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FORSCHUNG/010: Migrations- und Integrationsrecht - Die Macht der Leitbilder (BI.research - Uni Bielefeld)


BI.research 39.2011
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld

Die Macht der Leitbilder
Juristen erforschen, wie Gesetzgeber, Gerichte und Behörden mit Einwanderern umgehen

von Jörg Heeren



Gesetze sind keine statische Angelegenheit. Wenn aus Gastarbeitern Einwanderer werden, muss sich das Recht anpassen.

Die Juristen Christoph Gusy und Julia Niesten-Dietrich erforschen, welche Leitbilder beim Umgang mit Migranten in den vergangenen 50 Jahren eine Rolle spielten.


Jede Gesellschaft hat ihre Leitbilder, an denen sie sich orientiert. Im römischen Reich war es normal, Sklaven zu haben und diese als rechtlos anzusehen. In Liechtenstein herrschte bis in die jüngere Zeit das Leitbild, nur Männer sollten die Politik bestimmen und wählen. Erst 1984 führte der Kleinstaat das Wahlrecht für Frauen ein. In beiden Fällen verglich sich eine durchsetzungsstarke Bevölkerungsgruppe mit einer anderen und verweigerte ihr bestimmte Rechte.

In Deutschland sind es insbesondere Menschen mit einer nicht-deutschen Staatsangehörigkeit, die rechtlich anders behandelt werden als Deutsche. Wie sich der Umgang mit Ausländern seit den ersten Gastarbeitern vor 50 Jahren verändert hat, das untersuchen Professor Dr. Christoph Gusy und Dr. Julia Niesten-Dietrich von der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Bielefeld. Im Sonderforschungsbereich 882 "Von Heterogenitäten zu Ungleichheiten" analysieren sie den Wandel der Leitbilder im Migrations- und Integrationsrecht. Sie arbeiten im Teilprojekt "Soziale Konstruktion von Heterogenitätskriterien als Herausforderung an Politik, Recht und Rechtsanwendung". Gusy ist darüber hinaus auch am Antrag des Exzellenzclusters zur Kommunikation von Vergleichen beteiligt.


Ausländergesetz zunächst auf Gastarbeiter ausgerichtet

Eine grundlegende Idee im Sonderforschungsbereich 882 ist: Menschen unterscheiden sich durch zahlreiche Eigenschaften - sie sind heterogen, also unterschiedlich. Manche dieser Unterschiedlichkeiten werden zum Element sozialer Ordnung und gesellschaftlichen Handelns. Dies spielt im Alltag eine große Rolle. Gusy und Niesten-Dietrich beschäftigt in ihrem Teilprojekt, dass Menschen wegen ihrer Staatsangehörigkeit unterschiedlich behandelt werden. "Leitbilder wirken dabei nicht nur in Gesetzen, sondern auch in der Politik, Rechtsprechung und Verwaltungspraxis", erklärt Julia Niesten-Dietrich. In der frühen Bundesrepublik hatte die Politik das Ausländergesetz auf Gastarbeiter ausgerichtet, die wenige Jahre in Deutschland arbeiten sollten, um dann heimzukehren. Als sich herausstellte, dass viele von ihnen blieben und ihre Familien nachholten, veränderte sich in Deutschland nach und nach das Leitbild von Gastarbeitern zu Einwanderern. Das zeigte sich auch in Politik, Rechtsprechung und in den Behörden. Schon in den 1980ern verzichteten Sachbearbeiter in Behörden und Verwaltungsrichter zunehmend darauf, Gastarbeiter des Landes zu verweisen, wenn diese nach Jahrzehnten im Land arbeitslos wurden und von Sozialhilfe leben mussten. In den Jahren zuvor wurden Ausländer in solchen Fällen meist noch ausgewiesen. Auch Richter entscheiden inzwischen meistens milder. "Wenn ein Ausländer eine Straftat begangen hat und verurteilt wird, sieht das Gesetz eigentlich eine Ausweisung vor", sagt Julia Niesten-Dietrich. "Wenn der Angeklagte Kinder mit deutscher Staatsangehörigkeit hat, dann ist heutzutage die Chance hoch, dass er nicht ausgewiesen wird."


Einwanderergruppen werden verschieden behandelt

Schließlich reagierte die Politik auf die gesellschaftliche Realität und die veränderten Gepflogenheiten in Gerichten und Verwaltungen. 2005 wurde das Ausländerrecht durch das Zuwanderungsgesetz vollkommen umgestaltet. Insbesondere das Aufenthaltsrecht wurde in einigen Fällen vereinfacht, außerdem wurden zum Teil auch mehr Rechte für Einwanderinnen und Einwanderer in Deutschland eingeführt, etwa Ansprüche auf die Teilnahme an Integrationskursen oder auf eine Aufenthaltserlaubnis bei langanhaltender Duldung. Dabei wird auch weiter zwischen verschiedenen Einwanderergruppen unterschieden: Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der EU dürfen grundsätzlich in jedem EU-Mitgliedsland leben und dort arbeiten. Ausländer aus Staaten außerhalb der EU, so genannte Drittstaatsangehörige, haben dieses Recht nicht. Wenn sie in Deutschland leben oder auch arbeiten, dann gewöhnlich zeitlich begrenzt. Gusy und Niesten-Dietrich wollen anhand von Urteilsanalysen, Experteninterviews und der Gesetzgebungsgeschichte ermitteln, wie sich über die Jahrzehnte der Umgang mit den als unterschiedlich wahrgenommenen Einwanderergruppen geändert hat. Schon jetzt ist klar: "Ausländer werden in Richtlinien und Verwaltungspraxis bisweilen verschieden behandelt - als erwünscht und unerwünscht", sagt Gusy.


Ein bestimmendes Leitbild fehlt heute

Entscheidungen in Behörden oder Gerichten spiegeln laut Gusy oft Einstellungen wider, die gesellschaftlich üblich sind. Das kann die Einstellung sein, Ausländer müssten sich assimilieren, also die gleichen Bräuche und die gleiche Sprache pflegen wie "die" Deutschen, oder die Überzeugung, eine Gesellschaft solle multikulturell sein, sprich: Einwanderer können ihre Kultur weiter pflegen. Solche Vorstellungen werden über Leitbilder vermittelt. Früher habe es im Migrations- und Integrationsrecht noch klarere Leitbilder wie den Multikulturalismus gegeben, sagt Gusy. Die seien zwar durchaus umstritten gewesen, aber Behörden und Gerichte konnten sich danach richten, wenn sie über eine Aufenthaltserlaubnis oder eine Einbürgerung entscheiden mussten. Heute gebe es kein bestimmendes Leitbild mehr, sondern eine Kakophonie verschiedener Leitbilder. Politiker fordern beispielsweise die Integration von Einwanderern, ohne klar zu erklären, was sie darunter verstehen. Oder der Begriff "Leitkultur" wird in Politik und Medien monatelang diskutiert, ohne dass die Debatte sich in Form von Gesetzesänderungen auswirkt.


Gesetzgeber hält sich zurück

In dem Projekt von Gusy und Niesten-Dietrich geht es um die Herkunft und die Wirkung solcher Leitbilder: "Wer produziert diese Leitbilder, und inwiefern nehmen Rechtsprechung und Verwaltungspraxis Einfluss auf die Herstellung von Leitbildern?", sagt Julia Niesten-Dietrich, "Das ist eine wichtige Frage." Christoph Gusy kritisiert, dass die Politik im Migrationsrecht häufig zögerlich ist: "Der Gesetzgeber ist vielfach regelungsabstinent". Das bedeutet, dass die Politik sich zurückhält, Rechtslücken zum Aufenthalt oder zur Arbeitserlaubnis von Ausländern gesetzlich zu regeln. Dann wird abgewartet, wie Behörden und Gerichte dies entscheiden.

"Und in der Verwaltung muss notfalls schnell gehandelt werden", sagt Niesten-Dietrich. "Wenn ein Asylbewerber in Frankfurt am Flughafen steht, muss der Sachbearbeiter unter Umständen schnell entscheiden, auch wenn es zu dem Fall keine Vorschrift oder ein Gesetz gibt." Und auch Richter müssen sich bei unklarer Gesetzeslage einen eigenen Weg überlegen, den betreffenden Fall zu lösen. "Wenn es dann um Grundsatzentscheidungen geht, so kann es sein, dass der Gesetzgeber diese Lösung aufnimmt und in ein Gesetz überführt", erklärt die Juristin. Welche Leitbilder es waren, die sich über die Jahrzehnte durch Gerichte, Verwaltungen und die Politik durchgesetzt haben, soll eines der Ergebnisse des Forschungsprojekts der Bielefelder Juristen sein.

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Quelle:
BI.research 39.2011, Seite 41-43
Herausgeber:
Referat für Kommunikation der Universität Bielefeld
Anschrift der Redaktion:
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BI.research erscheint zweimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. August 2012