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INTERVIEW/431: Gelbe Westen - ein Klassenkonflikt ...    Willi Hajek im Gespräch (SB)


Gespräch am 6. Februar 2019 in Hamburg


Willi Hajek hat vierzehn Jahre in Paris gelebt, wo er sich seit 1968 in der radikalen Linken Frankreichs engagierte. Dann kehrte er nach Deutschland zurück, lebte und arbeitete zunächst zwölf Jahre in Bochum und anschließend in Berlin. Seit den 80er Jahren ist er in der betriebsgewerkschaftlichen Opposition aktiv wie auch im Bereich der Erwachsenenbildung und in der basisgewerkschaftlichen Bildungsarbeit tätig, engagiert im Arbeitskreis Soziale Bewegungen Ost/West, im Europäischen Netzwerk der BasisgewerkschafterInnen und bei "tie - global". Mit Jochen Gester ist er Herausgeber der Bücher "1968 - und dann?" [1], "Sechs Tage der Selbstermächtigung" über den Streik bei Opel [2] sowie Autor und Mitherausgeber von Sammelbänden zur Selbstorganisation [3], zudem publiziert er in verschiedenen linken Zeitungen und Zeitschriften wie dem express. Inzwischen lebt er seit einigen Jahren wieder in Frankreich, jedoch im Süden in der Region Marseille.

Beim Jour Fixe 172 der Hamburger Gewerkschaftslinken am 6. Februar im Curiohaus zum Thema "Die Gelbwestenbewegung - Situationsbericht, Analyse und Stimmungen aus einem Land im Aufstand" berichtete Willi Hajek von seinen Erfahrungen mit den Gilets Jaunes und nahm gemeinsam mit Marie-Dominique Vernhes (attac Hamburg, "Sand im Getriebe") eine Einschätzung von deren Charakter, Zielen, Entwicklung und aktuellem Stand vor. Im Anschluß an die Veranstaltung beantwortete er dem Schattenblick einige vertiefende Fragen.


Beim Vortrag am Tisch - Foto: © 2019 by Schattenblick

Willi Hajek
Foto: © 2019 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Aus deutscher Sicht wurde geraume Zeit höchst kontrovers diskutiert, wie die Gelbwesten einzuschätzen seien. Sahra Wagenknecht hat sehr schnell reagiert und erklärt, dies sei genau das, was sie mit der Bewegung "Aufstehen" meine. Haben diese beiden Phänomene deines Erachtens überhaupt etwas miteinander zu tun?

Willi Hajek (WH): Das ist eine relativ schwierige Frage. Ich habe bemerkt, daß die Medien sehr schnell über den angeblichen Charakter der Gelbwestenbewegung geschrieben haben, als sei eine eindeutige Zuordnung möglich. Dabei zeichneten sich die Gilets Jaunes gerade durch das überraschende Moment aus, daß niemand wußte, um was für eine Bewegung es sich handelt. Die meisten fragten sich, woher sie so plötzlich gekommen war, und nicht so sehr, welchen Charakter sie hat. Das war eine typisch deutsche Frage: Sind sie rechts, sind sie links? Dabei wird ausgeblendet, wie diese Bewegung zustande gekommen ist. Das scheint mir eine Betrachtungsweise zu sein, bei der man die eigenen Vorstellungen schon fertig im Kopf hat, bevor die Bewegung überhaupt in Erscheinung tritt. Auch eine sofort positive Bewertung wie die Sahra Wagenknechts halte ich für problematisch. Eine angemessene Sichtweise wäre doch eher zu sagen, daß sich eine Bewegung herausgebildet hat, die schwer zu fassen ist. Es geht um einen Annäherungsprozeß, aber nicht um eine Beurteilung. Also kommt es darauf an, erst einmal hinzugehen und sich ein eigenständiges Bild zu machen.

SB: Es gab Versuche von soziologischer Seite, die Herkunft der Bewegung aufzuklären und zu ermitteln, um welche Teile der Gesellschaft es sich dabei handelt. Ist das eine Herangehensweise, die zu aussagekräftigen Ergebnissen führt?

WH: Die Frage, woher die Gelbwesten kommen, kann man natürlich aus einem bestimmten soziologischen Interesse heraus beantworten. Man kann aber auch die Beweggründe für die Entstehung der Gilets Jaunes untersuchen, die natürlich den Bewegungen entspringen, die vorausgegangen sind. Das waren große Bewegungen wie die Eisenbahnerstreiks gegen die Privatisierung, aber auch andere wie die Studenten- und Schülerbewegung gegen die neuen Zulassungsverordnungen und auf der anderen Seite viele lokale Streiks, die oftmals nur in den jeweiligen Regionen bekannt sind. Das betrifft insbesondere den öffentlichen Dienst, da Macron angekündigt hat, 100.000 Funktionärsstellen zu streichen. Der öffentliche Dienst soll also drastisch abgebaut werden. Das alles trug dazu bei, daß die Gelbwestenbewegung entstehen konnte.

Am deutlichsten zeigte sich das bei den Bahnstreiks, die unter anderem dafür geführt wurden, auch nicht voll ausgelastete Strecken zu erhalten. Nach neoliberaler Macronscher Denkweise sind die Züge unrentabel, wenn sie nicht vollbesetzt verkehren, weshalb solche Verbindungen eingestellt werden. In Frankreich ist jedoch die Auffassung weit verbreitet, daß die Bahn dazu da ist, allen Menschen Verkehrsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Das gilt entsprechend auch für die Gesundheitsversorgung, weshalb sich Widerstand formiert, wenn diese Bereiche Sache des großen Geldes werden sollen. Das erlebe ich als großen Unterschied zu Deutschland, daß in Frankreich eine beträchtliche Sensibilität dafür herrscht, was es bedeutet, wenn solche sozialen Errungenschaften durchkapitalisiert werden. Deswegen spielen die Auseinandersetzungen im öffentlichen Dienst eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Gilets Jaunes.

Von großer Bedeutung war in diesem Zusammenhang auch die Rentenreform, die eine regelrechte Beleidigung dieser Menschen darstellte. Sie wurden bezichtigt, nicht solidarisch zu sein, weil sie nicht verzichten wollten, um Arbeit zu schaffen. Diese Bewegungen haben dazu beigetragen, daß so etwas wie die Gilets Jaunes entstehen konnte. Sie vertraten die Interessen vieler, die sich aber nicht durchsetzen konnten. Daraus resultierte die Überlegung, daß man wesentlich radikalere Formen finden müsse. Es handelt sich also um eine Radikalisierung des Widerstands gegen die neoliberale Regierung und deren Durchkapitalisierung aller Sektoren der Gesellschaft.

SB: In linken Kreisen wird diskutiert, ob es notwendig und zweckmäßig sei, in diese Bewegung hineinzugehen, um ihr eine antikapitalistische Stoßrichtung zu verleihen. Hältst du das für einen relevanten Ansatz?

WH: Ich würde zuerst einmal hervorheben, daß diese Bewegung von Anfang an eine bestimmte Distanz gegenüber allen Formen der Instrumentalisierung gewahrt hat, ob diese nun von rechts oder links kommen mag. Andererseits sind natürlich auch linke Aktive Teil der Gesellschaft und können als solcher mit ihren Überzeugungen sehr wohl Teil der Gelbwesten werden. Als politische Kraft einzugreifen, um die Gelbwesten zu instrumentalisieren, stößt jedoch auf großen Widerstand. Reale Unterstützung etwa gegen Übergriffe durch Polizeigewalt oder die Mittel einer Partei oder anderen Bewegung uneigennützig zur Verfügung zu stellen, ist etwas anderes. Das wäre ein anderes Verhältnis und keine instrumentelle Beziehung. Hingegen werden Vorschläge, die Gilets Jaunes auf eigene Parteilisten bei Wahlen zu nehmen, abgelehnt. Diese Haltung wurde sogar ausgebaut, je mehr sich die Bewegung strukturiert hat. Sie will niemanden haben, der für sie spricht. Die Bewegung ist davon geprägt, daß jeder Akteur wird. Es ist für Deutsche schwer zu verstehen, daß dies ein zentrales Ziel der Gelbwesten ist, die nicht Mitglieder irgendeiner linken Partei werden wollen. Der Autor, Herausgeber einer Satirezeitschrift und Politiker Francois Ruffin liest bei seinen Reden im Parlament häufig nur den Brief beispielsweise einer Krankenschwester vor, in dem sie berichtet, warum sie bei den Gilets Jaunes aktiv ist. Damit unterbricht er die politischen Rituale und macht die Nationalversammlung zu einem Ort, an dem auch kleine Leute eine Stimme haben.

SB: Ist eine derartige Herangehensweise unter den linken Intellektuellen in Frankreich weiter verbreitet?

WH: Schon im vergangenen Jahr, als an den Mai '68 erinnert wurde, gab es eine Reihe von Intellektuellen aus der 68er Generation, aber auch jüngere, Frauen wie Männer, die zu sozialen Bewegungen geforscht haben. Heute vertreten viele von ihnen ihre Position in der Gelbwestenbewegung. Es formiert sich eine neue intellektuelle Bewegung mit einigen bekannten Akteuren, die wirklich dabeigeblieben und keine Überläufer geworden sind. Andererseits gibt es diese Freunde um Daniel Cohn-Bendit, die als erklärte Anhänger Macrons gegen die Bewegung hetzen. Cohn-Bendit selbst hält sich derzeit eher zurück, wobei vor einiger Zeit sogar das Gerücht kursierte, er würde Umweltminister werden. Im September 2018 ist der damalige Umweltminister, der ursprünglich aus der Bewegung kam, zurückgetreten. Er war zuvor heftig kritisiert worden, weil sich in seiner Amtszeit kaum etwas verändert hatte. Wie er in seiner vielbeachteten Rücktrittserklärung unterstrich, könne man mit dieser Regierung keine Veränderung der Umweltpolitik herbeiführen. Wenige Tage später gab es im Internet einen Aufruf für eine Bewegung der ökologischen Revolution, der viele Leute auf die Straße brachte.

SB: Kann man in diesem Sinne von einem Übertrag der Umwelt- und Klimabewegung auf die Gelbwesten sprechen?

WH: Ja. Im Dezember gab es Demonstrationen der Gilets Jaunes und der Klimabewegung von verschiedenen Ausgangspunkten, die sich dann aber getroffen und zusammen protestiert haben. Als ein Sprecher der Regierung erklärte, es seien alles Kettenraucher und Dieselfahrer, die gegen die Erhöhung der Kraftstoffsteuer auf die Straße gingen, war das eine weitere Verleumdung. Als sei es in jedem Fall eine freie Wahl, auf ein Auto angewiesen zu sein. Die Gelbwesten führen keinen Kampf für Feinstaub, sondern um reale Lebensverhältnisse. Ohnehin waren nur zehn Prozent der geplanten Steuererhöhung für ökologische Zwecke vorgesehen, während der Rest den Staatshaushalt auffüllen sollte. Diese Verdrehungen und Lügen sind sehr vielen Menschen bewußt.

SB: Die Regierung hat darauf gesetzt, daß sich Bewegung über Weihnachten totlaufen und von selbst verschwinden würde. Das war bekanntlich nicht der Fall. Wie schätzt du die Möglichkeiten ein, eine solche Massenbewegung auf längere Sicht am Leben zu halten?

WH: Das ist schwer zu sagen, weil es von beiden Seiten abhängt. Die Dauerhaftigkeit der Bewegung hängt zum einen vom Vorgehen der Regierung ab. Wie es derzeit aussieht, könnte eine Option der Regierung sein, auf ihre Kriegswaffen zu setzen und die Bewegung niederzuhalten. Hinzu kommt die zunehmende Kriminalisierung der Gelbwesten mit scharfen Gefängnisstrafen, die von der Justiz durchgezogen werden. Denkbar wäre natürlich auch die Strategie, gewisse soziale Zugeständnisse zu machen. Wesentliche Zugeständnisse wären die Einführung einer Vermögenssteuer, die Forderungen der Rentnerinnen und Rentner nach einer Anpassung ihrer Bezüge an die Inflationsrate zu erfüllen oder den Mindestlohn zu erhöhen. Sollten derartige Zugeständnisse gemacht werden, könnte die Bewegung möglicherweise an den Punkt kommen zu sagen, wir haben bestimmte Grundforderungen durchgesetzt und werden in einer anderen Form weitermachen. Die Bewegung als solche ist jedoch nicht rückgängig zu machen. Hinzu kommt ja noch die Frage der demokratischen Rechte oder was aus den zahlreichen Verletzten und den Verurteilten wird. Es wird auf jeden Fall zu einer Amnestiebewegung und einer Klagewelle gegen den Innenminister wegen schwerer Körperverletzung kommen.

SB: Die Konfrontation zwischen Arm und Reich, dem in Aufruhr befindlichen Teil der Bevölkerung und der Regierung findet in Frankreich offenbar unmittelbarer als in Deutschland statt.

WH: In Frankreich existiert ein tiefes Empfinden von Ungleichheit, das enorm gewachsen ist. In den Betrieben streichen die Manager teilweise das 200fache des Mindestlohns ein. Wie der Historiker und frühere Präsidentenberater Emmanuel Todd sagt, sei für ihn das Gefühl von Ungleichheit und die Forderung nach Gleichheit sichtbar geworden. Das ist einer der Motoren der Bewegung: Wir sind keine Knechte! Es hat sehr viel mit diesem Gefühl der Würdelosigkeit und der Arroganz der Herrschenden, mit der imperialen und kolonialen Kultur in Frankreich zu tun, die heute sehr viel lebendiger als in Deutschland ist. Der Algerienkrieg in den 60er Jahren hat das Land tiefgreifend geprägt.

SB: Was hat dich persönlich zu den Gelbwesten geführt?

WH: Das ist ganz einfach. Wir waren schon zuvor in der Bewegung gegen die Rentenkürzungen aktiv, und in den Soligewerkschaften gab es viele Debatten, wie wir uns zu den Gelbwesten verhalten. Das verändert natürlich auch die Verhältnisse an den Orten, an denen man lebt und aktiv ist. Ich habe mich zudem auch viel mit Mobilität und den Bahngewerkschaften beschäftigt, die unter den Soligewerkschaften sehr stark sind. Ich wurde während der Streiks 2018 häufig eingeladen, weil die Regierung immer vorhielt, daß in Deutschland alles viel besser sei: Dort ist die Bahn rentabel, die Züge verkehren pünktlich - das deutsche Modell spielt in der Propaganda der Regierung eine sehr wichtige Rolle sowohl bei der Privatisierung als auch dem Modell Hartz IV. Den Druck auf die Erwerbslosen zu erhöhen, damit sie bereit sind, bestimmte Arbeiten anzunehmen - von Deutschland lernen wird stets als ein Leitmotiv vorgehalten.

SB: Macron wollte die Reform nach deutschem Vorbild in einem großen Streich durchsetzen. Steht er nun angesichts des Widerstands unter hohem Druck, da seine Regierung damit steht oder fällt?

WH: Deutschland wird im Rahmen eines medialen Konzepts stets als erfolgreiches Land und Vorbild dargestellt, während Frankreich hinterherhinke. Dieses Bewußtsein prägt die Anhängerschaft Macrons. In Deutschland sind die Gewerkschaften konform, in Frankreich versucht die Gewerkschaft CFDT, diese Kultur der Sozialpartnerschaft und Mitbestimmung durchzusetzen und mit dem Präsidenten zusammenzuarbeiten. Macron würde in der Tat am liebsten das deutsche Modell durchziehen. Die großen Medien diabolisieren Italien und erklären, wenn Macron geht, kommen die Salvinis. Seit 1995 malen französische Regierungen, gleich ob links oder rechts, die Rechtsradikalen als Teufel an die Wand. Wenn die drankommen, wird alles noch schlimmer! Doch über die neuen Medien wird längst auf eine Weise diskutiert, die eine andere Sicht gewährt. Die Linken stehen indessen vor dem Problem, eine wählbare Alternative aufzubauen.

SB: Willi, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnoten:

[1] Jochen Gester/Willi Hajek (Hg.): 1968 - und dann? Erfahrungen, Lernprozesse und Utopien von Bewegten der 68er-Revolte, Atlantik Verlag, 2002, 217 Seiten, ISBN: 392-6-52935-0

[2] Jochen Gester/Willi Hajek (Hg.): Sechs Tage der Selbstermächtigung. Der Streik bei Opel in Bochum Oktober 2004. Die Buchmacherei, Berlin 2005, 226 Seiten, 10 Euro, ISBN 3-00-0172269-6

[3] Sergio Bologna, Michael Danner, Willi Hajek u.a.: Selbstorganisation - Transformationsprozesse von Arbeit und sozialem Widerstand im neoliberalen Kapitalismus, Die Buchmacherei, Berlin 2007, 214 Seiten, ISBN: 978-3-00-021396-0

Anna Leder/Willi Hajek (Hg.): Arbeitskämpfe im Zeichen der Selbstermächtigung - Kollektive Gegenwehr in Frankreich, Deutschland, der Schweiz, Österreich und Serbien, Promedia, Wien 2011, 221 Seiten, 15,70 Euro, ISBN: 978-3-85-371333-4


Bericht zum Jour Fixe 172 über die Gelbwestenbewegung im Schattenblick unter:
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BERICHT/331: Gelbe Westen - nicht zu fassen ... (SB)
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21. Februar 2019


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