der Reform als verfassungswidrig zurückwies, bedeutet nun einen herben Rückschlag für die Strategie der Regierung.

Die Reform zeugt von den Machtambitionen einer Regierung, die in kürzester Zeit weitreichende Veränderungen einführen will, ohne sich auf einen Dialog einzulassen. Sie ist auch symptomatisch für Entwicklungen in einigen anderen Ländern Lateinamerikas, in denen sich die Frage nach der Beziehung zwischen Politik und Justiz zuspitzt. Strittig ist dabei meist nicht der Reformbedarf des Justizsystems, das vielfach als wenig zugänglich und ineffizient gilt, sondern die Frage, wie weit politische Kontrolle über die Justiz gehen kann und darf.

In Argentinien verleiht der Wahlkampf für die Parlamentswahlen im Oktober 2013 der Debatte eine besondere Dynamik. Die Entscheidung des Obersten Gerichts sorgt für zusätzliche Sprengkraft. Die Regierung sieht sich in ihrer Kritik der Justiz bestärkt und fährt schwere rhetorische Geschütze gegen das Oberste Gericht auf. Wichtige Teile der sechs Gesetze des Reformpakets sind die Einführung der Wahl von Mitgliedern des Consejo de la Magistratura, des Richterwahlausschusses, und die Änderung der Entscheidungsmehrheiten in diesem Gremium, die nun zurückgewiesen wurden. Außerdem werden drei neue Berufungsgerichte unter dem Obersten Gericht geschaffen, die einstweiligen Verfügungen gegen den Staat eingeschränkt sowie die Bewerbungsverfahren für Justizbeamt_innen verändert. Die Gerichte werden verpflichtet, umfassende Informationen im Internet zu veröffentlichen, und die Richter_innen müssen ihre Vermögen offenlegen. Ein genauer Blick auf die Pfeiler der Reform zeigt, dass das Argument der Demokratisierung nur bedingt schlüssig ist, die Reform in einigen Bereichen über ihr Ziel hinausschießt, in anderen jedoch zu kurz greift. In jedem Fall trägt sie die Handschrift einer Präsidentin, deren Verhältnis zur Justiz bereits in den letzten Jahren konfliktiv war.


Jetzt erst recht! Die Vorgeschichte der Reform

Die Offensive der Regierung hat eine Vorgeschichte und kam nicht gänzlich überraschend. Die argentinische Justiz steht aufgrund von Intransparenz, langen Verfahrensdauern, hohen Gehältern und Pensionen sowie einer Vielzahl weiterer Privilegien für Richter_innen immer wieder in der Kritik - über ihren Reformbedarf besteht Konsens. Zudem bereiteten Cristina Kirchner einige anhängige Verfahren Kopfschmerzen, wie die ungeklärte Frage, ob die Regierung den Rentner_innen inflationsbedingte Nachzahlungen zu leisten habe. Vor allem aber trägt sie seit einigen Jahren einen Machtkampf mit der mächtigen Mediengruppe Clarín aus, deren marktdominierende Stellung in Print- und audiovisuellen Medien die Regierung zu zerschlagen sucht - eine Kehrtwende, denn bis 2008 waren die Beziehungen des Kirchner-Ehepaars zu Clarín sehr gut. Die Regierung greift dabei in erster Linie auf ein wichtiges Gesetz zur Demokratisierung der Medien von 2009 zurück, das breite politische Unterstützung erhalten hatte. Clarín, von der Regierung immer wieder mit der Diktatur in Verbindung gebracht, erwirkte zuletzt vor mehreren Gerichten, darunter dem Obersten Gerichtshof, einstweilige Verfügungen, welche einzelne Artikel des Mediengesetzes außer Kraft setzten und damit der Regierung die Hände banden. Die Beschränkung einstweiliger Verfügungen gegen den Staat sind nun ein zentraler Pfeiler der Justizreform - und ein Stein des Anstoßes für die Kritiker_innen.

Im offiziellen Diskurs zur Begründung der Reform kann man dies zwischen den Zeilen lesen: Die Justiz habe ein deutliches Demokratiedefizit, sie sei zersetzt von Korporatismus, Korruption und Vetternwirtschaft und abhängig von wirtschaftlichen Interessen, in deren Sinne sie ihre Urteile fälle - ganz zu schweigen von den im System verbliebenen Eliten der Diktatur. Auch das Oberste Gericht sieht sich nun diesen Vorwürfen ausgesetzt. Dabei war eine unter Néstor Kirchner vorangetriebene Reform des Obersten Gerichts, das der neoliberalen Politik unter Präsident Carlos Menem den Rücken frei gehalten und keine Bemühungen zur Aufarbeitung der Diktatur unternommen hatte, von allen Seiten positiv gewürdigt worden. Die neue Justizreform galt nun als nächster wichtiger Schritt. Im Zentrum der Regierungsargumentation steht zur zusätzlichen Legitimation der Reform die Dimension der Demokratisierung: Die Justiz müsse näher zu den Menschen gebracht werden und wie die Legislative und Exekutive dem Willen des Volkes unterliegen.


Recht oder Unrecht? Kritik und Protest

Nimmt man die massiven Vorwürfe einiger Reformgegner_innen ernst, so gewinnt man schnell den Eindruck, dass die Reformen einen derart fatalen Schlag gegen das höchste republikanische Gut, die Gewaltenteilung, bedeuten, dass »Montesquieu sich im Grabe umdrehen würde«. Besonders die zweimalige Präsidentschaftskandidatin der kleinen Oppositionspartei Coalición Cívica, Elisa Carrió, sticht mit polemischen Vorwürfen hervor und vergleicht die Reform unter anderem mit dem Putsch von 1976 - ein Heischen nach Aufmerksamkeit, das ihr die Oppositionsmedien gerne gewähren. Dabei schwebt der Vorwurf des Totalitarismus über allem und die Vergleiche mit autoritären Tendenzen in Venezuela nehmen an Häufigkeit zu.

Dennoch lässt sich die Kritik, auch mit einer angemessenen Portion Skepsis, nicht einfach übergehen. Sie kommt nicht nur von geltungsbedürftigen Oppositionspolitiker_innen, sondern wird durch eine solche Vielzahl von Parteien, Organisationen, Gewerkschaften und Verbänden getragen, dass die Weigerung der Regierung, sich auf eine offene Debatte über die Reform einzulassen, Zweifel an der Glaubwürdigkeit der deklarierten guten Absichten aufkommen lässt. Zwar wird die Kritik mit unterschiedlicher Intensität vorgetragen, geht aber stets in die gleiche Richtung: Die Unabhängigkeit der Justiz - und damit der Rechtsstaat und die Fundamente der Republik - seien ernsthaft gefährdet. Einige Kritiker_innen fürchten zudem um die Bürgerrechte und warnen vor einer Benachteiligung der sozial schwächer gestellten Gruppen, insbesondere der Rentner_innen und der Arbeiter_innen. Die Notwendigkeit einer Reform des Justizsystems wird dabei von allen Kritiker_innen anerkannt, auch wenn einige Inhalte sowie die Hast und Kompromisslosigkeit der Regierung auf Widerstand stoßen.

Als Mitte April die umstrittenen Gesetze in die Ausschüsse des Parlaments eingebracht wurden, heizte sich der Protest über mehrere Wochen immer weiter auf. Die Opposition - von der linksgerichteten Frente Amplio Progresista (FAP) und der Zentrumspartei Unión Cívica Radical (UCR) über die konservative Propuesta Republicana (PRO) des Bürgermeisters von Buenos Aires bis hin zu dissidenten Peronisten - zeigte sich gemeinsam bei Protestaktionen vor dem Justizpalast, stellte mit Nichtregierungsorganisationen (NROs) ein Protestzelt vor dem Kongress auf und votierte fast geschlossen gegen alle sechs Gesetzesentwürfe. Auch im Justizapparat rumorte es gewaltig: Zahlreiche Berufsverbände der Anwält_innen und Richter_innen äußerten offen Kritik; zweimal trat die Gewerkschaft der Justizangestellten, unter Führung des ehemaligen Kirchner-Anhängers Julio Piumato, in einen 72-stündigen Streik. Gewerkschaftsdachverbände, die Kirche und eine Vielzahl von NROs stimmten in den Protest mit ein. Am 18. April fand schließlich der bisher größte Protestmarsch unter Kirchners Präsidentschaft statt, sodass die Reform auch außerhalb Argentiniens Wellen zu schlagen begann: Human Rights Watch, die US-Regierung und die Vereinten Nationen äußerten ihre Besorgnis. Das deutlichste Zeichen für die Tragweite des Unbehagens mit der Reform war jedoch die Kritik aus den eigenen Reihen: einige Abgeordnete der Regierungsfraktion Frente para la Victoria (FPV) stimmten gegen die Reformen - darunter Abgeordnete, die den Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Daniel Scioli, unterstützen, der im Zwist mit der Präsidentin liegt.

Die aufgeheizte Stimmung gipfelte vorerst in einer Marathonsitzung des Abgeordnetenhauses am 24. und 25. April, die bis in die frühen Morgenstunden andauerte und nicht ohne lautstarke Diskussionen und Handgreiflichkeiten vonstattenging. Angenommen wurde von der Regierung lediglich die Kritik - und auch die nur in Teilen - des regierungsnahen Centro de Estudios Legales y Sociales (CELS) in Bezug auf einstweilige Verfügungen sowie die der Obersten Richter_innen, die verhindern konnten, dass ihr Budget in die Hände des Richterausschusses gelegt wird.


Jedes Mittel recht? Machtspiele im Wahljahr

Die aktuelle Debatte ist vor allem von voreiligen und pauschalen Urteilen und von spürbar wenig Konstruktivität geprägt. Das Justizsystem stellt eine so komplexe Materie dar, dass die Wirkungen derartiger Reformen für Laien kaum abschätzbar sind. Dennoch werden zum Teil diametral entgegengesetzte Argumente mit einer Vehemenz ins Feld geführt, die charakteristisch für die polarisierte argentinische Gesellschaft ist.

Zu verstehen ist die besondere Dynamik der aktuellen Debatte nur vor dem Hintergrund der für den 27. Oktober angesetzten Parlamentswahlen, die darüber entscheiden werden, mit welcher Mehrheit Cristina Kirchner ihr Mandat zu Ende bringen kann. Die Opposition warnt noch immer vor ihren Ambitionen, mittels einer Verfassungsänderung eine dritte Amtszeit nach 2015 zu ermöglichen - ein Vorwurf, den die Präsidentin weit von sich gewiesen hat. Die Justizreform wurde von der Regierung zunächst als wichtiger Erfolg verbucht - und trotz des Rückschlags bei der Reform des Consejo de la Magistratura werden zumindest die ersten Schritte der Umsetzung und die scharfe Rhetorik gegen das Urteil weitere Möglichkeiten bieten, bei Teilen der Bevölkerung zu punkten. Ob ein schneller Erfolg im Fall der Mediengruppe Clarín bewirkt werden kann, bleibt offen, wäre aber ein Wahlkampf-Coup für die Regierung.

Der fragmentierten Opposition bietet die Reform durchaus Möglichkeiten zur Profilierung. Einige konzertierte Protestaktionen haben gezeigt, dass die Reform potenziell auch als einigendes Moment wirken kann. Bislang ist man jedoch nicht fähig, echte Alternativen anzubieten, sondern beschränkt sich in erster Linie auf die Kritik an der Regierung. Die inhaltlichen Differenzen sind groß, doch zumindest haben sich Teile der Opposition zur Aufstellung gemeinsamer Kandidat_innen für die Magistraturwahlen durchgerungen. Das Regierungslager hatte sich durch die Auflage, dass die Räte nur über Parteilisten gewählt werden können, die landesweit in 18 von 24 Wahldistrikten vertreten sind, einen eindeutigen Vorteil für die Wahlen verschafft. Deren Durchführung wird nach dem jüngsten Urteil jedoch immer unwahrscheinlicher.

Angesichts der Welle von Klagen, welche die Verfassungskonformität der Gesetze infrage stellen, könnte sich die Weigerung der Regierung, sich auf einen Dialog mit den Kritiker_innen einzulassen, als kurzsichtig erweisen. Da eine direkte Klage vor dem Obersten Gericht in Argentinien nicht möglich ist und Klagen zunächst vor Gerichten erster Instanz angestrengt werden müssen, wurden die juristischen Schritte für die Reformgegner_innen zum Wettlauf mit der Zeit. Im Hinblick auf die Reform des Consejo de la Magistratura hatten sie damit Erfolg. Schneller als üblich wurde eines der zahlreichen Verfahren an das Oberste Gericht verwiesen, das in einer Mehrheitsentscheidung vier Artikel des Gesetzes für verfassungswidrig erklärte und die vorgesehenen Wahlen der Ratsmitglieder aussetzte.


Geht Macht vor Recht?

Ist die Reform nun ein Schritt in Richtung einer demokratischeren Justiz oder stellt sie die Gewaltenteilung infrage? Die Antwort fällt differenziert aus: Die drei Gesetze, die offenere Bewerbungsverfahren für Justizbeamte einführen sowie Berufungsgerichte und Oberstes Gericht zur Veröffentlichung wichtiger Informationen bzw. Richter_innen zur Offenlegung ihrer Vermögen verpflichten, können durchaus als Initiative gelten, für die Bürger_innen mehr Transparenz zu schaffen und die Korruption im Justizapparat anzugehen. Vielen sind sie aber nicht weitreichend genug, als dass sie die zentralen Probleme der argentinischen Justiz wirksam lösen könnten.

Diese Gesetze spielen in der Debatte auch kaum eine Rolle. Das eigentliche Flaggschiff des Demokratisierungsdiskurses der Regierung ist die nun vorerst gescheiterte Reform des Consejo de la Magistratura. Der 1994 unter Präsident Menem eingeführte Rat, bestehend aus Richter_innen, Anwält_innen, Universitätsvertreter_innen, Parlamentarier_innen und einem Regierungsvertreter, legt Vorschlagslisten vor, auf deren Basis die Exekutive und der Senat Richter_innen ernennen. Ferner führt er die Richteraufsicht und kann Richter_innen absetzen. Die Reform sollte den Rat, der 2006 unter Néstor Kirchner von 20 auf 13 Mitglieder reduziert worden war, wieder auf 19 Köpfe erweitern. Die zwölf nichtparlamentarischen Vertreter_innen sollten zur allgemeinen Wahl gestellt und nicht länger von Berufsvertreter_innen gewählt werden, wie es die Verfassung vorsieht. Im Sinne einer Wahldemokratie lässt sich hier durchaus von Demokratisierung sprechen. Vorgesehen war zudem die Wahl der Kandidat_innen für den Consejo de la Magistratura über die Parteilisten bei den Parlamentswahlen im Oktober, ab 2015 dann bei den noch stärker polarisierten Präsidentschaftswahlen. Die Verfahren hätten der Regierung eine komfortable absolute Mehrheit im Rat beschert und die derzeit notwendige Zweidrittelmehrheit aufgehoben.

Kritiker_innen befürchten, dass die Justiz durch die Reform nicht mehr vor der kurzfristigen Logik der Wahlen gefeit wäre, die nicht so recht zum Ideal eines/r unparteiischen, unbefangenen Richters/Richterin passen will, der/die nach funktionalen und qualitativen Kriterien entscheidet. Das Urteil des Obersten Gerichts teilt diese Einschätzung und sieht dadurch nicht nur das Gleichgewicht im Rat gestört, sondern befürchtet auch eine Verzerrung des gesamten Wahlprozesses.

Generell hat die Justiz immer auch eine politische Dimension; politischer Einfluss ist in den meisten Ländern zunächst einmal nichts Ungewöhnliches. In Argentinien führen jedoch die Feinheiten der Reform dazu, dass die Politisierung besonders weit geht. Das deklarierte Ziel der Regierung, den Einfluss der Bürger_innen auf die Justiz zu erhöhen, wäre durch die Wahl der Ratsmitglieder aber im besten Fall indirekt: Nicht Richter_innen würden vom Volk gewählt, sondern Räte, die diese ernennen. Wesentlich unmittelbarer dürften viele Bürger_innen die anderen beiden großen Reformen berühren. Die Beschränkung der einstweiligen Verfügungen - der einzigen Handhabe, die Bürger_innen gegenüber dem Staat besitzen, wenn dieser ihre Rechte missachtet - scheint der in den ersten Jahren der Kirchner-Regierungen aktiv betriebenen Menschenrechtspolitik zuwiderzulaufen. In der Einführung zusätzlicher Berufungsgerichte, die das Oberste Gericht entlasten sollen - ein Verwaltungsgericht, ein Arbeitsgericht und ein Zivilgericht - sehen Expert_innen zudem eine zusätzliche, verzögernde Hürde vor dem Obersten Gericht, welche die Verfahren nur noch weiter in die Länge ziehen dürfte.

Die Diskrepanz zwischen den erklärten Absichten der Reform und den tatsächlichen Gesetzen ist deutlich und die Art und Weise, mit der die Reform vorangetrieben wird, ist nicht unbedingt ein Aushängeschild demokratischer Kultur. Dies zeigen nicht zuletzt die scharfen Angriffe auf das Oberste Gericht, das nach den Reformen unter Néstor Kirchner eigentlich über ein gutes Ansehen in der Bevölkerung verfügt. Sollen tatsächlich grundlegende Veränderungen im reformbedürftigen Justizapparat erreicht werden, müssten sich künftige Reformbemühungen mit einer Reihe von Fragen beschäftigen: der Verbesserung des Zugangs finanzschwacher Bürger_innen zur Justiz, der Verschärfung der Kriterien für die Ernennung von Richter_innen und Beamt_innen, der Entschlackung der Gerichtsabläufe zur Reduzierung von Verfahrensdauern und der aktiven Bekämpfung von Korruption.

Die aktuelle Reform spart diese Fragen aus, steht aber ganz in der populistischen Tradition des Landes: Die Machtkonzentration in der Exekutive wird vorangetrieben, der Dialog mit Kritiker_innen abgelehnt und die Volkssouveränität zur Legitimierung angerufen. Die Justiz wird nicht als legitime und notwendige Kontrollinstanz einer funktionierenden demokratischen Gewaltenverschränkung angesehen, die als Anker der Stabilität unabhängig von kurzfristigen politischen oder wirtschaftlichen Interessen entscheiden sollte. Vielmehr wird sie in ihrer jetzigen Form zur Gegenmacht des Volkes und der Exekutive stilisiert, der die Reform dadurch entgegenwirken soll, dass sie der vom Volk gewählten Regierung langfristig mehr Einfluss auf die Justiz sichert. Einmal mehr wird hieran das ebenso komplexe wie komplizierte Verhältnis von Demokratie und Justiz in Argentinien deutlich.


Über die Autorin

Hannah Steinfeldt ist Projektassistentin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Argentinien mit Sitz in Buenos Aires.

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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juli 2013