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ORGANISATION/207: Caritas inmitten sozialstaatlicher und kirchlicher Umbrüche (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 03/2010

Ferment einer parteiischen Kirche Caritas inmitten sozialstaatlicher und kirchlicher Umbrüche

Von Thomas Wagner


Durch die sozialpolitische Etablierung von Wettbewerbs- und Marktelementen wurde das Subsidiaritätsprinzip des Sozialsektors ausgehöhlt. Diese Marktorientierung und die umfassenden Umbauarbeiten in den deutschen Bistümern fordern auch die Caritasverbände heraus, zur Klärung ihres Auftrages wie ihres Selbstverständnisses.


Im Sommer letzten Jahres lud der Bezirkscaritasverband Limburg zu einem Pressegespräch ein. Der Grund dieses Gespräches war das Ende der Arbeit des so genannten Profi-Teams Paragraph 25. Über drei Jahre hatte das Profi-Team, eine Kooperationseinrichtung von Caritas und Bistum Limburg, im Auftrag der staatlichen Arbeitsverwaltung (Arge) das so genannte Profiling für junge Menschen unter 25 Jahre durchgeführt. Alle Jugendlichen im Kreis Limburg-Weilburg, die einen Antrag auf Arbeitslosengeld II stellen wollten, wurden dort beraten. In diesen Beratungsstunden wurde eine Stärke-Schwäche Analyse (Profiling) durchgeführt, die Bewerbungsunterlagen gecheckt, bei Bedarf wurde ein Sprachtest durchgeführt, sowie gemeinsam der Arbeitslosengeld-II-Antrag erarbeitet. Die fünf Mitarbeiter des Profi-Teams befanden sich somit im Schnittpunkt Antragsteller/Arge und bewegten sich mit ihrer Zwangsberatung rechtlich im Rahmen der Umsetzung des Sozialgesetzbuch II (SGBII).

Über 9000 Beratungsstunden fanden statt, als erste Etappe der sanktionsbewehrten Dienstleistungskette des SGBII. Durch eine Gesetzesänderung im SGBII (Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente im Dezember 2008) musste die Dienstleistung des Profil-Teams neu ausgeschrieben werden. Statt des überkommenen Zuwendungsrechtes kam nun das öffentliche Vergaberecht zur Anwendung. Die Erwartung eines Kosten-Unterbietungswettbewerbs zwischen den potenziellen Trägern, die tarifliche Bindung der Mitarbeiterentlohnung und ein eindeutiger Qualitätsanspruch an die Beratung führten bei dem kirchlich-karitativen Träger des Profi-Teams zu der Entscheidung, sich nicht an dem Ausschreibungsverfahren zu beteiligen. Ein allseits beachtetes und anerkanntes Projekt wurde beendet, weil unter solchen Marktbedingungen die bisherigen Dienstleistungen nicht mehr zu erbringen waren.

Diese Entwicklung in Limburg ist ein markantes Beispiel dafür, wie die Arbeitsmarktpolitik seit 2005 neu ausgerichtet beziehungsweise generell das Miteinander zwischen Staat und Wohlfahrtsverbänden neu strukturiert wurde. Die überkommenen subsidiär-korporativen Strukturen zwischen staatlichen Stellen und Wohlfahrtsverbänden wurden "vermarktlicht". Wohlfahrtsverbandsexperten sprechen von einer "Ökonomisierung sozialer Dienste". Die Caritas als dritter Sozialpartner, neben den sozialstaatlichen Akteuren und den Hilfebedürftigen sozialer Dienste, wird so einem hohen Veränderungsdruck ausgesetzt.

Durch die sozialpolitische Etablierung von Wettbewerbs- und Marktelementen wurde das Subsidiaritätsprinzip des Sozialsektors ausgehöhlt (Kinder- und Jugendhilfegesetz von 1991, Pflegegesetz von 1994, SozialgesetzbuchII von 2005). Der subsidiäre Korporatismus des bundesrepublikanischen Sozialstaates wird mit Wettbewerb durchsetzt. Gleichzeitig zieht sich der Staat auf eine Gewährleistungsverantwortung zurück und überlässt die Leistungsverantwortung einer Vielzahl miteinander konkurrierender Anbieter.


Mit diesen Veränderungen wird es für die Caritas schwieriger, ihrer Funktion als dritter Sozialpartner gerecht zu werden und sowohl auf die sozialstaatliche Definition von sozialen Not- beziehungsweise Bedarfslagen wirkungsvoll Einfluss zu nehmen als auch sozial-anwaltschaftlich für gesellschaftlich Benachteiligte wirken zu können. Stattdessen sieht sich die Caritas immer mehr vor die Herausforderung gestellt, sich im Wettbewerb zu behaupten. Diese Marktorientierung führt zu zahlreichen Dilemmasituationen, die zuweilen das eigene Selbstverständnis konterkarieren und zum Rückzug aus sozialen Dienstangeboten führen - wie am Limburger Fall angedeutet.

In der aktuellen Finanz-, Wirtschafts- und Systemkrise werden voraussichtlich die gesellschaftlichen Verteilungskonflikte wachsen. Die immense Verschuldung der öffentlichen Haushalte bei wachsend hoher Arbeitslosigkeit dürfte zu verstärkten Wohlstandskonflikten zu Lasten des unteren Drittels der deutschen Gesellschaft, einem weiteren Abbau der sozialen Infrastruktur und einer beschleunigten Erosion der Mittelschicht führen. Der von Rot-Grün-Schwarz-Gelb in Kraft gesetzten aktivierenden Sozialpolitik ("Agenda 2010") droht, verstärkt durch die von Schwarz-Gelb propagierten und teils bereits umgesetzten Steuersenkungsplänen, ein erneuter Um- und Abbau.


Steht die Kirchlichkeit der Caritas wieder zur Debatte?

Im Zuge des aktuellen Ringens der deutschen Bischöfe um die Erneuerung der Kirchengestalt kommen auch die Caritasverbände in den Blick. Die aktuelle Umbaukrise zeitigt nicht nur mit Blick auf die schrumpfenden Finanzmittel der Kirche bischöfliche Signale für die Caritas. In dem aktuellen Wort der Bischöfe "Berufen zur caritas" (Bzc) vom 5. Dezember 2009 wird durchgehend wertschätzend und anerkennend der kirchliche Dienst der Caritas reflektiert und werden theologisch die Impulse der Enzyklika Benedikts XVI. "Deus caritas est" aufgearbeitet. "Die organisierte Caritas der Kirche will eine wirksame Anwältin und Solidaritätsstifterin für die Benachteiligten, Armen und Bedrängten aller Art und ihnen vor allem nahe sein" (Bzc 22).

Einladend, nicht vorschreibend entfaltet diese Schrift die Bedeutung des persönlichen Gebetes und Spiritualität für die Akteure karitativen Engagements: "Spiritualität in diesem Sinne fördert die Leidenschaft für die Nächsten und ihre unverbrüchliche Würde, für 'Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue' (Mt 23,23) - und damit für die politische Diakonie des Einzelnen und der ganzen Kirche" (Bzc 47). Die Betonung einer neuen "spirituellen Herzensbildung", die auch die Gerechtigkeitsdimension einbezieht, wird einladend vorgetragen. In Kombination mit dem Appell zu verstärktem missionarischen Wirken könnte dies jedoch auch das Aufleben des altneuen Streits um die Kirchlichkeit der Caritas bedeuten. Stellt die stärkere Betonung der missionarischen Dimension womöglich die Caritas als Akteur in der öffentlichen Daseinsvorsorge partiell in Frage?

Zum Beispiel gibt es in einzelnen Bistümern Debatten, die Mitarbeit der Caritas an der sozialen Grundversorgung im Feld der Kinderbetreuung stärker als in der Vergangenheit unter die Zielsetzung missionarische Qualität statt flächendeckender Quantität zu stellen. Die Caritas wird hier zu einem Teilmoment eines entschiedenen und eindeutigen Christentums.

Der Deutsche Caritasverband mit seinen vielfältigen Untergliederungen, über 500000 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen und vielfältigen Diensten in der öffentlichen, überwiegend staatlich refinanzierten Grundsicherung kann bei diesem missionarischen Anspruch tendenziell unter Verdacht geraten, der nötigen und gewünschten Klarheit und Entschiedenheit des Christentums entgegenzustehen und sich durch sachliche, politische und institutionelle Zwänge zu sehr an die Gesellschaft anzupassen.

Mit Blick auf diese neuen Herausforderungen gilt es Impulse zur karitativen Neuorientierung zu entwickeln. Denn weder das Nachtrauern der überkommenen und aufgekündigten korporativen "Umarmung", noch der Rückgriff auf eine kirchliche Kontrastgesellschaft, vielleicht gar dem Bild einer neuen "societas perfecta" nachzueifern, ist zielführend. Nur wenn die Caritas die Vision eines spirituellen und parteilich-engagierten kirchlichen Wohlfahrtsverbandes entfaltet, der zugleich Akteur in einer zivilgesellschaftlichen Gerechtigkeitsbewegung ist, kann sie soziale Energie und politische Kraft entwickeln, um gegen die Macht des Sozialmarktes eine befreiend-authentische Praxis zu setzen.


Unter modifizierendem Rückgriff auf eine Typologie des evangelischen Sozialtheologen Heinrich Bedford-Strohm (Jahrbuch Sozialer Protestantismus 2, 2008), sollen drei unterschiedliche Leitperspektiven in dieser Umbaukrise entfaltet werden.

Caritas als "Kontrastgesellschaft": Diese Leitidee sieht die praktizierte Nächstenliebe, die helfend-karitativen Dienste, eingebettet in ein missionarisches Kirchenverständnis, das sich deutlich an der Sichtbarkeit der Kirche orientiert: Papsttum, apostolisches Glaubensbekenntnis, Eucharistie und Caritas. Die Kirche versteht sich nach diesem Modell als Kontrastgesellschaft (Gerhard Lohfink) gegenüber ihrem Außen (der Gesellschaft, der Welt), die durch ihre eigene Existenz "Salz der Erde" und "Licht der Welt" ist und so die Welt durch ihr Beispiel gestaltet.

In Reaktion auf die beschleunigte Tradierungs- und Plausibilitätskrise des Christentums wird heute in der Pastoral der Kirche das missionarische Handeln stärker betont, was auch auf die Caritas ausstrahlt. Gerade mit Blick auf die Verunsicherungen in der aktuellen Umbaukrise scheint dieses Modell der "Kirche als Kontrastgesellschaft" beliebter zu werden. Mit Blick auf die Finanz-, Priester- und Gläubigenkrise wird für einen Abschied von der Beteiligung an der allgemeinen öffentlichen Daseinsvorsorge plädiert (in die die Caritas als Wohlfahrtsverband bisher eingebunden ist), hin zu exemplarischen und eindeutigen Projekten christlicher Barmherzigkeit und tätiger Nächstenliebe: Das "Kerngeschäft" der Kirche in der Welt von heute soll profiliert Gestalt gewinnen.

Die Stärke dieser Leitidee ist, dass es die Radikalität eines aus biblischen Impulsen sich speisenden christlichen Zeugnisses ernst nimmt und vor zu starker Anpassung warnt. Darin steckt aber auch seine Schwäche. Wo die Angst vor der Anpassung in Verkennung der Bedeutung von professionellen und ausdifferenzierten Hilfsangeboten zum leitenden Prinzip wird, wächst leicht die Gefahr, dass nicht mehr die Hilfebedürftigen im Zentrum stehen, sondern eine Orientierung am eigenen Identitätswunsch, das Katholische in unübersichtlichen Zeiten zu retten. Diese Gefahr vermeidet die zweite theologische Leitidee.


Die Leitidee von der "Caritas als Gesellschaftsdienst" gibt der diakonischen Praxis der Kirche und ihrer Caritas den Vorrang gegenüber den eigenen binnenkirchlichen Interessen und der sichtbaren Kirchlichkeit der Caritas. Christlicher Glaube heißt vor allem Dienst der Nächstenliebe und Engagement für Gerechtigkeit in der Gesellschaft. Die religiöse Motivation zu diesem Engagement ist für die Stärke und Beharrlichkeit von Bedeutung. Diese Herkunft braucht, ja soll eigentlich nicht in einem eindeutigen explizit-christlichen Profil sichtbar zu werden. In einer säkularen und pluralistischen Gesellschaft, wo christlich-religiöse Sprache und Symbole scheinbar immer weniger überzeugen, verkörpert die Caritas nach dieser Leitidee ein "praktisches und solidarisches Christentum", also gelebten Dienst am Nächsten und Gerechtigkeitsarbeit.

In einer durch Professionalisierung, Ausdifferenzierung und entschiedener Nähe zum ausgebauten Sozialstaat geprägten Caritas ist dieses Moment einer "Kirche für andere" (Dietrich Bonhoeffer) stark vertreten. Aufgebaut insbesondere in Zeiten der aktiven Sozialpolitik (die siebziger und achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts), in denen die sozialstaatlichen Leistungen deutlich expandierten, die Caritas in enger korporative Einbindung stark mitwuchs und eine sehr intensive Partnerschaft mit staatlichen Trägern praktiziert wurde, wird diese "Umarmung" seit den neunziger Jahren zunehmend im Zuge des aktivierenden Paradigmas in der Sozialpolitik gelockert beziehungsweise de jure aufgekündigt.

Für die Akteure dieses Modells stellt das Gleichnis vom barmherzigen Samariter so etwas wie das "Hausgleichnis" der Caritas dar: In dem Geschehen zwischen Helfer und Hilfeempfänger steht gerade nicht die Religion oder Konfession im Zentrum, sondern allein die Beseitigung der Not. Der Appell des Apostels Paulus "Gleicht euch nicht dieser Welt an ...!" (Röm 12,2) wird einerseits mit Blick auf die staatlichen Fördermöglichkeiten überhört und andererseits unter dem neuen Druck öffentlicher Vergabeverfahren und drohender Kürzungen im Sozialsektor allzu oft ignoriert.

Diese Leitidee ist bedingt zukunftsträchtig. Zum einen zeigen neuere religionssoziologische Untersuchungen, dass die Annahme, Menschen ließen sich immer weniger auf die religiöse Dimension des Menschseins ansprechen, falsch ist. Wir bewegen uns in postsäkularen Zeiten, in welchen die Volkskirchen vielleicht keinen erhöhten Zulauf haben, gleichwohl für die spirituelle Lebensdimension eine erhöhte Sensibilität zu spüren ist. Vor allem aber übergeht die einseitige Orientierung am Samaritergleichnis wesentliche biblisch-prophetische Impulse des Glaubens. Gegenüber dem wachsenden Sozialmarkt gewinnt daher die Kategorie des eschatologischen Vorbehaltes eine neue Wirkkraft, denn eine große Sozialstaatsnähe schien in den Zeiten des expandierenden Sozialstaates für die Betroffenen und für die Caritas sinnvoll, kann aber heute unter den neuen "durchökonomisierten" Kontexten problematisch sein.


Caritas als Akteur in einer zivilgesellschaftlichen
Gerechtigkeitsbewegung

Vor diesem Hintergrund lässt sich eine dritte Leitidee vorschlagen, die die Stärken der beiden anderen Perspektiven aufzunehmen sucht, ohne ihre Schwächen zu übernehmen: "Caritas als Akteur in einer zivilgesellschaftlichen Gerechtigkeitsbewegung". Es gilt die Wünsche der Bischöfe und die "neoliberal freigesetzte Umarmungssituation" der Caritas im aktivierenden Sozialstaat als Chance zu betrachten, "to think big": Wenn sich die Caritas in Besinnung auf ihre biblischen Quellen neu aufstellt, könnte es in Kooperation mit anderen zivilgesellschaftlichen Bewegungen gelingen, die soziale Arbeit und mittelbar die Sozialpolitik in Richtung Gerechtigkeit zu beeinflussen.


Gesellschaft ist heute pluralistisch. Weder sind religiöse Haltungen selbstverständlich, noch kann das Christentum im Dialog mit anderen religiösen und humanistischen Weltanschauungen eine Vorrangstellung reklamieren. Das christliche Zeugnis darf nicht zugunsten christlicher Nächstenliebe und politischer Gerechtigkeitsarbeit verschwiegen werden. Im Gegenteil: Caritas entfaltet ihre öffentlich- zivilgesellschaftliche und darin auch missionarische Kraft in der Einheit von religiöser Authentizität und praktischer Nächstenliebe. "Spiritualität und Engagement", "Mystik und Politik", "Aktion und Kontemplation" - immer gehören beide Engagementpole der Innen- und Außenarbeit notwendig zusammen. In einer pluralistischen Gesellschaft wird die Ganzheitlichkeit eines in persönlicher Spiritualität gegründeten Dienstes am Nächsten ein umso zentralerer Faktor für die Ausstrahlung und Außenwirkung von Kirche und ihrer Caritas (vgl. Bzc Nr. 5).

Deswegen braucht die Caritas im öffentlichen Diskurs sowohl eine fachlich-professionelle, sozialethisch-politische als auch eine theologisch-spirituelle Stimme. Sie muss zum einen auf der Basis biblischer, spiritueller und theologischer Traditionen zeigen, woher sie kommt und zum anderen deutlich machen, warum die sich daraus ergebenden Orientierungen für alle Menschen guten Willens so plausibel sind, dass es sich lohnt, sich in ihren Dienst zu stellen beziehungsweise ihre Dienstangebote zu nutzen. Dies bedeutet, dass zivilgesellschaftlich engagierte Caritas keine Angst vor der Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen oder mit zivilgesellschaftlichen Kräften anderer weltanschaulicher Hintergründe haben muss.

Diese Leitidee verknüpft so das klare und eindeutige missionarische Zeugnis auf der Basis der eigenen Tradition mit der Ausrichtung auf die plurale Gesellschaft als Ganze und nimmt damit eine Caritas in den Blick, die zum Salz der Erde werden kann, weil sie die primäre Ausrichtung an der eigenen Identitätssuche hinter sich lässt. Caritas wird so zu einem aktiven und erfahrungsstarken Ferment einer parteiischen Kirche und einer öffentlich-praktischen Theologie (Edmund Arens).

Der profilierte theologische Ausdruck dieser Leitidee ist die biblische Option für die Armen, vor allem im Sinne der Stärkung, des "empowerments", ein Impuls, der ganzheitlich Leben und Leiden wahrnimmt und anerkennt. Die Option für die Armen motiviert, denen die leiden mit Empathie und "Compassion" (Johann Baptist Metz) zu begegnen, sie protestiert gegen Zustände, die ungerecht und leidfördernd sind, sie stärkt den Impuls, diese Zustände politisch aufzuheben. Ein glückendes und gelingendes Leben rückt so in den Mittelpunkt der Achtsamkeit, wie es auch im Wort der Bischöfe "Berufen zur caritas" für jeden Christenmenschen theologisch und praktisch-pastoral entwickelt wird.


Die Anstößigkeit und Widerständigkeit dieser Orientierung darf nicht weginterpretiert werden. Einrichtungen und Dienste der Caritas, als lebendiges Zusammenwirken von professionellen und ehrenamtlichen Kräften, haben natürlich auch eine unternehmerische Dimension, die sie ernst nehmen müssen. Die Caritas ist von ihrem Auftrag her niemals ausschließlich als Unternehmen zu verstehen oder gar so zu definieren, als ob das Unternehmerische ihr Hauptidentitätsmerkmal wäre. Würde sie das tun, mag sie sich am Markt erfolgreich aufstellen und beeindruckende Bilanzen und Internetauftritte vorlegen. Aber sie wäre nicht mehr Ausdrucksform der Kirche Jesu Christi. Wenn Managementstrategien oder staatliches Verwaltungshandeln und mit ihnen deren Sprache und Denken unreflektiert übernommen werden (beispielsweise nicht mehr vom Hilfebedürftigen sondern vom Kunden geredet wird), dann kann dies in die Sackgasse einer "besinnungslosen" Anpassung führen.

Von dieser Leitperspektive her gilt es mit staatlichen Akteuren und privaten Mitanbietern zu verhandeln. In der vorrangigen Option für die Armen liegt die Identität der Caritas. Die im Jahr 2008 auf Bundesebene des Deutschen Caritasverbandes verabschiedeten "Leitlinien für unternehmerisches Handeln der Caritas" sind gut geeignet, um dieser Perspektive eine erkennbare Gestalt zu geben.


Die Leitidee der Caritas als "Kontrastgesellschaft" hält Abstand sowohl zum Staat als auch zur Zivilgesellschaft, um im katholischen Profil so klar wie möglich zu sein. Die Leitidee der Caritas als "Gesellschaftsdienst" ist mit dem Staat so eng verknüpft, dass Caritas vorrangig Dienstleister des Staates ist. Die Leitidee der "Caritas als Akteur in einer zivilgesellschaftlichen Gerechtigkeitsbewegung" entwirft eine Caritas, die zwar partnerschaftlich mit dem Staat zusammenarbeitet, aber gleichzeitig kritischen Abstand wahrt.

Caritas ist hier kirchlicher Beitrag zu helfender Solidarität. Politische Anwaltschaft, die sich auf die biblische Option für die Armen beruft, vollzieht auch den öffentlichen kritischen Einspruch, wo der Staat seinen Aufgaben nicht oder nur ungenügend nachkommt. Die Caritas sollte einen profilierten Ort im Spannungsfeld zwischen Staat und Zivilgesellschaft einnehmen und gleichermaßen sowohl die institutionell-korporativen Foren als auch die öffentlichen Plätze nutzen, um Vorschläge, Kritik und Protest zu formulieren. Die ausgegründete Caritas kann daher als kirchliche Institution verstanden werden, über die Kirche helfende Solidarität realisiert. Somit wird die Leitidee einer Caritas als Akteur in einer zivilgesellschaftlichen Gerechtigkeitsbewegung ein attraktives Entwicklungsprogramm für den Wohlfahrtsverband der Kirche.


Es gibt wenige gesellschaftliche Organisationen, die gesellschaftlichen Einfluss haben und gleichzeitig so nah am Menschen sind wie die Kirche und ihre Caritas mit den vielfältigen Diensten und Einrichtungen. Wenn die Caritas auf fragwürdige Konsequenzen von Regelungen im Sozialbereich hinweist, gleichsam die von den Bischöfen gewünschte "Mystik des offenen Blicks" (Bzc 28-30) umsetzt, dann hat dies politisches Gewicht im zivilgesellschaftlichen, öffentlichen Diskurs. In den Einrichtungen und Beratungsstellen der Caritas begegnen die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen konkreten Problemfällen, die bei der Erarbeitung der Gesetze allzu oft nicht im Blick sind.

Ob Probleme in der Pflege oder mit der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik, - es gehört zu den wesentlichen Aufgaben der Caritas, in all diesen Fragen ihre Menschennähe, ihre fachliche Kompetenz und ihr moralisches Gewicht in die zivilgesellschaftliche Debatte einzubringen und gegenüber der Politik für den Abbau sozialer Ungerechtigkeiten und die Korrektur unsinniger Gesetzes- und Verwaltungsvorschriften einzutreten. Die oft genannte Aufforderung "Zurück zum Kerngeschäft" meint für die Caritas als Gerechtigkeitsbewegung zuvorderst ein tieferes Verwurzeln in den evangelischen Quellen des Glaubens.

Inmitten sozialstaatlicher Umbrüche, inmitten kirchlicher Neuorientierungsprozesse entwickeln Christinnen und Christen professionelle Hilfen für Bedürftige, bauen soziale Einrichtungen und Netzwerke auf, suchen durch öffentlich-politische Anwaltschaft, durch Gerechtigkeitsarbeit aber auch durch unternehmerisches Geschick die Situation der Schwachen zu verbessern und so missionarisch zu wirken.


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Der promovierte Pädagoge und Theologe Thomas Wagner (geb. 1958) ist seit 2006 Mitarbeiter im Oswald von Nell-Breuning-Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Sozial- und Arbeitsmarktpolitik sowie normative Fragen des Sozialstaates.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
64. Jahrgang, Heft 3, März 2010, S. 141-146
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. April 2010