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FRAUEN/680: Brasilien - Der letzte Aufschrei des Patriarchats (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 139, 1/17

Der letzte Aufschrei des Patriarchats

Machismo, Misogynie und Jesus - ist Brasiliens Demokratie am Ende?

von Silvia Jura


Brasilien ist ein gefährliches Land, für Frauen. Alle elf Minuten wird eine Frau vergewaltigt, alle zwei Stunden eine Frau ermordet. Die Präsidentin wird ohne legitime Gründe abgesetzt. Die rechte Regierung beruft eine radikale Abtreibungsgegnerin zur Frauensekretärin, der Polizeistaat wird gestärkt, die Austeritätspolitik hungert das Land aus. Doch es heißt: Machos, aufgepasst, bald ist ganz Lateinamerika in Frauenhand!


Mitten im Staatsstreich, als Hunderttausende auf die Straßen gingen, um für ihre Dilma querida (geliebte Dilma) zu kämpfen, während die Medien das Ende der Regierung Dilma Roussefs forderten, publizierte das Magazin Veja eine Titelstory zur zukünftigen First Lady Brasiliens: Marcela Temer. Mit dem Titel "Schön, behütet und daheim" wurde das neue Frauenbild Brasiliens angekündigt.

Mehr hatte es nicht gebraucht. Binnen Stunden nach der Publikation überschwemmte ein Shitstorm an Fotos, Selbstporträts, Karikaturen, Texten, Slogans von den "schönen, behüteten Hausfrauen" die sozialen Medien.


Der Putsch der Oligarchen gegen Dilma Roussef

Der parlamentarisch und juridisch gestützte Staatsstreich ging durch. Gleich zum Einstand zeigte der brasilianische Kongress sein patriarchales, Frauen verachtendes Gesicht und willigte in die Eröffnung des Amtsenthebungsverfahrens gegen die erste weibliche Präsidentin Brasiliens ein. Von April bis August 2016 wurde Dilma Roussef öffentlich diffamiert, beleidigt, angeklagt. Die 68-jährige Politikerin, die schon in den 1970er-Jahren gegen die Militärdiktatur gekämpft hatte und unter dieser gefangen und gefoltert worden war, musste noch einmal eine wahre Hexenjagd durchstehen, die in ihrer Absetzung am 31. August 2016 gipfelte.

Die Eliten des Landes, mit Michel Temer als neuen Präsidenten an der Spitze, waren fest entschlossen, der sozialdemokratischen Ära in Brasilien ein Ende zu setzen. Die sofort eingeführte rücksichtslose Austeritätspolitik bedroht die Stabilität des Landes. Die neu bestellte Frauensekretärin - ohne Ministerium -, Fátima Lúcia Pelaes, ist bekannt als radikale Abtreibungsgegnerin, sogar im Falle von Vergewaltigung. Sie kommt aus der Assembleia de Deus, einer konservativen evangelikalen Missionskirche, und ist Teil der Großgrundbesitzer_innen-Fraktion im Kongress. Sie vertritt machistische und patriarchale Positionen und ist eine der Wortführerinnen der Bewegung "Verteidigung des Lebens und der traditionellen Familie".


Die Restauration des Patriarchats

Doch genau dieses christlich geprägte Patriarchat, das Kolonisation, Sklaverei und den Militärputsch von 1964 getragen hat, ist die Grundlage von Misogynie, Lesbophobie und sexueller Gewalt in Brasilien.

Die Regierung Temer nützt sämtliche Institutionen des Staates, um die Restauration der patriarchalen Klassengesellschaft wieder zu etablieren und die eigene Klientel - die alten Oligarchien und Politikerkasten Brasiliens - zu nähren. Unterstützung erfahren sie durch die große Gruppe der Evangelikalen (22 % der Gesamtbevölkerung), die frauenfeindliche und autoritäre Maßnahmen befürworten.


Sexuelle Gewalt als Bestrafung

Im Juni 2016 wurde in Rio de Janeiro ein ohnmächtiges 16-jähriges Mädchen von 33 Männern vergewaltigt. Brasilien war schockiert, doch gleich stand die Schuldfrage im Mittelpunkt der Diskussionen. Sie könnte doch eingewilligt haben, ihr Drogenkonsum, ihr "lockeres" Leben standen im Vordergrund.

In Campinas wurden in der Silvesternacht neun Frauen, ein Kind und zwei Männer ermordet. Der Mörder hinterließ ein Schreiben, worin er seine Tat begründete: "... verhurte Frauen und ihre Familien müssen sterben, weil sie sich vermehren ... und vom Gesetz Vadia da Penha [1] profitieren."

Das Gesetz Maria da Penha, eine der großen Errungenschaften der Frauenbewegung, sieht eigene Frauenkommissariate und Gerichte vor und stellt häusliche Gewalt und Femizide unter Strafe. Gemeinsam mit dem Gesetz, dessen Umsetzung wohl immer schon schwierig war, sind aber unter Dilma Roussef viele begleitende Bildungsmaßnahmen umgesetzt worden und gezieltes Frauenempowerment. So wurde die Familienbeihilfe zu 90 % an Frauen ausgezahlt, um deren ökonomische Unabhängigkeit zu erleichtern. Doch unter Temer wurde als eine der ersten Maßnahmen die Familienbeihilfe nicht mehr erhöht und der Empfänger_innenkreis extrem verkleinert.

Die Regierung Temer dreht die Politik wieder um: Auflösung des Frauen- und Menschenrechtsministeriums, Einfrieren der Ausgaben für Gesundheit und Bildung für die nächsten 20 Jahre, Massenentlassungen und Reform des Pensionswesens, welche das Pensionsalter unerreichbar scheinen lässt - 55 Arbeitsjahre oder mindestens 65 Lebensjahre.

Begleitet von rigider Sexualmoral, pornografischen und sexistischen Darstellungen der Frauen im öffentlichen Leben, bestimmt Machismo alter Prägung die Gesellschaft. Das Patriarchat blüht unter den neuen politischen Verhältnissen wieder auf. Vergewaltigung und Gewalt gegen Frauen erfahren gesellschaftliche Anerkennung als Strafe für die unbeugsamen und unmoralischen Frauen.


Frauen bewegen die Gesellschaft

Frauenbewegungen sind ein wichtiger Faktor im Widerstand gegen die Putschist_innen-Regierung. Und sie machen Bewusstseinsarbeit. Eine breite Vernetzung auf nationaler Ebene ist die Basis der Marcha Mundial das Mulheres no Brasil, des Weltmarsches der Frauen, die seit 2013 in Brasilien landesweit aktiv sind. Sie sind eng mit anderen sozialen Bewegungen vernetzt, wie dem Povo Sem Medo (Volk ohne Angst), das gegen die derzeitige Regierung mobilisiert. Im ganzen Land sind Komitees aktiv.

2015 marschierten die Schwarzen Frauen nach Brasilia - 50.000 besetzten den Eingang zum Kongress -, um gegen Rassismus, Sexismus und für soziale Inklusion einzutreten. Stark vertreten waren die Schwarzen Frauen Bahias, die eine gewichtige Stimme im Bundesstaat darstellen. Auch gegen die Amtsenthebung von Dilma Rouseff kamen 10.000 Frauen in Brasiliens Hauptstadt.

Die ausufernde Gewalt, die Vergewaltigungen und Morde lösen spontane Solidaritätskundgebungen aus, die sich schnell im Land verbreiten. In Anlehnung an die argentinische Frauenbewegung ist der Slogan " Nem uma a menos!" - gegen das Beschneiden der Frauenrechte, der Arbeitsrechte und der sozialen Errungenschaften in Brasilien.

Ebenso ist die Präsenz der Frauenbewegung im Internet stark. Öffentliche Räume - wie die Zeitschrift Folha de São Pãolo - werden erobert. Es entstanden unzählige feministische Webseiten, und Kampagnen werden ins Leben gerufen.

Besonders erfolgreich sind sicherlich #AgoraÉqueSãoElas (#JetztSindSieEs), oder #primeiroAssedio (erster sexueller Übergriff), die eine sehr hohe virale Verbreitung erfuhren. Die Frauenbewegung stellt sich mit ihrem breiten Spektrum an sozialen und politischen Forderungen an die Spitze der sozialen Bewegungen.

Brasiliens Zivilbevölkerung steht nach wie vor unter Schock. Die Repressionen durch staatliche Institutionen haben einen zeitweiligen Stillstand hervorgerufen. Aber die Zukunftsperspektive in Lateinamerika ist weiblich!


Zur Autorin:
Silvia Jura ist Kultur- und Sozialanthropologin, sie lebt abwechselnd in Wien und Salvador/Bahia und arbeitet im Kulturbereich und als freie Journalistin.
www.silvias.net, www.globalista.net, www.casamatria.net


Anmerkung:
[1] Vadia bedeutet Herumtreiberin, Hure. Es ist eine Anlehnung an das Gesetz zum Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt Maria da Penha.

Lesetipp:
Silvia Jura (2017): "Hört auf, uns zu töten!" - Fundraisingstudie für das Netzwerk der Schwarzen Frauen Bahias zur Gewalt gegen Frauen. (www.vidc.org)

Webtipps:

Eine Dokumentation zu den Frauenbewegungen wird gerade
erstellt:

www.youtube.com/watch?v=1tuTScgRzlk

Weltmarsch der Frauen:
www.marchamundialdasmulheres.org.br

Schwarze Frauen von Bahia:
www.facebook.com/redemulheresnegrasba

Institutio da mulher negra:
www.geledes.org.br

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 139, 1/2017, S. 20-21
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
Sensengasse 3, A-1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Mai 2017

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