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GEWERKSCHAFT/191: Wie positionieren sich die Gewerkschaften? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2009

Wie positionieren sich die Gewerkschaften?

Von Hans-Joachim Schabedoth


Die Gewerkschaften verstehen sich als Anwalt für Arbeit und soziale Gerechtigkeit. Mit diesem Selbstverständnis agieren sie unabhängig, aber nicht unbeeindruckt davon, oh gerade Kommunal-, Landtags-, Bundestags- oder Europawahlen auf dem Spielplan der Republik stehen. Die Gewerkschaften von heute sind nicht der Arm einer Partei in der Arbeitswelt, sondern wollen als eigenständige politische Akteure wahrgenommen werden. Sie sind zwar strikt parteipolitisch unabhängig, aber nicht politisch indifferent. Als politische Akteure agieren sie mit Zielsetzungen, die oft gegen Regierungs- und Oppositionsparteien behauptet werden (müssen). Als Stimme für Arbeit und soziale Gerechtigkeit mischen sie sich ein. Sie sind aber keine Korrekturinstanz falscher Regierungspolitik und auch nicht Ausputzer für unzulängliche parlamentarische Oppositionsarbeit.


Teil zivilgesellschaftlicher Machtkontrolle

Anders als Parteien verfolgen die Gewerkschaften keine politischen Machterwerbsziele. Sie sind vielmehr Teil zivilgesellschaftlicher Machtkontrolle und damit Teil eines Netzwerkes einer breiten gesellschaftlichen Reformbewegung, die sich für Werte wie Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Toleranz engagiert. Gewerkschaften als eigenständige politische Akteure nutzen selbstverständlich - wie alle anderen politischen Akteure klugerweise auch - das für politische Debatten besonders aufnahmebereite Klima zu Wahlzeiten, um ihre eigenen Botschaften zu präsentieren, Forderungen an die Parteien zu artikulieren und um mehr politische Unterstützung für die eigenen Standpunkte zu werben.

Alle Parteien beziehen sich in ihren Wahlaussagen direkt oder indirekt auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der abhängig beschäftigten Menschen. Die Gewerkschaften als einzige zivilgesellschaftlichen Akteure mit fester Verankerung in der Arbeitswelt haben deshalb nicht nur ein gutes Recht, diese Aussagen öffentlich zu bewerten und sie mit eigenen Erwartungen zu kontrastieren. Sie sehen auch eine Verpflichtung gegenüber den eigenen Mitgliedern und gegenüber der demokratischen Öffentlichkeit, auf die voraussehbaren Konsequenzen parteipolitischer Vorhaben kontinuierlich aufmerksam zu machen.

Die Gewerkschaften sind Interessenvertretung der abhängig Beschäftigten, nicht ihr politischer Vormund. Deshalb verbietet es sich von selbst, den Mitgliedern irgendwie empfehlen zu wollen, wen sie lieber nicht oder besser doch wählen sollten. Zu Recht können alle Gewerkschaftsmitglieder darauf vertrauen, dass sie nicht nur sporadisch - deshalb also selbstverständlich auch zu Wahlzeiten - politisch relevante Informationen und Bewertungen sowie Einschätzungen zum politischen Handeln und Wollen der Partei zur Verfügung gestellt bekommen. Die Information über alle Dimensionen von Politik, die das Leben und Arbeiten bestimmt, ist selbstverständlicher Teil der gewerkschaftlichen Alltagsarbeit und nicht abhängig davon, ob die nächsten Wahlen vor der Tür stehen. Dabei nutzen Gewerkschaften alle Formen moderner Kommunikation. Sie suchen das Gespräch mit den Parteien. Sie bieten ihre Mithilfe bei der Erarbeitung von Wahlprogrammen an. Sie begleiten die Politik von Regierung und Parteien mit eigenen Bewertungen.

Jede Wahlentscheidung, zumal eine Bundestagswahl, konstituiert neue Rahmenbedingungen für die Arbeit von Gewerkschaften als Anwalt für Arbeit und soziale Gerechtigkeit. Wenn die Gewerkschaften durch öffentliche Positionierungen gerade zu Wahlzeiten eine meinungsbildende Kraft entwickeln, ist das im Rahmen ihrer Zuständigkeit für die Sorgen der Menschen ausdrücklich intendiert und wird nicht bloß verschämt in Kauf genommen. Kein verantwortungsvoller Gewerkschafter würde sich auf die Position zurückziehen, es sei unerheblich für seine Arbeit, welche Partei mehr Mandate hat als die andere. Gleichwohl können sich die Gewerkschaften nicht aussuchen, wer ihr Gesprächspartner in der Regierung ist oder wird. Auch auf der Arbeitsebene der Betriebs- und Tarifpolitik wünschen sie sich oftmals einsichtsfähigere Verhandlungspartner, doch müssen sie mit den vorhandenen nach Ergebnissen suchen, gerne im Konsens, aber Gewerkschaften können es auch im Konflikt. Das ist in den politischen Auseinandersetzungen nicht anders.

Suggestives Fragen oder vermeintlich geschicktes Nachbohren von Journalisten hat mitunter den öffentlichen Eindruck vermittelt, die Gewerkschaften wollten situativ und nicht schon prinzipiell auf eine Wahlempfehlung verzichten. Doch gewerkschaftliche Positionierungen zu Wahlzeiten stehen nicht unter Opportunitätskalkülen. Gewerkschaften äußern sich zu den drängenden, all zu oft auch vernachlässigten Fragen in einer Wahlauseinandersetzung prinzipiell und nicht taktisch-situativ. Natürlich haben Gewerkschaftsmitglieder, haupt- und ehrenamtliche Funktionäre wie alle Staatsbürger, das Recht, sich in demokratischen Parteien zu engagieren und auch zu ihrer Wahl aufzurufen. Es bleibt dabei aber eine Selbstverständlichkeit, zwischen einheitsgewerkschaftlicher Ausrichtung der Gewerkschaftsarbeit und dem privaten politischen Engagement zu differenzieren.


Werben für einen starken Staat

Was die inhaltliche Positionierung zur Bundestagswahlzeit angeht, diktieren Alterserfahrung und die Herausforderung durch die Wirtschafts- und Finanzkrise die aktuellen Forderungen an alle Parteien. Demoskopisch feststellbare Wählermehrheiten sind z.B. für den gesetzlichen Mindestlohn, für flexible Altersübergänge, statt für eine starre Rente mit 67. Ebenso gibt es solche Meinungsmehrheiten für den sozialen Ausgleich, gegen Selbstbedienermentalität in den Unternehmen, für mehr Investition in Bildung, für eine Bürgerversicherung und für einen Staat, der den Rahmen setzt, damit die freien Marktwirtschaften in soziale Verantwortung gezwungen werden können. Nicht zuletzt werben die Gewerkschaften um mehr Mitbestimmung. Auf diesem Weg wollen sie erreichen, dass sich die Unternehmen auf das Allgemeinwohl und auf Zukunfts- und Beschäftigungssicherung ausrichten. Die Gewerkschaften waren schon vor Ausbruch der Krise für nationale, europäische und weltweite Regulierungen von Finanzmärkten und Finanzprodukten. Jetzt ist ein Zeitfenster offen, um z.B. die Vereinbarung vom G20-Gipfel in London in nationaler Verantwortung zu realisieren. Die Gewerkschaften werben gerade jetzt für einen starken Staat, der Regeln setzt und seine Aufgaben der Daseinsvorsorge ernst nimmt. Nach wie vor steht ganz oben auf der Tagesordnung eine gerechte Vermögens- und Einkommensverteilung und ein Sozialstaat, der Solidarität organisiert und allen hilft, die sich nicht mehr selber helfen können. Der Sozialstaat leistet auf diese Weise mehr als er kostet.

Wo Gewerkschaften direkte Zuständigkeit haben, bei der Gestaltung von Arbeitsbedingungen über Betriebspolitik und Tarifpolitik, bestehen die besten Aussichten, das Meinungsklima zu prägen und zu verändern. Das schließt alle Themen der sozialen Gerechtigkeit ein. Dazu zählen die Themen gerechter Lohn (gesetzlicher Mindestlohn), gesicherter Ruhestand ohne drohende Altersarmut sowie familiengerechte Arbeitsbedingungen. Und schließlich zählen zum Arsenal der Gewerkschaftsanliegen in diesen Wahlzeiten alle Parteinahmen für ein Bildungssystem, bei dem die soziale Herkunft kein Selektionskriterium mehr ist.

Sicher ist: Die Gewerkschaften mischen sich ein, weil es um die Richtungsentscheidungen der Politik geht und weil das nicht nur ihr Recht, sondern auch ihre Pflicht ist. Parteien, die mehrheitsfähig bleiben oder werden wollen, sollten die gewerkschaftlichen Erfahrungen nicht ignorieren und ihre Forderungen sorgsam prüfen.


Hans-Joachim Schabedoth (* 1952) ist Leiter des Bereiches Gesellschaftspolitik/Grundsatzfragen beim DGB-Bundesvorstand. Bei Schüren erscheint in Kürze: Angela Merkel - Regieren mit SPD und Union.
achim.schabedoth@dgb.de.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2009, S. 43-46
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. August 2009