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FRAUEN/683: Was tun, wenn Frauen* flüchten? (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 140, 2/17

Was tun, wenn Frauen* flüchten?

Flucht und Solidarität im postkolonialen Zeitalter

María do Mar Castro Varela


Wie wird Geschlecht historisch hergestellt, und welche Funktionen nehmen koloniale Diskurse in Flucht- und Migrationsdebatten ein? María do Mar Castro Varela trifft keine Aussagen zu "Frauen" auf der Flucht, noch wiederholt sie Beschreibungen derselben. Ihr erscheint es notwendig, die stereotypen Diskurse zu Frauen* aus dem globalen Süden ebenso wie die Diskurse zu geflüchteten Frauen* in den Fokus zu rücken und somit Flucht in einer postkolonialen Perspektive darzustellen.


2017 zu "Flucht und Gender" zu schreiben, ist nicht ganz so einfach. Sowohl "Gender" als auch "Flucht" sind sperrige Konzepte. Viele glauben noch immer, dass "Gender" ein Fremdwort ist, welches sich mit "Frau" übersetzen lässt. De facto handelt es sich um einen komplexen Begriff, der u. a. einen Angriff auf die Idee zweier von einander abgrenzbarer Geschlechter (männlich/weiblich) darstellt. Es ist also nicht mehr ganz einfach möglich, von "Frauen auf der Flucht" zu sprechen. Es reicht auch nicht aus, zusätzlich "Trans* auf der Flucht" in die Betrachtung zu integrieren. Vielmehr geht es in der poststrukturalistischen Perspektive darum, die Produktion von "Gender" unter spezifischen Bedingungen und in unterschiedlichen Kontexten zu analysieren.

Der Begriff "Flucht" wurde ebenfalls einer gründlichen Analyse unterzogen, so dass klar wurde, dass nicht nur die Gründe für eine Flucht sehr divers sein können, sondern auch die klare Trennung zwischen Migration und Flucht illusorisch ist. Dieser dekonstruktive Zugang eröffnet einerseits Möglichkeiten, er erschwert aber gleichzeitig das politisch-pragmatische Sprechen.


Dämonisierung und Viktimisierung

Das Bild der "geflüchteten Frau" ist durch eine doppelte Viktimisierung markiert. Zum einen wird von der Mehrheit eine Frau* imaginiert, die als Opfer ihrer Kultur betrachtet wird. Zum anderen wird unterstellt, dass Migration und Flucht nur eine leidvolle Erfahrung sein können. Diese doppelte Viktimisierung ist funktional. Sie stellt diskursiv ein wichtiges Legitimationsnarrativ bereit, welches die notwendige und legitime Vorherrschaft Europas phantasieren hilft. Bekanntlich war dies eine wichtige koloniale Strategie. Die europäische Imagination der "geflüchteten Frau" verquickt sich hier mit der Figur "der ganz anderen". Es ist dies eine Subjektposition, die distanziert erscheint und mit der sich Nähe vor allem über Mitleid oder Befremden herstellen lässt.

Die "geflüchtete Frau" wird bemitleidet, weil sie vermeintlich nicht über dieselben Privilegien verfügt wie die Frau in Europa: Sie ist nicht emanzipiert; sie ist nicht frei; sie kann nicht über ihren Körper und Geist verfügen - so die mehrheitliche Vorstellung. In dem Moment, in dem sich Mitleid einspielt, wird nun die angenommene Überlegenheit der weißen, westlichen Frau stabilisiert. Im Gegensatz dazu kann sie sich als emanzipiert, frei und autonom repräsentieren.

Es ist wichtig zu verstehen, dass unsere Handlungen - auch unsere politischen Praxen - nicht unabhängig von den historisch gewordenen gesellschaftlichen Verhältnissen und den Positionen, die wir in diesen besetzen, gedacht werden können. Niemand kann sich selbst als Akteur_in der gewaltvollen globalen Bedingungen ausradieren. Kritik ohne Selbstkritik ist risikoreich.


Transnationaler Feminismus?

Es gibt an dieser Stelle eine Menge, was wir aus den feministischen und marxistischen Debatten der letzten Jahrzehnte lernen können - wie z. B. die kontrovers diskutierte Rolle des transnationalen Feminismus. Befürworter_innen desselben, wie etwa Chandra Talpade Mohanty, betonen, dass das wachsende internationale Netzwerk zivilgesellschaftlicher Akteur_innen eine zunehmende Beteiligung von Frauen des globalen Südens an globalen Politiken ermöglichte. Kritiker_innen dagegen argumentieren, dass im Falle einer Verbindung von lokalen Kämpfen mit den Anliegen der globalen Frauenbewegung letztlich nur Elite-Feminist_innen im globalen Süden und Norden profitieren.

Seit der Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 wird sowohl die Komplizenschaft der transnationalen feministischen Bewegung mit dem Imperialismus als auch das Potenzial eines grenzüberschreitenden Feminismus diskutiert. Wobei weitestgehend Einigkeit darüber besteht, dass es dringend einer Dekolonisierung des Feminismus bedarf. Dies würde allerdings beinhalten, dass Feminist_innen mit einem transnationalen Bewusstsein ihre mit Komplizenschaft verhedderte Handlungsmacht anerkennen. Das Verhältnis zwischen Globalisierung und Postkolonialismus bleibt ambivalent und widersprüchlich. Einfache Lösungen sind nicht zu haben.


Der trickreiche Kolonialismus

Dies macht auch Solidarität zu einer trickreichen Praxis. Das bedeutet, dass Solidarität nicht ohne Zweifeln zu haben ist. Weil die Figur der geflüchteten Frau auf einer kolonialen Konstruktion beruht, können wir nicht einfach Solidarität zeigen. Wir müssen das "gute Gefühl", welches sich dabei einstellt, wenn wir denen helfen, die auch aufgrund einer jahrhundertelangen europäischen Gewaltgeschichte unserer Hilfe bedürfen, als unerträglich und beschämend empfinden lernen. Es ist schließlich nur möglich, weil die Gewalt, die sich von Europa aus entfaltete, Europäer_innen nun in die Situation versetzt, sich als die "Guten" zu repräsentieren: als diejenigen, die Demokratie, Emanzipation, Freiheit und die Menschenrechte exportieren.

Die angebliche "Willkommenskultur", die insbesondere in Deutschland nach wie vor zelebriert wird, ist eine kraftvolle Metapher für das trickreiche Erbe des Kolonialismus. Ohne die tatsächliche Hilfsbereitschaft so vieler auch sich nicht politisch positionierenden Menschen, die im vergangenen Sommer und darüber hinaus ihre Zeit und Energie gegeben haben, um an den Bahnhöfen und Grenzen Leid zu lindern, wären die Bilder, die wir alle über die Medien empfangen haben, sicher noch entsetzlicher ausgefallen. Gleichzeitig wurde damit ein Diskurs stabilisiert, der Deutschland als humanistische Akteur_in und die Dominanzbevölkerung als diejenige, die geradezu notgedrungen die Verantwortung hat, sich solidarisch zu zeigen, rekalibriert. Hingegen verbleibt in dieser Dynamik die andere Frau weiterhin in der Position der zu Dankbarkeit Verpflichteten.


Dominante Bilder irritieren

Es bleibt politisch notwendig, die dominanten Bilder zu Flucht und die Repräsentationen Geflüchteter in Frage zu stellen. Als Europäer_innen stehen wir in der Verantwortung und Pflicht zu helfen, aber wir können und müssen dieses Helfen immer als eingebettet in Macht- und Herrschaftsstrukturen betrachten.

In ihrem Aufsatz "Righting Wrongs" nimmt Spivak (2004) die Menschenrechtspolitik unter die Lupe. Zu Recht und nachvollziehbar konstatiert sie, dass diese zu einer Einteilung der Welt in zwei Räume führt. Auf der einen Seite sind jene, die die Rechte verteilen (globaler Norden), und auf der anderen jene, die scheinbar nicht dazu in der Lage sind (globaler Süden). Zum Ausdruck kommen damit die zur Schau gestellte eigene Überlegenheit, die die Länder des globalen Nordens glauben macht, sie seien unweigerlich dazu verpflichtet, die Menschenrechtsverletzungen im globalen Süden zu kritisieren und entsprechend über diese zu Gericht zu sitzen.

Dass der Westen sich unhinterfragt berufen fühlt, das Unrecht im globalen Süden anzuklagen - ohne dabei das eigene aktive Beteiligtsein an der Herstellung dieses Unrechts zu skandalisieren -, stellt eine erstaunliche Umkehrung der Geschichte dar. Schließlich war es Europa, das Territorien annektierte, Rohstoffe ausbeutete und die Bevölkerungen der kolonisierten Länder über Jahrhunderte unterwarf. Es ist insoweit politisch klug, die historische Amnesie des Westens zu thematisieren - eine Geschichtsvergessenheit, die uns im globalen Norden weiterhin in dem Glauben lässt, wir seien moralisch dazu verpflichtet, den Unterdrückten in den postkolonialen Räumen zu Hilfe zu eilen. Eine unhinterfragte Solidarität mit den geflüchteten Frauen* ist nicht nur Ausdruck dieser Amnesie, sondern stabilisiert diese auch.

Aus diesen Gründen plädiere ich für eine komplexe und historisch profunde Analyse der globalen Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die eine kontrapunktische Solidarität möglich macht.


Literaturtipps:
- Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita (2015): Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. 2. komplett überarbeitete und ergänzte Auflage. Bielefeld: transcript.
- Castro Varela, María do Mar/Heinemann, Alisha M. B. (2016): "Mitleid, Solidarität und Paternalismus. Zur Rolle von Affekten in der politisch-kulturellen Arbeit", in: Maren Ziese/Caroline Gritschke (Hg.), Geflüchtete und Kulturelle Bildung. Formate und Konzepte für ein neues Praxisfeld, Bielefeld: transcript, S. 51-66.
- Spivak, Gayatri Chakravorty (1999): A Critique of Postcolonial Reason. Towards a History of the Vanishing Present, Calcutta/New Delhi: Seagull.
- Spivak, Gayatri Chakravorty (2004): "Righting Wrongs". In: The South Atlantic Quarterly 103 (2/3), S. 523-581.

Zur Autorin:
María do Mar Castro Varela ist Professorin an der Alice Salomon Hochschule in Berlin für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Gender und Queer Studies.

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 140, 2/2017, S. 16-17
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
Sensengasse 3, A-1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juli 2017

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