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MELDUNG/080: UN-Sicherheitsrat - Spielball der Mächte (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 22. Dezember 2011

UN: Spielball der Mächte -
Sicherheitsrat von ständigen Mitgliedern dominiert und manipuliert

von Thalif Deen

Russischer Botschafter Witali Tschurkin - Bild: © Paulo Filgueras/UN

Russischer Botschafter Witali Tschurkin
Bild: © Paulo Filgueras/UN

New York, 21. Dezember (IPS) - Der russische Botschafter bei den Vereinten Nationen, Witali Tschurkin, nutzte kürzlich die Gelegenheit zu massiver Kritik am UN-Sicherheitsrat. So machte er insbesondere die drei ständigen Mitglieder Frankreich, Großbritannien und USA (P-3) dafür verantwortlich, "dass Worte nicht mehr die Bedeutung haben, die sie einst besaßen".

Im März hatte der UN-Sicherheitsrat der Resolution 1973 zugunsten einer Flugverbotszone über Libyen zugestimmt. Doch die NATO-Kampfverbände schossen weit über das ursprüngliche Ziel hinaus, der libyschen Luftwaffe jede Möglichkeit zu nehmen, die eigene Bevölkerung zu bombardieren.

"In den guten alten Zeiten hätte man unter einer Flugverbotszone verstanden, dass niemand das entsprechende Gebiet überfliegen darf. In der 'schönen neuen Welt' bedeutet Flugverbotszone hingegen das Recht, ausgewählte Ziele einschließlich Fernsehanstalten unter Beschuss zu nehmen", sagte Tschurkin. Es sei schon beunruhigend, "unsere Kollegen" dabei zu beobachten, wie sie Resolutionen interpretierten, damit diese ihren Interessen dienlich seien.

"Es war kein perfekter Tag für die Diplomatie", so der Russe, der derzeit den monatlich rotierenden Vorsitz des UN-Sicherheitsrats führt. "Und es war auch kein perfekter Tag, um im UN-Sicherheitsrat zu arbeiten." Nachdem der Rat in diesem Monat eine Reihe von Treffen abgehalten hatte, erklärte Tschurkin vor Journalisten: "Ich habe all die Tricks gesehen, die aufgefahren wurden, um den Präsidenten des UN-Sicherheitsrats zu strangulieren."


Manipulationsvorwürfe an alle P-5-Staaten

Doch die gegen die P3-Staaten erhobene Kritik gilt im Grunde für alle fünf ständigen Mitglieder - also China und Russland inbegriffen. In dem Versuch, ihre eigenen weltweiten politischen, wirtschaftlichen und militärischen Interessen zu schützen, manövrieren sich die großen Fünf an verschiedenen Fronten in die Handlungsunfähigkeit. Das gilt sowohl für Bahrain, Israel und den Jemen, die unter dem Schutz der P3-Staaten stehen, als auch für den Iran und Syrien, die von China und Russland protegiert werden.

Chris Toensing, Redakteur der in Washington herausgegebenen Fachzeitschrift 'Middle East Report', erklärte gegenüber IPS, dass Tschurkins Kritik in Anbetracht der vielen diesjährigen Versuche Russlands, den Sicherheitsrat für eigene Interessen zu missbrauchen, wohl kaum ernst genommen werden müsse.

"Ich kaufe Russland die Empörung im Zusammenhang mit Libyen einfach nicht ab", sagte er. (Der ehemalige US-Verteidigungsminister) Robert Gates habe noch vor der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat über die Resolution 1973 keinerlei Zweifel daran gelassen, dass einem Überflugverbot massive Bombardements vorangehen würden.

China und Russland hätten mit ihrer Stimmenthaltung lediglich ein Regime geopfert, zu dem sie ohnehin nur minimale Beziehungen unterhalten hätten. "Wenn es um wichtige Beziehungen geht, beharren sie auf ihren Standpunkten", versicherte der Experte, der zudem das 'Middle East Research and Information Project' (MERIP) leitet. Er räumte allerdings ein, dass die USA keinen Deut besser seien und den Sicherheitsrat ebenso benutzten.

James A. Paul, geschäftsführender Direktor des New Yorker 'Global Policy Forum', sieht im UN-Sicherheitsrat trotz seiner fünf ständigen und zehn nicht ständigen Mitglieder vor allem ein politisches Gremium, das von den P-3-Staaten despotisch geführt wird.

Dem Politikexperten zufolge können die P-3 in der Regel auf die Unterstützung von mindestens sechs der nichtständigen Mitglieder zählen. Somit verfügten sie über einen Entscheidungsblock, der fast jede Resolution mittragen könne. Durch Druck und Deals gelinge es den P-3 oft, alle Ratsmitglieder einschließlich China und Russland hinter sich zu sammeln.


Dominanz von zunehmend bedeutungslos werdenden Staaten

"Die P-3-Dominanz ist eine Abnormität, wenn man bedenkt, dass der weltweite Einfluss dieser Staaten kontinuierlich schwindet", meinte Paul. "Dennoch treten sie im UN-Sicherheitsrat wie Hegemonialmächte auf."

Stephen Zunes, Professor für Politik und internationale Studien an der Universität von San Francisco, wirft allen ständigen Mitgliedern vor, den UN-Sicherheitsrat zu manipulieren.

Neu sei nur, dass die großen Fünf inzwischen Resolutionen zuließen, die den Interessen ihrer Verbündeten bisweilen zuwiderliefen. Allerdings sorgten sie dafür, dass sich derartige Resolutionen ausschließlich auf Kapitel sechs (friedliche Beilegung von Streitigkeiten) und nicht auf Kapitel sieben (Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen) bezögen.

"Seit Jahrzehnten haben die USA und ihre Verbündeten Resolutionen gegen Indonesien, Marokko oder Israel unterstützt oder sich der Stimme enthalten. Gleichzeitig stellten sie sicher, dass die Resolutionen nie durch Sanktionen oder andere Mechanismen umgesetzt werden konnten, so Zunes.

Inzwischen sind die P-5 dazu übergegangen, ihr Veto einzulegen, um eine Abstimmung zu verhindern oder Resolutionen zur Bedeutungslosigkeit zu verwässern, wie Zunes erläutert, der seit langem über den UN-Sicherheitsrat recherchiert.

Ein Beispiel: In den 1970er Jahren hatten die USA vier Resolutionen gegen den Bau israelischer Siedlungen in den Palästinensergebieten blockiert beziehungsweise sich der Stimme enthalten. In der Resolution hieß es, dass der Siedlungsbau illegal sei und Israel alle Siedlungen abreißen müsse. Im Februar jedoch legten die USA gegen eine Resolution ihr Veto ein, die die Illegalität der israelischen Siedlungen erneut betonte und Israel lediglich dazu aufforderte, den Bau weiterer Siedlungen zu verhindern.

"Dieser Trend wird sich nach der Ausweitung des Mandats der UN-Sicherheitsratsresolution durch die NATO leider fortsetzen", fürchtet Zunes. Dass die NATO als Luftwaffe der libyschen Rebellen fungiert habe, dürfte seiner Meinung nach China und Russland veranlasst haben, selbst vernünftige Initiativen des UN-Sicherheitsrats zu blockieren.


Neuer Wind durch Schwellenländer

Paul zufolge haben die dieses Jahr in den UN-Sicherheitsrat gewählten Länder Brasilien, Indien und Südafrika einen Geist der Unabhängigkeit in das umstrittene Gremium gebracht. Sie seien nicht bereit gewesen, den P-3 bedingungslos zu folgen, sondern hätten beispielsweise Vermittlungsgespräche vorgeschlagen, wenn die P-3 zu Gewalt gedrängt habe, berichtet Paul. Diese drei Staaten seien stark genug, um dem Druck der P-3 zu widerstehen.

Paul zufolge muss der UN-Sicherheitsrat reformiert werden, will er sich als Frieden stiftendes Gremium behaupten und die neuen Realitäten besser widerspiegeln. (Ende/IPS/kb/2011)


Links:
http://daccess-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N11/268/39/PDF/N1126839.pdf?OpenElement
http://www.merip.org/
http://www.globalpolicy.org/
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=106267


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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 21. Dezember 2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Dezember 2011