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FRAGEN/002: Menschenrechte - Mühlen der Gerichtsbarkeit mahlen langsam, auch für Bush? (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 15. November 2010

Menschenrechte: Mühlen der Gerichtsbarkeit mahlen langsam, auch für Bush?
Interview mit dem UN-Folterexperten Manfred Nowak

Von Karina Böckmann


Berlin, 15. November (IPS) - Der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan bezeichnete die UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte als die "Augen und Ohren" der UN-Menschenrechtskommission, des jetzigen UN-Menschenrechtsrat. Sie reagieren auf Menschenrechtsverstöße weltweit und - wenn man sie lässt - prüfen sie die Lage vor Ort, erstellen Berichte und erarbeiten Vorschläge für Verbesserungen.

Sechs Jahre lang war Manfred Nowak UN-Sonderberichterstatter für Folter. In dieser Eigenschaft besuchte er insgesamt 18 Staaten. Nur in einem einzigen Land, in Dänemark, konnte er keinen einzigen Fall von Folter ausmachen. Die Ausnahme bestätigt offenbar die Regel: "Gefoltert wird überall auf der Welt", so Nowak, Professor für Menschenrechte an der Universität von Wien und Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Menschenrechte, am 13. November in Berlin.

Folter ist ein klar umrissener Straftatbestand und meint jede Handlung, die einer Person vorsätzlich körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zur Erlangung von Geständnissen oder Informationen, zur Bestrafung oder Einschüchterung zufügt. So steht es im Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984, wie die UN-Folterkonvention offiziell heißt.

Wie Nowak auf einer Veranstaltung der Menschenrechtsorganisation 'European Center for Constitutional and Human Rights' (ECCHR) zum Thema 'Torture and Accountability' (Folter und Rechtschaffenspflicht) erläuterte, wird Folter zu über 90 Prozent zur Erpressung von Geständnissen angewendet. Gerade dort, wo moderne Ermittlungsmethoden wie DNA-Analysen fehlten, werde Folter als wirksame und preiswerte Methode betrachtet, Geständnisse zu erzwingen. Eine weitere Erfahrung, die der Professor als UN-Sonderberichterstatter machte, war ein fehlendes Unrechtsbewusstsein, wenn es um Folter geht.

Kritisch äußerte sich Nowak zur Arbeit des UN-Menschenrechtsrates. Wenn es um die politischen Interessen einzelner Staaten gehe, falle der Rat seinen UN-Sonderberichterstattern in den Rücken. Dem ehemaligen Sonderberichterstatter zufolge müsse der UN-Menschenrechtsrat im Interesse seiner eigenen Glaubwürdigkeit reformiert werden. Zudem forderte er einen Weltgerichtshof für Menschenrechte und eine Konvention zum Schutz der weltweit zehn Millionen Häftlinge vor Folter, Gewalt und unmenschlichen Haftbedingungen.

Der US-Administration unter George W. Bush warf er vor, mit ihrem Krieg gegen den Terrorismus den Kampf gegen Folter unterminiert und nachhaltig geschadet zu haben. Es folgen Auszüge aus einem Interview mit dem ehemaligen UN-Sonderberichterstatter, den Karina Böckmann, Chefredakteurin der deutschsprachigen Dienste von IPS, mit ihm am Rande einer Veranstaltung in Berlin durchführte.


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Frage: Sie waren sechs Jahre lang UN-Sonderberichterstatter für Folter und traten ihr Amt im US-geführten Krieg gegen den internationalen Terrorismus an. Nun erleben wir, dass der ehemalige US-Präsident Bush im Rahmen seiner Buchpräsentation ungeniert für Foltermethoden eintritt und sich offenbar sicher wähnt, dafür nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden. Können wir davon ausgehen, dass wir es wieder mit einem Fall von Straffreiheit zu tun haben?

Manfred Nowak: Das kann ich nicht sagen. Ich kann nur sagen, was die rechtliche Situation ist, und die ist wie in allen anderen 146 Vertragsstaaten der Folterkonvention so, dass jedes einzelne Folterdelikt, also jede einzelne Folterhandlung, wenn es genügend Beweise dafür gibt, untersucht werden muss. Und wenn es ausreichende Beweise gibt, muss die Person, ob es der direkte Folterer ist oder der Auftraggeber, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Folter muss zu einem Verbrechen mit einer entsprechenden Strafdrohung - das sind mehrere Jahre Gefängnis - im nationalen Recht umgesetzt werden.

Präsident Bush hat ausdrücklich zugegeben, dass er Waterboarding im Einzelfall angeordnet hat. Und dass Waterboarding eine Foltermethode ist, das wissen wir seit der spanischen Inquisition. Es wurde im Mittelalter immer wieder angewendet und jeder, der dieser Folter, dieser Tortur unterzogen wurde, weiß, was das für fürchterliches Leiden mit sich bringt: immer die Angst zu haben, zu ertrinken beziehungsweise zu ersticken.

Auch US-Präsident Barack Obama und alle irgendwie vernünftigen Menschen wissen, dass Waterboarding Folter ist. Das reicht aus - zwar nicht nur für die US-amerikanische Justiz - denn im Prinzip sind alle anderen Staaten auch zum Weltstrafrechtsprinzip verpflichtet. Das heißt, rechtlich gesehen, wenn Bush morgen nach Deutschland kommen würde, müssten ihn die deutschen Behörden festnehmen, eine Voruntersuchung durchführen und dann nach dem Prinzip verfahren: entweder ausliefern, falls es einen Auslieferungsantrag von Spanien oder irgendwo sonst gibt, oder wenn das nicht der Fall ist, ihn nach dem deutschen Völkerstrafrechtsgesetz vor deutsche Gerichte stellen. Das ist die rechtliche Situation.

Ob es faktisch dazu kommt, ist eine rein politische Frage, worüber ich nicht spekulieren will. Aber ich möchte nur sagen: Als Herr (Slobodan) Milosevic (ehemaliger Präsident Serbiens und Jugoslawiens) und (der frühere Serbenführer Radovan) Karadzic in den 90er Jahren angeklagt wurden, haben alle gesagt, die werden nie zur Verantwortung gezogen. Und doch sind viele Hauptverbrecher des ehemaligen Jugoslawiens zur Verantwortung gezogen worden.

Vielleicht passiert es in zehn Jahren oder in fünf Jahren oder vielleicht nie, dass Bush vor Gericht kommt.

Frage: Es wird häufig der Vorwurf erhoben, dass bei der Ahndung von Menschenrechtsverbrechen mit zweierlei Maß gemessen wird und vor allem Menschenrechtsverletzer in Entwicklungsländern zur Verantwortung gezogen werden ...

Nowak: Ich glaube, dass man generell sagen kann, dass sich beim Phänomen der Straflosigkeit für schwere und schwerste Menschenrechtsverletzungen wenig verändert hat. Es handelt sich immer noch um eine ganz kleine Anzahl von Personen, die wirklich zur Verantwortung gezogen werden - sei es vor dem internationalen Strafgerichtshof oder vor einem Ad-Hoc-Tribunal wie in Ex-Jugoslawien, Sierra Leone, Kambodscha, Ruanda oder auch vor den nationalen Gerichten.

Auch in Belgien wurden immer wieder Leute zur Verantwortung gezogen. Ex-Jugoslawien liegt in Europa und die meisten derjenigen, die dort Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben, sind zur Verantwortung gezogen worden. Generell muss noch sehr viel getan werden, aber ich sehe keinen großen Nord-Süd-Unterschied in dieser Hinsicht.

Frage: Der Internationale Strafgerichtshof hat Haftbefehl gegen den sudanesischen Staatspräsidenten ausgestellt - eine Sternstunde im Kampf gegen die Straffreiheit?

Nowak: Natürlich. Es ist keine Frage, dass im Sudan und insbesondere in Darfur schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen begangen wurden. Ich gehe auch davon aus, dass es genügend Beweise gibt, dass Präsident Omar al-Baschir und andere, die vom Internationalen Strafgerichtshof unter Anklage gestellt wurden, gegen die Haftbefehl erlassen wurden, auch letztlich verurteilt werden würden, wenn sie mal in Den Haag landen.

Eine ähnliche Situation hatten wir, als Sierra Leones Tribunal Haftbefehl gegen (Liberias Ex-Präsident) Charles Taylor ausgestellte. Da haben die meisten gesagt, der bleibt sicher in Nigeria, der wird nie ausgeliefert werden. Doch dann war die politische Konstellation in Nigeria so, dass Nigeria unter dem Druck der internationalen Gemeinschaft Taylor an das Sierra-Leone-Tribunal und damit letztlich nach Den Haag ausgeliefert hat.

Oder es geschieht 30 Jahre später, dass die noch lebenden Hauptverantwortlichen für den Völkermord in Kambodscha jetzt plötzlich vor Gericht gestellt werden. Auch in Deutschland und Österreich war es so, dass viele der Haupt-Nazi-Kriegsverbrecher sich sehr lange irgendwo versteckten und dann doch - manche zumindest - zur Verantwortung gezogen wurden.

Die Mühlen der Gerichtsbarkeit mahlen langsamer und oft sehr langsam.

Frage: Lateinamerika ist sehr aktiv, was die Verarbeitung seiner Diktatur-Vergangenheit angeht. Könnten die Länder dieser Region Vorbilder im Umgang mit Menschenrechts- oder Kriegsverbrechern sein?

Nowak: Ja. Der Kampf gegen die 'impunidad', die Straflosigkeit, war eigentlich eine Bewegung, die sich in Lateinamerika gegen die Militärdiktaturen der nationalen Sicherheit in den 70er Jahren entwickelt hat. Es geschah schon in den 80er Jahren, also unter dem argentinischen Präsidenten Raúl Alfonsín, dass Juntamitglieder erstmals zur Verantwortung gezogen und auch ins Gefängnis gesteckt wurden. Sie sind dann unter fragwürdigen Bedingungen wieder frei gekommen. Aber die Mütter und die Großmütter der Plaza de Mayo und andere haben immer weiter gefordert: "Wir wollen Gerechtigkeit, und für uns ist die einzige Form der Gerechtigkeit das Strafrecht."

Und jetzt gibt es wieder Prozesse gegen viele Überlebende, die in den Jahren 1976 bis 1980 - den Hauptjahren des sogenannten 'schmutzigen Krieges' in Argentinien - tausende Menschen ermordet und gefoltert hatten und Menschen verschwinden ließen. Das Gleiche sehen wir in Uruguay. Vor nicht allzu langer Zeit sind eine Reihe von Generälen und auch Zivilverantwortlichen der Militärregierung vor Gericht gestellt und auch verurteilt worden.

Diese Beispiele zeigen: Auch 30 Jahre später können Menschen müssen damit rechnen, doch noch zur Verantwortung gezogen zu werden. Und das ist, glaube ich, ein ganz wesentlicher Fortschritt im internationalen Menschenrechtsschutz, der eigentlich erst nach dem Ende des Kalten Krieges, also seit den 90er Jahren, möglich gemacht wurde.

Frage: Haben Sie das Gefühl, nach sechs Jahren als UN-Sonderberichterstatter etwas bewegt zu haben?

Nowak: Wenn es Länder gibt, in denen neue Regierungen an die Macht kamen, die wirklich sagten, dass sie die Menschenrechte umsetzen wollten, konnte ich sehr viel bewegen. Uruguay habe ich schon genannt. Dort will die derzeitige Regierung wirklich Folter bekämpfen und auch die katastrophalen Haftbedingungen verbessern. Sie hat viel getan, um meine Empfehlungen umzusetzen.

Kasachstan ist ein ähnliches Beispiel, Georgien, Moldawien und Nepal, wo ich noch systematische Folter durch Militärpolizei und Maoisten feststellte, hat sehr viel unternommen. Mir wurde immer wieder gesagt, dass meine Besuche und Berichte ein wichtiger Bestandteil dieser Friedensbemühungen waren.

Erst im Oktober war ich in Griechenland. In meinem Bericht habe ich betont, dass der Umgang mit Migranten keine rein griechische, sondern eine europäische Verantwortung ist. Ich habe alle europäischen Staaten aufgefordert, nicht mehr auf der Grundlage der Dublin-II-Verordnung (nach der Immigranten in das EU-Land abgeschoben werden können, in das sie zuerst eingereist sind) Asylsuchende, die zuerst über Griechenland in die Europäische Union hereinkommen, wieder zurückzuschicken. In der Zwischenzeit hat eine ganze Reihe von Staaten diesem Aufruf, der aber auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und vom UN-Flüchtlingshochkommissariat kommt, Folge geleistet.

Wenn es mir gelungen ist, mit einer Regierung in ein gutes Einvernehmen zu kommen, auch kritische Berichte machen zu dürfen und ihr bei der Umsetzung von Verbesserungsvorschlägen behilflich zu sein, ließ sich einiges bewegen.

Ich würde auch meinen - Sie haben mit dem Kampf gegen den Terror begonnen - dass sich durch den Wechsel von der Bush- zur Obama-Regierung vieles in den Vereinigten Staaten von Amerika verändert hat. Die Foltermethoden der Bush-Regierung, die 'Extraordinary-Rendition'-Flüge (Überstellung von Terrorverdächtigen ohne rechtliche Grundlage), die geheimen Lager gibt es heute nicht mehr.

Was ich trotzdem der Obama-Regierung vorwerfe, ist, dass sie den Blick nur in die Zukunft richtet, aber natürlich eine rechtliche und moralische Verpflichtung hat, auch die Verbrechen der Bush-Regierung aufzuarbeiten. Und da wurde sehr wenig getan.

Frage: Was für Möglichkeiten hatten Sie, Staaten bei der Verbesserung der Menschenrechte zu unterstützen?

Nowak: Ich arbeite natürlich sehr eng mit dem UN-Rat für Menschenrechte aber auch mit dem UN-Entwicklungsprogramm und auch mit der Europäischen Union zusammen. Um nur ein Beispiel zu nennen: In Togo war die Situation ziemlich schlecht. Die EU hat unter dem Cotounou-Abkommen die Zusammenarbeit aufgekündigt und mich aber später gebeten, die Situation einzuschätzen. Als meine Einschätzung zeigte, dass sich die Lage dort deutlich verbessert hat, wurden die Sanktionen wieder aufgehoben. Allerdings zielte die Entwicklungszusammenarbeit dann auf Maßnahmen wie die Sanierung der Gefängnisse oder die Ausbildung der Polizei.

Ich habe jetzt mit der Europäischen Kommission ein großes Projekt ins Leben gerufen, das darin besteht, dass ich fünf der 18 Länder, die ich besucht habe, auswähle, die am ehesten bereit sind, meine Empfehlungen umzusetzen. Ich werde mit einem Team in diese Länder fahren, um zu schauen, was man dort tun kann, um gesetzliche Veränderungen zu bewirken.

Wie kann man Gesetze so machen, dass ein kleineres Risiko der Folter besteht, und wie lässt sich ein nationaler Präventionsmechanismus etablieren, der wirklich unabhängig und effizient ist, um unangekündigte Besuche in Haftanstalten durchzuführen, damit es weniger Folter gibt und die Bedingungen verbessert werden? Da gibt es sehr viele Möglichkeiten, und ich werde auch weiterhin - auch nachdem ich nicht mehr offiziell UN-Sonderberichterstatter bin - in dem Bereich tätig bleiben. (Ende/IPS/kb/2010)


Links:
http://bim.lbg.ac.at
http://www.ecchr.eu


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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. November 2010