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FRAGEN/046: Indien jenseits der Schlagzeilen (Frauen*solidarität)


frauen*solidarität - Nr. 147, 1/19

Indien jenseits der Schlagzeilen

"Dass Indien als gewalttätiges Land gegenüber Frauen wahrgenommen wird, ist ein Problem jener, die es so wahrnehmen", stellt Urvashi Butalia im Interview klar.

von Denise Du Rieux


Urvashi Butalia wurde 1952 in der indischen Provinz Ambala geboren. Sie studierte Literatur in Delhi und London. 1984 gründete sie gemeinsam mit ihrer Kollegin Ritu Menon das erste feministische Verlagshaus in Indien, Kali for Women. Sie ist eine der prominentesten Stimmen der indischen Frauenbewegung. Im Interview erzählt sie von den Entwicklungen der indischen Frauenbewegungen und der Bedeutung von Medienvielfalt.


Denise Du Rieux (DDR): Sie haben Kali for Women 1984 mitgegründet, und neben Ihrem zivilen Engagement haben Sie später auch noch Zubaan Books gegründet. Was hat sich in dieser Zeit verändert?

Urvashi Butalia (UB): Zwischen der Gründung von Kali for Women und Zubaan Books 2003 liegen 19 Jahre - in dieser Zeit hat sich sehr viel verändert. Vor Kali for Women wurden kaum Arbeiten über Frauen publiziert. Es war gerade die Zeit, in der sich die Frauenbewegung in Indien zu organisieren begann. Auch politisch und ökonomisch hat sich einiges verändert: In den 1990ern öffnete sich Indien zunehmend dem Weltmarkt, die Medienlandschaft wandelte sich, sodass Frauen und deren Probleme mehr Gehör in der Öffentlichkeit fanden. Frauen fanden zusehends eine Stimme.


(DDR): Indien ist die weltweit größte Demokratie, das Land hat so viele Politikerinnen wie kaum ein anderer Staat, und doch wird Indien von anderen oftmals als ein Land angesehen, das mit Gewalt gegen Frauen Schlagzeilen macht.

UB: Dass Indien gegenüber Frauen als gewalttätiges Land wahrgenommen wird, ist ein Problem jener, die es so wahrnehmen. Diejenigen, die in Indien leben und arbeiten, wissen, dass die Situation weit komplexer ist. Ja, es gibt diese Gewalt gegen Frauen in Indien, gleichzeitig aber auch eine großartige Freundlichkeit und Menschlichkeit im Umgang miteinander.

Ich denke, eines der Probleme ist, dass wir dazu tendieren, Gewalt gerne "woanders" auszumachen, und sie damit im eigenen Land nicht sehen müssen. Aber Gewalt gegenüber Frauen und gegenüber jenen, die keine Macht haben, gibt es überall; sie nimmt nur andere Formen als die rein körperliche an. Schauen Sie doch in die USA - dort ist ein Präsident im Amt, der Kinder gewaltsam von ihren Eltern trennt; und eine Professorin, die einem Kandidaten für den Obersten Gerichtshof sexuelle Gewalt vorwirft, wird öffentlich verhöhnt. Schauen Sie in die Türkei und darauf, was dort mit der kurdischen Minderheit passiert.

Indien hat sicherlich seine Probleme. Es versucht einerseits, mit modernen globalen Entwicklungen mitzuhalten, andererseits ist Indien ein sehr traditionell geformtes Land. Es ist aber auch ein Land, das an der Schwelle zu großen Veränderungen steht. Verstehen Sie das nicht als Vorwand oder Rechtfertigung, um wegzusehen, keineswegs! Wir dürfen niemals wegschauen, aber gleichzeitig ist es wichtig aufzuzeigen, dass es durchaus Widerstand gibt, dass es Frauenbewegungen gibt, die diese Missstände bekämpfen und auch oft erfolgreich darin sind.


(DDR): Sie engagieren sich für die Freiheit der Presse, dieser Einsatz zeigt sich auch in Ihren eigenen Verlagshäusern. Wie wichtig ist eine vielfältige Medienlandschaft für eine Gesellschaft?

UB: Eine vielfältige Medienlandschaft, das Hochhalten der Meinungsfreiheit, die Freiheit, Kritik zu äußern, sind unerlässlich für eine Gesellschaft, ebenso wie Sicherheit und Gesundheit. Dennoch gibt es Länder, auch Indien gehört dazu, in denen genau diese Voraussetzungen nicht (für alle) gegeben sind. Und wenn eine Regierung es nicht verträgt, dass diese Missstände aufgezeigt und kritisiert werden, dann verdient sie es nicht, die Menschen in einem Land zu vertreten. Dennoch gibt es überall auf der Welt Tendenzen, die genau ein solches Klima verstärken, indem sie Oppositionelle und Menschen anderer Meinung verhaften lassen. Gerade wurden in Indien einige Intellektuelle wegen sogenannter Volksverhetzung zu Gefängnisstrafen verurteilt. Das bedeutet für alle, die andere Meinungen vertreten, einen enormen Druck.


(DDR): Über die Neuen Medien wird das Thema der "Wahrheit" immer mehr zum Zentrum der Diskussion. Aber welche Rolle können und sollen Neue Medien in der Frage um Wahrheit und Wissen spielen?

UB: Es gibt das Sprichwort "Speaking truth to power" (es meint, die Mächtigen in einem Land offen zu kritisieren und oppositionelle Meinungen zu äußern, Anm. d. Red.). Aber genau diese Aufgabe, die insbesondere den Medien zukommt, wird dadurch gehemmt, dass die Medien sich zunehmend regierungspolitisch beeinflussen lassen.


(DDR): Immer wieder wird über die "Rolle der Frau" diskutiert - aber lässt sich überhaupt von einer Rolle der Frau sprechen?

UB: Es gibt diese eine Rolle der Frau nicht, Frauen haben diverse Rollen, die ihnen angeheftet werden, gegen die sich aber auch immer mehr Frauen auflehnen. Sie hinterfragen und kritisieren diese Rollen und wollen sich ihre ganz eigenen Rollen selbst geben. Und genau diese Tendenz wird sich meines Erachtens weiter ausbreiten, Frauen werden mehr Raum und Mitgestaltungsrechte in der Gesellschaft für sich beanspruchen.


(DDR): In Indien werden so viele Religionen praktiziert wie kaum in einem Land - es gibt Sikhismus, Hinduismus, islamische und christliche Glaubensgemeinschaften. Wie beeinflusst diese enorme religiöse Pluralität Frauenbewegungen?

UB: Seit jeher ist das Verhältnis von Frauenbewegungen und Religionen ein sehr kompliziertes. Anfänglich glaubten Frauen, Religion müsse strikt von ihrem politischen feministischen Aktionismus separiert werden. Aber mit der Zeit wurde erkannt, dass das nicht funktionieren wird, denn das zivile indische Recht (Ehe-, Erbe-, Sorgerecht etc.) ist stark an das religiöse Recht gekoppelt. Außerdem vertreten wir die Meinung, dass Feminismus auch und vor allem bedeutet, Entscheidungen treffen zu können - über sich selbst, und damit auch über den eigenen Glauben.

Heute beobachten wir, dass Frauenbewegungen ganz unterschiedliche Zugänge zur Religion haben: Manche Frauen treten aus ihrer religiösen Identität heraus für mehr Frauenrechte ein, auch in den religiösen Praktiken selbst. So haben beispielsweise muslimische Aktivistinnen in Mumbai dafür gekämpft, Zugang zu einem heiligen islamischen Schrein zu bekommen, den Haji Ali Schrein, und sie haben sich diesen Zugang auch tatsächlich erkämpft. Ähnliches gelang Hindu-Frauen, die sich dafür einsetzten, dass Frauen einen Tempel betreten dürfen, der bis dahin nur Männern offen stand. Auch sie haben ihr Recht durchgesetzt. Dieses Einbeziehen der Religion und ihrer verschiedenen Glaubenssätze hat die indische Frauenbewegung letztlich auch so einzigartig gemacht!


(DDR): Sie wurden selbst in eine Familie geboren, in der sowohl Hinduismus als auch Sikhismus praktiziert wird - welche Bedeutung hat Religion heutzutage?

UB: In Indien ist Religion sehr wichtig. Meine Familie lebt nicht sehr religiös, aber für viele bedeutet Religion sehr viel. Bis vor kurzem war Religion allerdings etwas, das privat ausgelebt wurde. Auch wenn wir einige der Rituale und Traditionen für patriarchal hielten, störte es niemanden, wenn der/die Nachbar_in diese Rituale feierte, es war schließlich seine/ihre Privatsache. Aber die erstarkende rechte Hindubewegung instrumentalisierte Religion, um die Gesellschaft zu spalten und damit Wähler_innenstimmen zu gewinnen. Religion war plötzlich übermächtig geworden. Heute beobachten wir, dass rechter Fundamentalismus auf religiöse Schemata zurückgreift und diese für sich nutzt, um Menschen gegeneinander aufzubringen.


WEBTIPP:
https://zubaanbooks.com

ZUR INTERVIEWERIN:
Denise Du Rieux war Praktikantin bei der Frauen*solidarität. Sie hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und interessiert sich für Frauen*bewegungen auf der ganzen Welt.

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Quelle:
Frauen*solidarität Nr. 147, 1/2019, S. 26-27
Text: © 2019 by Frauensolidarität / von Denise Du Rieux
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - feministisch-entwicklungspolitische
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. September 2019

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