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GENDER/060: "Die Transgemeinschaften in Asien sind stark" (frauen*solidarität)


frauen*solidarität - Nr. 144, 2/18

"Die Transgemeinschaften in Asien sind stark"
Zwischen einer Geschichte der anerkannten Geschlechtervielfalt und dem Kampf um volle Gleichberechtigung

Interview mit Marli Gutierrez von Denise DuRieux und Sylvia Köchl


Das Asia Pacific Transgender Network (APTN) ist eine der wichtigsten Organisationen, die in der Region die Rechte von Transmenschen und von geschlechtervielfältigen Gemeinschaften vertreten. Ende 2017 hat APTN den Report "Legal Gender Recognition. A Multi-Country Legal and Policy Review in Asia" veröffentlicht, für den die gesetzliche und politische Situation von Transmenschen in neun Ländern (Bangladesch, China, Indien, Indonesien, Malaysia, Nepal, Pakistan, Philippinen und Thailand) verglichen wurde.(1) Ein E-Mail-Interview mit APTN-Sprecherin Marli Gutierrez.


frauen*solidarität: Das Asia Pacific Transgender Network (APTN) wurde von Transgender-Frauen* gegründet. Was war der Anlass, und wie hat sich das Netzwerk seither weiterentwickelt?

Marli Gutierrez: Ja, APTN wurde 2009 von 15 Transgender-Frauen* aus zehn verschiedenen Ländern Asiens und des Pazifikraums gegründet und hat seinen Sitz seither hier in Bangkok. Damals war der Diskurs um Transpersonen hauptsächlich von HIV geprägt, und dadurch gerieten Transfrauen quasi in einen Topf mit homosexuellen Männern*, und Transmänner wurden überhaupt völlig übersehen. Die Transgender-Frauen* entschlossen sich deshalb zur Gründung von APTN, einem eigenen Transgender-Netzwerk, um für die Gesundheits- und sozialen Rechte von Transgender-Frauen* zu kämpfen. Die Gruppe arbeitete von Anfang an mit einem intersektionellen Ansatz, indem sie Menschen aus ganz Asien und dem Pazifikraum einband, ebenso wie Sexarbeiter_innen und Angehörige unterschiedlicher Religionen, Kulturen und Klassenzugehörigkeiten.

In der ganzen Welt, und speziell in Asien und dem Pazifikraum, werden die Erfahrungen von Transmännern übersehen, ihre Stimmen nicht gehört, und die Erforschung der Gesundheitsbedürfnisse von Transmännern existiert praktisch nicht. 2010 hat APTN seine Statuten geändert, um Transgender-Männer* dezidiert im Vorstand und als Mitglieder* besser inkludieren zu können, denn die Geschlechtervielfalt innerhalb der Transgender-Gemeinschaft sollte sichtbarer werden. Das ist uns gelungen: Seither sind auch Transmänner in die Diskussionen rund um unsere politischen Positionen und in die Entscheidung über unsere Agenda involviert.


frauen*solidarität: Im aktuellen Report des APTN steht zu lesen: "In manchen Ländern und Kulturen gibt es eine breitere Anerkennung für Transmenschen. Das 'dritte Geschlecht' hat eine lange Tradition in Asien, speziell in Südasien." Profitieren dort ansässige Transmenschen automatisch von dieser Tradition und Geschichte?

Marli Gutierrez: In Asien gibt es in vielen Regionen eine historische, kulturelle und religiös anerkannte Geschlechtervielfalt. Das soll nicht heißen, dass Transidentitäten nicht auch an Orten existierten, an denen es keine Aufzeichnungen der Geschichte und Kultur von Transgender-Personen gibt, sondern eher, dass diese Identitäten wahrscheinlich unterdrückt und in der Geschichtsschreibung ausradiert wurden.

In Indien beispielsweise sind es die Hijra, die seit jeher einen Eckpfeiler der indischen Religion und Kultur bilden, weil sie eigene Mythologien und Gemeinschaften ausprägten. Aber die britische Kolonialmacht verabschiedete 1872 ein Gesetz, das die Hijra kriminalisierte. Sie mussten jederzeit und überall mit ihrer Verhaftung rechnen. Nach der Unabhängigkeit Indiens 1947 brauchte es noch einmal 55 Jahre, bis das "dritte Geschlecht" - wieder - anerkannt wurde und das indische Höchstgericht feststellte, dass "es das Recht aller Menschen ist, ihr Geschlecht (Gender) selbst zu wählen".

In ganz Südasien gibt es diverse historische Entwicklungen, in denen koloniale Normierungen zur Unterdrückung und Kriminalisierung von Transgemeinschaften eine Rolle spielten. Und diese Gesetze wirken sich bis heute auf die Transgemeinschaften aus; vor allem dort, wo institutionelle Barrieren und Gesetze Transgender-Menschen am Zugang zu zentralen Dienstleistungen (Ausweise, Medizin, Arbeitslosenschutz etc.) und an der vollen Partizipation in der Gesellschaft hindern.

Ein Kernaspekt der Arbeit des APTN ist es deshalb, in Asien und dem pazifischen Raum die verschiedenen Transgemeinschaften und die Gemeinschaften, in denen Geschlechtervielfalt gelebt wird, miteinander in Verbindung zu bringen. Es existieren hier in Asien zwar viele verschiedene historische, politische und kulturelle Hintergründe, auf denen wir aufbauen können, aber der Austausch zwischen Aktivist*innen und Transbewegungen - auch auf globaler Ebene - ist essenziell, um voneinander zu lernen und voranzukommen.


frauen*solidarität: Was ist nach Ansicht des APTN wichtiger: die Möglichkeit eines dritten Geschlechts im Ausweis oder überhaupt keine Angabe von Geschlecht auf offiziellen Dokumenten?

Marli Gutierrez: Innerhalb der verschiedenen Transgemeinschaften in den Regionen Asiens gibt es auf diese Frage viele Antworten. Wir unterstützen gemeinschafts- und kontextspezifische Lösungen, die auf geschlechtliche Selbstermächtigung und die Inklusion verschiedenster Identitäten abzielen. Gemeinsam ist den Gemeinschaften in ganz Asien das drängende Bedürfnis nach Gesetzesnovellen, die die Veränderung des Geschlechts erlauben würden, damit sich die (geschlechtliche) Diversität der Bevölkerung im Recht widerspiegelt.

Alle derzeit existierenden politischen Vorgaben zur Geschlechtsveränderung in asiatischen Ländern sehen vor, dass zuerst einmal die Geschlechtsidentität "bestätigt" werden muss, und zwar vor einer Änderung des Geschlechts - ob dann durch chirurgische Eingriffe oder nicht -, indem die Familie zustimmt, eine ärztliche oder andere Form von Bewilligung durch Dritte vorliegt, um den Transgender-Status zu "beweisen". Ausweisdokumente zu haben, die eine andere Geschlechtsidentität behaupten als jene, in der gelebt wird, bedeutet für die einzelnen Transgender-Menschen, dass eine Barriere existiert zwischen ihnen und der Außenwelt, mit der sie nicht in der Weise interagieren können, wie sie es wollen. Diese Barrieren setzen Transgender- und nicht genderkonforme Menschen einem erhöhten Risiko aus, in wirtschaftlich und medizinisch prekäre Situationen zu geraten. Viele Länder in Asien und dem pazifischen Raum haben eigene Gesetze, die auf die Transgender-Bevölkerungen abzielen und es beispielsweise verbieten, Ausweispapiere zu ändern, oder sie schreiben einen Dresscode vor oder verbieten "Cross-Dressing" und "Verkleiden".


frauen*solidarität: Gibt es auch Best-Practise-Beispiele von Gesetzen, politischen Maßnahmen, Gerichtsentscheidungen und so weiter, die positiv auf das Leben von Transmenschen wirken?

Marli Gutierrez: An eine Best Practise nähern wir uns erst an, und zwar mit dem Grundsatz: Eine Person soll ihre Geschlechtszugehörigkeit selbst definieren dürfen und soll Autonomie über ihren Körper besitzen - das bedeutet auch, dass sich niemand gezwungen sehen darf, medizinischen Behandlungen zuzustimmen, nur um zu den Geschlechterbildern einer Mehrheitsgesellschaft zu passen. Unsere Organisation hat es sich zur Aufgabe gemacht, so auf Gesetzgebung und Politik einzuwirken, dass die Menschenrechte ebenso wie die Gleichbehandlung von Transmenschen in Asien sichergestellt werden.

In vielen Regionen Asiens hat es bemerkenswerten Fortschritt gegeben dank engagierter Transcommunities und ihren Verbündeten. Hier ein paar Beispiele:
Pakistan: Transgender Persons (Protection of Rights) Bill 2017 - ein aktueller Gesetzesvorschlag zum Schutz der Rechte von Transgender-Personen inklusive dem Recht auf Anerkennung jenes Geschlechts, das der Selbstwahrnehmung entspricht. Das hieße, Transgender-Personen müssten nicht vor einer medizinischen Kommission erscheinen, die über ihr Geschlecht entscheidet.
Indien: National Legal Services Authority v. Union of India 2014 - Rechtsentscheid des Indischen Höchstgerichts zur verbindlichen Anerkennung eines dritten Geschlechts. Das war ein Sieg der Aktivist*innen, u. a. von Frauen*- und Hijra-Organisationen. Leider gibt es seither aber eine rückschrittliche Gesetzgebung im indischen Parlament.
Die Thai TGA (Thai_Transgender_Alliance) verzeichnet Fortschritte hinsichtlich der thailändischen Wehrpflicht.
Singapur eröffnete 2017 eine eigens für transspezifische Bedürfnisse ausgerichtete Station in einem öffentlichen psychiatrischen Krankenhaus.
In Nepal gibt es die gesetzlich vorgesehene Option eines dritten Geschlechts ("O") in Ausweisdokumenten.


frauen*solidarität: Im Report heißt es, die Pathologisierung von geschlechtlicher Vielfalt, also die Wahrnehmung davon als "Krankheit", sei ein relativ neues Phänomen in Asien und dem Pazifikraum. Wie ist es dazu gekommen?

Marli Gutierrez: Ab Mitte des 20. Jahrhunderts wurden Transgender-Personen im globalen Norden zunehmend öffentlich wahrgenommen, wobei es aber hauptsächlich um den Zugang zur Gesundheitsversorgung und chirurgischen Eingriffen ging. 1965 veröffentlichte die ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems), die ja die weltweiten Standards der medizinischen Diagnosen setzt und Krankheiten klassifiziert, erstmals ein Kapitel rund um die medizinische Behandlung von Transmenschen. Das führte nach und nach zu Gesetzen, die das Leben in Transidentitäten mit medizinischen Regulierungen verbanden - insgesamt wurden in vielen Ländern der Welt pseudowissenschaftliche Quellen herangezogen, um die Beschneidung der Rechte von LGBT-Menschen zu rechtfertigen.

In fast ganz Asien und dem Pazifikraum müssen sich Transpersonen heutzutage eine psychische Störung attestieren lassen, um geschlechterbezogene medizinische Betreuung zu erhalten und juristisch anerkannt zu werden. Das nennen wir Pathologisierung, und das trägt sehr stark zu Stigmatisierung, polizeilichen Überwachungsmaßnahmen und Kriminalisierung bei. Die Pathologisierung, gepaart mit konkreter Diskriminierung in den zentralen Lebensbereichen, wie Arbeit, Wohnen und Gesundheitsversorgung, birgt ein großes Risiko, sozialen und ökonomischen Ungerechtigkeiten ausgesetzt zu werden.


frauen*solidarität: Nach der Erfahrung von APTN: Was sind erfolgversprechende Strategien, um politischen Einfluss zu gewinnen?

Marli Gutierrez: Die Transorganisationen und -gemeinschaften in Asien sind stark und haben schon enorme Erfolge gefeiert, dennoch: Wegen der institutionellen Barrieren, vor denen viele Transpersonen stehen, ist es für sie sehr schwer, in politische Entscheidungspositionen zu kommen. Doch es sind vor allem Allianzen und Vernetzungen mit größeren, internationalen Organisationen, die über Einfluss und ausreichende (auch finanzielle) Kapazitäten verfügen, die viel dazu beigetragen haben, die Menschenrechte und den transinklusiven Dialog voranzubringen.


Marli Gutierrez ist seit Anfang 2017 Kommunikationsverantwortliche bei APTN. Davor arbeitete sie in den Bereichen Gesundheitspolitik (speziell für LGBTQ) und Menschenrechte bei mehreren US-amerikanischen Organisationen. Sie hat Universitätsabschlüsse in Politikwissenschaft und Public Health. In ihrer APTN-E-Mail-Signatur fragt sie: "She/her, they/them. What pronouns do you use?"

WEBTIPPS:
www.weareaptn.org
www.facebook.com/WeAreAPTN


Anmerkung:
(1) www.weareaptn.org/wp-content/uploads/2018/02/rbap-hhd-2017-legal-gender-recognition-5.pdf

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Quelle:
Frauen*solidarität Nr. 144, 2/2018, S. 18-20
Text: © 2018 by Frauensolidarität / Denise DuRieux und Sylvia Köchl
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - feministisch-entwicklungspolitische
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. September 2018

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