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INTERVIEW/430: Dem Karl Liebknecht haben wir's geschworen - von hinten nach vorne ...    Otto Köhler im Gespräch (SB)



Seit es Deutschland als eigenständigen Staat gibt, seit 1871, hat es die Welt unsicher gemacht. Nie in diesen eineinhalb Jahrhunderten wurde dieses Deutschland von irgendeinem Land dieser Welt überfallen, angegriffen. Der Krieg ging stets von unserem Lande aus, auch der zu Füßen des Hindukusch, in dem die Bundeswehr seit mehr als eineinhalb Jahrzehnten unentwegt Deutschland immer sicherer macht.
Otto Köhler auf der Rosa Luxemburg Konferenz [1]

In seinem Vortrag über die Bundesrepublik als "nächste imperialistische Hauptmacht" zog der Publizist und Autor Otto Köhler eine kaum gebrochene Linie von den kolonialistischen und imperialistischen Ambitionen des Deutschen Reiches, ermöglicht und verwirklicht durch den Schulterschluß der Sozialdemokratie mit Adel, Bourgeoisie und Generalität des Deutschen Reiches, über die Geburt der Weimarer Republik als "Produkt der Konterrevolution, der Groko von Hindenburg und Ebert, die durch den Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht besiegelt wurde", und die Kriegsplanungen der deutschen Generalität, die in Hitler den "Vollstrecker ihrer Pläne" fanden, bis zur Reartikulation imperialen Machtstrebens unmittelbar nach dem "Anschluss der DDR an das eigentliche und wahre Deutschland". Maßgenommen wurde an einem Papier des damaligen Generalinspekteurs der Bundeswehr, Klaus Naumann, der unter anderem die "Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des Zugangs zu strategischen Rohstoffen" als wesentliches Element deutschen "Sicherheitsinteresses" ausgewiesen hatte.

Mit der deutschen Beteiligung am Überfall der NATO auf Jugoslawien vor 20 Jahren, den ansonsten bei militärischer Aggression eher zögerlichen GenossInnen schmackhaft gemacht durch Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joseph Fischer, mündet Köhlers Reise durch 150 Jahre deutsche Geschichte - und mehr läßt sich bei aller Gaulandschen Fäkalrhetorik nicht daraus machen - in die Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin. Im Gauckschen Verantwortungsdiskurs schaltet Angela Merkel einen Gang hoch, indem sie "aus den zwei Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts" den Schluß zieht, "für unsere Überzeugungen wieder stärker einstehen, argumentieren, kämpfen, (...) im eigenen Interesse mehr Verantwortung übernehmen" [2] zu müssen. Die beträchtliche Erhöhung der Rüstungsausgaben, allseits zu vernehmende Klagen über die angeblich mangelnde Kampfkraft der Bundeswehr, der Aufmarsch deutschen Truppen im Osten der EU und die an Rußland adressierten Bedrohungsszenarien lassen wenig Spielraum bei der Frage, wie dies zu verstehen sei.

Wie stets mit spitzer Feder und feiner Ironie, falls nötig aber auch mit gröberem Strich zu Werke gehend, macht Otto Köhler unmißverständlich klar, wie wichtig es ist, großmächtige Arroganz auf den alles bewegenden Punkt barbarischer Zerstörungsabsicht zu bringen und die neuen Herren des Krieges ihrer angemaßten Zivilität zu entkleiden. Drei Forderungen stehen am Ende einer Rede, die man so wahrscheinlich nur auf dieser Konferenz vor einer viele hundert Menschen umfassenden Zuhörerschaft halten kann: Bevor "es als Symbol einer imperialen Größe dieses neualten Deutschlands eröffnet wird: Sprengung des neowilhelminischen Schlosses", "Austritt aus der NATO" und "Auflösung der Bundeswehr" [3].

Im Anschluß bot sich dem Schattenblick die Gelegenheit, Otto Köhler als Journalist mit weit über 50jähriger Berufserfahrung einige Fragen zur Entwicklung der Presse vor dem Hintergrund der Affäre um Claas Relotius zu stellen.


Am Rednerpult - Foto: © 2019 by Schattenblick

Otto Köhler
Foto: © 2019 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Köhler, Sie gehörten in den 1960er Jahren der Spiegel-Redaktion an und waren damals zusammen mit Hermann Gremliza maßgeblich an der Entstehung der Belegschaftsbeteiligung beteiligt. Worum ging es damals?

Otto Köhler (OK): Das Belegschaftsmodell kam eigentlich zustande, um uns die Forderung nach mehr Mitbestimmung abzukaufen, und das ist hervorragend gelungen. Die Spiegel-Redakteure wurden domestiziert und können sich eigentlich bei uns bedanken, daß wir ihnen einen gesicherten Lebensabend verschafft haben.

SB: Sie und Gremliza sind damals aus der Redaktion ausgeschieden.

OK: Ausgeschieden worden. Das ist ein Unterschied. Freiwillig geht man nicht aus einer solchen Position.

SB: Um ihr Überleben zu sichern, sind Journalisten häufig Zwängen ausgesetzt, die auch eine Art innere Schere zur Folge haben können. Ließe sich dieser Befund auch auf den Spiegel anwenden?

OK: Ja, da ist der Spiegel angekommen.

SB: Der Spiegel hatte einmal einen guten Ruf. Wie lange war dieser Ruf aus Ihrer Sicht gerechtfertigt?

OK: Nie, aber das habe ich erst sehr viel später gemerkt, und zwar 1992, als Augstein den Mund zu voll genommen hat, indem er sagte, der Spiegel sei stets ein Organ der Aufklärung gewesen. Ich hatte daraufhin in den ersten Spiegelbänden nachgeforscht und entdeckt, daß er das tatsächlich war, nämlich der nachrichtendienstlichen Aufklärung. Soundsoviele Spiegel-Redakteure waren bei verschiedenen Diensten tätig. Besonders schlimm war Horst Mahnke, ein Mann, der dann später zum Springer-Verlag ging und dort persönlicher Sicherheitsbeauftragter Springers wurde. Er war Adjutant von Franz Six gewesen, dem Chef einer der Sonderkommandos im Osten, der etliche Menschen umbringen ließ. Bei diesen Aktionen war Mahnke dabeigewesen. Später wurde er vom Spiegel aufgenommen, nachdem er mit Georg Wolff, einem seiner Kollegen vom Sicherheitsdienst der SS, eine große Serie über Kaffeeschmuggel schrieb. Es stellte sich heraus, daß das alles Juden waren, aber dennoch traute sich keiner, ihm etwas entgegenzusetzen. Es war eine widerliche, antisemitische Serie, die dem Spiegel eine Klage einbrachte, über die sich Augstein nur höhnisch in dem Sinne äußerte, sollen sie doch. Das fand ich alles 1992 heraus, und ich muß mir schuld geben, daß ich in der Zeit, als ich beim Spiegel war, nicht in den mir damals noch zugänglichen Archiven besser nachgeforscht habe, was in den ersten Jahren des Spiegels alles an nazistischen Nachfolgen möglich war. Das bereue ich.

SB: Was sagen Sie zu Karrieren, die andersherum verlaufen und von radikal-links bis in die Chefredakteurposition der Welt oder anderer Springerblätter führen?

OK: Dazu ist nichts zu sagen, das ist ganz normal.

SB: Der Relotius-Fall wird als schwerer Bruch mit journalistischen Prinzipien behandelt. Nun muß die Aufdeckung eines solchen Falles nicht gleichbedeutend damit sein, daß dieser Sachverhalt nur an dieser Stelle auftritt. Ist es häufiger Praxis, daß Journalisten ihrer Phantasie freien Lauf lassen, weil es bessere Ergebnisse bringt, oder halten Sie das für einen besonderen Ausnahmefall?

OK: Das ist schwer zu sagen, da ich inzwischen zu wenig Kontakt mit diesen Kollegen habe, aber ich finde, der Spiegel klärt den Vorfall jetzt vorbildlich auf. Nur müßte er dann auch alle anderen Fälle seiner Vergangenheit aufklären, beispielsweise den Reichstagsbrand. Ich habe den letzten Spiegel-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer auf einer Veranstaltung beschworen, sich doch endlich einmal des Reichstagsbrandes anzunehmen und was durch den Spiegel an Fälschung in die Welt gekommen ist. Er versprach, daß er mir schreiben würde, aber bis heute ist nichts gekommen, und ich fürchte, es wird nie dazu kommen, daß der Spiegel das aufklärt.

Stefan Aust, der zu Zeiten Augsteins noch beim Spiegel war, hat es einmal versucht, aber Augstein hat sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt. Aust konnte das erst in der Welt am Sonntag tun, als ein neues, vieles enthüllendes Buch über den Reichstagsbrand eines Professors aus den USA erschien, das hier ansonsten weitgehend totgeschwiegen wurde. Aust hat in der Welt am Sonntag einen großen Vorabdruck gebracht und das Buch auch anderweitig sehr unterstützt. Wenn ein Spiegel-Chefredakteur heute in dieser Sache endlich Aufklärung betreiben wollte - und das ist viel wichtiger als die Erzählung von Herrn Relotius -, tja, dann bestünde die Möglichkeit dazu. Ich bin gespannt, ob es vielleicht doch noch dazu kommt.

SB: Ist es belastbar, in bezug auf die besagte Spiegel-Artikelserie von einer Fälschung zu sprechen?

OK: Ja, das ist belastbar, das habe ich schon mehrfach geschrieben. Fritz Tobias, auf dem die Spiegelserie beruht, war ein ehemaliger Verfassungsschützer in Niedersachsen. Er hatte ein Buch über den Reichstagsbrand geschrieben und als Quelle dazu ein Buch von Ernst Hanfstaengl, einem Vertrauten Hitlers, der später in Ungnade fiel, benutzt. Hanfstaengl schrieb auf einer Seite des Buches, wie er erfährt, daß der Reichstag brennt, nämlich daß Göbbels bei ihm anruft und sagt, er brenne, und er solle sofort kommen. Hanfstaengl glaubte es zunächst nicht, sondern erst, als es Göbbels und später Hitler versicherten. Das war das Zeugnis für die Überraschung der Nazis über den Reichstagsbrand. Auf der genau gegenüberliegenden Seite dieses Buches, auf das sich Tobias beruft und später alle anderen, zahlreiche Historiker wie etwa Hans Mommsen, steht jedoch, ob das wirklich stimmte, ich weiß es nicht. Es könnte sein, daß die Nazis mich nur benutzten, also anriefen, um später das Zeugnis zu haben, daß sie ahnungslos waren. Nicht von der einen Seite eines Buches auf die andere Seite zu sehen, ist nun wirklich eine Fälschung, die aber Tobias selbst dann indirekt aufdeckte, als er sich für die Täterschaft der Nazis aussprach, indem er Hanfstaengl entsetzlich attackierte und schrieb, er wird wohl selber einer der Mitwisser gewesen sein. Tobias hatte das also irgendwie zur Kenntnis genommen, aber alle Historiker, die vom Spiegel und Tobias abschrieben, haben das so übernommen, wie es auf der einen Seite stand, ohne auf die zweite Seite zu schauen. Sie haben Hanfstaengl als Quelle angegeben, aber die Lesart von Tobias übernommen.

SB: Wir befinden uns im hundertsten Jahr der Novemberrevolution. Wie erleben Sie die Bearbeitung dieses epochalen Ereignisses in bürgerlichen und öffentlich-rechtlichen Medien?

OK: Ja, es ist gut, daß Ebert sich der Sache angenommen hat, und so alles in ordentliche Bahnen gelenkt wurde, ohne daß der Bolschewismus in Deutschland ausbrechen konnte. Das ist eigentlich die Grundmelodie der meisten Artikel, die ich so darüber lese, aber es gibt Ausnahmen.

SB: Wir befinden uns hier auf der Rosa Luxemburg Konferenz der jungen Welt, für die Sie unter anderem schreiben. Könnte man deren Stellung im Pressebetrieb als die einer linken Antipode zur Jungen Freiheit auf der anderen Seite des politischen Spektrums beschreiben, oder hat die junge Welt in Ihren Augen eine Sonderstellung?

OK: Naja, Antipode ist ein bißchen unappetitlich. Nein, da ist die junge Welt doch schon etwas Eigenständiges auch gegenüber der übrigen bürgerlichen Presse, zu der die Junge Freiheit ja inzwischen emporgekommen ist.

SB: Entsteht mit dem Online-Journalismus eine Art Konkurrenz zum etablierten professionellen Journalismus, so daß es große Zeitungen und Medien nötig haben, diese Konkurrenz zu bekämpfen, oder besteht aus Ihrer Sicht ein eher kooperatives Verhältnis?

OK: Was mir die ganze Sache doch etwas unsympathisch macht, sind die rechten Blogger, die um sich herum ein ganzes Netz aufgebaut haben. Dadurch nehmen die Leute, die so etwas lesen, die weitere Umwelt überhaupt nicht mehr zur Kenntnis. Man steckt gewissermaßen in einer Filterblase fest, die natürlich verhindert - und in diesem Sinne ist die bürgerliche Presse aus meiner Sicht immer noch besser -, daß man noch etwas von der Welt wahrnehmen kann, auch wenn man sie gegen den Strich liest. Darin sehe ich eben die große Gefahr im Internet, daß diese Filterblasen sich weiter ausbreiten und die bürgerliche wie die linke Presse verschlingen. Natürlich gibt es auch linke Filterblasen, aber die sind doch noch etwas durchlässiger.

SB: Sind Sie heute, wenn Sie auf Ihre Zeit bei großen bürgerlichen Zeitungen zurückblicken, ein bißchen altersmilde gestimmt, oder geht Ihnen immer noch nah, wie man mit Ihnen umgegangen ist?

OK: Das ist lange her. Als ich beim Spiegel rausgeworfen wurde, war ich eine kurze Zeit bei Konkret Redakteur.

SB: Sie haben auch für die Zeit gearbeitet.

OK: Ja, aber nur als freier Mitarbeiter. Wenn Reich-Ranicki darüber klagt - und er war ja wohl einer der bedeutendsten Mitarbeiter der Zeit -, daß er nie zu Redaktionskonferenzen zugelassen wurde, daß er völlig isoliert war, dann kann ich das gut verstehen. Ich lebe ja, seit ich nicht mehr an den mir ärgerlichen, weil ständig verqualmten Redaktionskonferenzen teilnehmen muß - ich bin nun mal ein Nikotingegner -, wie auf einer Insel, habe kaum, seit es Internet gibt, noch Kontakt nach außen, nur eben über Telefon und Internet.

SB: Gleichwohl sind Sie mit Beiträgen in der jungen Welt präsent, und ich denke, es gibt für Sie noch viel über die BRD-Geschichte zu berichten, zumal Sie als journalistischer Zeitzeuge die Zusammenhänge kennen.

OK: Eines muß ich sagen: Ich fühle mich in dieser Isolation auch wohl. Jedesmal, wenn ich rauskomme, gibt es einen Schub nach vorne, dem Tod entgegen. Wenn ich dann wieder zu Hause bin, legt sich das wieder.

SB: Herr Köhler, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:


[1] https://www.jungewelt.de/blogs/rlk2019/347430

[2] https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/neujahrsansprache-von-bundeskanzlerin-angela-merkel-zum-jahreswechsel-2018-2019-am-montag-31-dezember-2018-in-berlin-1564774

[3] Alle Zitate aus der Rede Otto Köhlers: Beilage der jungen Welt zur 24. Internationalen Rosa Luxemburg Konferenz vom 30. Januar 2019


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17. Februar 2019


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