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FRAUEN/336: Frauenbewegungen in der Türkei (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 116, 2/11

Frauenbewegungen in der Türkei
Geschichte und Gegenwart

Von Charlotte Binder


Die Organisierung von Frauen hat bereits im Osmanischen Reich ihren Ursprung. Heute gibt es vielfältige Aktivitäten von feministischen Bewegungen im türkischen Staatsgebiet, die über ideologische Grenzen hinweg gemeinsame Themen bearbeiten und öffentliche Kritik üben, wie die Autorin im folgenden Beitrag analysiert.


Bereits in der Spätphase des Osmanischen Reiches im 19. Jahrhundert organisierten sich gebildete Frauen innerhalb der Istanbuler Eliten als Feministinnen und kämpften für die Rechte von Frauen, für deren Zugang zu Bildung und Erwerbsarbeit und für die Abschaffung der Polygamie und der Peçe, einer islamischen Gesichtsbedeckung. Sie gaben Frauenzeitschriften in verschiedenen Sprachen heraus und gründeten wohltätige, kulturelle, pädagogische sowie wirtschaftlich orientierte oder feministische Frauenorganisationen.


Staatsfeminismus

Nach der Gründung der türkischen Republik im Jahre 1923 wurden Teile der feministischen Bewegung nach und nach in den Staatsapparat integriert - oder aber verboten. Der sogenannte Staatsfeminismus etablierte sich als Teil der kemalistischen Modernisierungsbestrebungen nach westlichem Vorbild. Die Vielehe wurde verboten und Scheidungs- wie Erbrecht zwischen den Geschlechtern egalisiert. Das bereits jahrzehntelang von Feministinnen eingeforderte Wahlrecht für Frauen wurde schließlich 1934 von der Republikanischen Volkspartei CHP unter der Führung von Mustafa Kemal Atatürk eingeführt. Erst nach dem türkischen Militärputsch 1980 begannen sich Frauen aus dem urbanen und akademischen Milieu erneut in sogenannte bewusstseinsfördernden Gruppen zu organisieren, um gemeinsam feministische Literatur und Theorie zu diskutieren.


Feminismus heute

Ausgehend von den Großstädten Istanbul, Ankara und Izmir, verbreiteten sich feministische Perspektiven und Organisationen seit den 1990er Jahren auch in weiteren Städten. Heute gibt es über 250 Frauengruppen, die sich in Form von Frauenorganisationen und -vereinen, Lobbygruppen, feministischen Gruppierungen, Frauenzeitschriften und feministischen Zeitschriften, Frauenbibliotheken, Blogs oder Internetzeitungen organisieren. Im 21. Jahrhundert beziehen sich die verschiedenen Gruppen von Radikalfeministinnen, von autonomen, sozialistischen, muslimischen, kemalistischen, kurdischen oder armenischen Feministinnen oder Frauenbewegungen auf unterschiedliche Identitäten und Differenzen. Dennoch lässt sich zumindest partiell von einer Frauenbewegung sprechen, die über ideologische Grenzen hinweg gemeinsame Themen bearbeitet und öffentlich kritisiert.

Als Reaktion auf den kriegerischen Konflikt zwischen der türkischen Armee und der PKK, der Arbeiterpartei Kurdistans, im Osten der Türkei in den 1990er Jahren vertritt die feministische Bewegung heute meist eine antimilitaristische Position. Zudem wird der bereits in den 1980er Jahren eröffnete Diskurs über Geschlechterrollen und die Kritik an patriarchalen Strukturen in Familie, Wirtschaft, Armee, Staat und Religion fortgeführt. Das Privatleben wird auch von heutigen Feministinnen politisiert. Projekte und Kampagnen thematisieren zum Beispiel sexuelle Belästigung und Gewalt, sogenannte "Ehrenmorde", Familien- und Kinderplanung, Haushaltsarbeit sowie Sexualität und Abtreibung.

Auf institutioneller Ebene werden unter anderem Konzepte des Gender-Mainstreaming, der Abbau von geschlechtlicher Diskriminierung insbesondere auf dem türkischen Arbeitsmarkt sowie eine Quotenregelung für Parteien diskutiert. Seit den 1990er Jahren wurden feministische Diskurse zunehmend auch durch die Gründung von Frauenforschungsinstituten und universitären Studiengängen institutionalisiert.


Die Frauenkooperative Amargi

Die Frauenkooperative Amargi wurde 2001 in Istanbul als eine Akademie außerhalb des universitären Wissenschaftsbetriebs gegründet, um gemeinsam feministisches Wissen zu produzieren. Dabei wird Militär, Gesellschaft und Politik der Türkei aus einer feministischen Perspektive heraus kritisiert. Zu den Gründerinnen zählt die im deutschen Exil lebende Schriftstellerin, Soziologin und Antimilitaristin Pinar Selek. Amargi bedeutet in Altsumerisch "Freiheit" sowie "Rückkehr zur Mutter" und steht symbolisch für eine Friedensakademie. In dieser soll es allen Frauen und Transpersonen ermöglicht werden, in Solidarität, unabhängig von Regierung, Parteien oder staatlichen Institutionen zu leben und zu lernen.

Amargi versteht sich als eine feministische, anti-hierarchische, anti-nationalistische und anti-militaristische Organisation, die sich gegen Gewalt und Diskriminierung und für die Rechte von Frauen einsetzt. Feministische Diskurse sollen eine Alternative zu Patriarchat, Heteronormativität und weiteren gesellschaftlichen Machtverhältnissen darstellen. Zu diesem Zweck führt Amargi unter anderem eine feministische Vorlesungsreihe und Workshops zu Sexualität und körperlicher Selbstwahrnehmung durch. Amargi betreibt die einzige feministische Buchhandlung der Türkei sowie ein Café als Treffpunkt für politische Gruppen und engagiert sich in nationalen und internationalen feministischen Netzwerken. Auch das von einer mit Amargi assoziierten Gruppe seit 2006 herausgegebene Magazin "Amargi Feminist Dergisi" gibt der feministischen Theoriebildung sowie der Debatte über feministischen Aktivismus in der Türkei wichtige Impulse.


Die Frauenbewegung in der heutigen Türkei

Feministische Sozialwissenschaftlerinnen befürworten zwar die Anbindung an internationale Frauenbewegungen, warnen aber gleichzeitig davor, dass dadurch Frauen-NGOs in der Türkei in eine finanzielle Abhängigkeit von internationalen Organisationen geraten könnten.

Die feministische Bewegung in der heutigen Türkei erscheint im Verhältnis zu Diskussionen in Deutschland progressiver und radikaler. Eine Erklärung dafür könnte der bisher vergleichsweise geringe Institutionalisierungsgrad der feministischen Bewegung sein. Die sozialen Bewegungen haben sich durch ihre bisherige (finanzielle) Autonomie ihre staats- und systemkritische und damit auch radikalere Position bewahrt. Auch größere Widerstände in der Gesellschaft gegen die Emanzipation der Frau allgemein könnten als Erklärung dienen.

Feministinnen reagieren mit ihrer Kritik und ihren Strategien auf die vielfältigen gesellschaftlichen Herausforderungen in der heutigen Türkei. Sie hinterfragen nicht nur die Kategorie Gender, sondern versuchen auch weitere Machtverhältnisse und -hierarchien in ihre Kritik mit einzubeziehen. Die Anerkennung unterschiedlicher ethnischer oder sozialer Herkünfte sowie die Bedeutung von sexueller Orientierung prägen dabei vermehrt feministische Diskurse.


Web- und Lesetipps:

Der englischsprachige Weblog "Amargi Istanbul":

www.amargigroupistanbul.wordpress.com


Die offizielle türkischsprachige Homepage von Amargi:
www.amargi.org.tr

Mehr Informationen zu Pinar Selek sowie ihrem Gerichtsverfahren in der Türkei:
www.pinarselek.com

Al-Rebolz, Anil: Frauenpolitik in der Türkei im Spannungsfeld zwischen Lokalem und Transnationalem, in: GENDER. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, 1. S. 28-46 (o. O. 2011)

Koç, Günes: Ein Überblick über die Geschichte der Frauenbewegung in der Türkei vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, in: Grundrisse. (o. O. 2009)
Verfügbar unter: www.linksnet. de/de/artikel/24827. Eingesehen am 27.07.2010

Tekeli, Sirin: Die erste und die zweite Welle der Frauenbewegung in der Türkei, in: Claudia Schöning-Kalender; Ayla Neusel; Mechtild M. Jansen (Hrsg.): Feminismus, Islam, Nation. Frauenbewegungen im Maghreb, in Zentralasien und in der Türkei. S.73-93 (Frankfurt, New York 1997)


Zur Autorin:
Charlotte Binder führte während ihres sechsmonatigen Praktikums bei der Frauenkooperative Amargi Istanbul ein Forschungsprojekt zum Thema "Frauenbewegungen in der Türkei" durch (nachzulesen unter: www.amargigroupistanbul.wordpress.com). Sie lebt in Berlin.


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 116, 2/2011, S. 32-33
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
Sensengasse 3, 1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-406
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org

Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 5,- Euro;
Jahresabo: Österreich und Deutschland 20,- Euro;
andere Länder 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Oktober 2011