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INTERVIEW/406: Newroz Hannover - ein viel zu schnelles Ende ...    Gerhard Trabert im Gespräch (SB)



Prof. Dr. Gerhard Trabert ist Sozialpädagoge und Arzt für Allgemeinmedizin/Notfallmedizin, Professor für Sozialmedizin/Sozialpsychiatrie und Buchautor. Er gründete 1994 das "Mainzer Modell", eine medizinische Versorgungseinrichtung für wohnungslose Menschen, 1998 den Verein "Armut und Gesundheit in Deutschland" [1] und richtete 2013 in Mainz die "Ambulanz ohne Grenzen" ein, in der wohnungslose Menschen und Patienten ohne Versicherungsschutz kostenfrei medizinisch behandelt werden. Von Beginn seiner ärztlichen Tätigkeit an absolvierte er zahlreiche humanitäre Auslandseinsätze vor allem in Krisengebieten verschiedener Weltregionen.

Im Rahmen der diesjährigen Newroz-Feier am 17. März auf dem Opernplatz in Hannover berichtete Trabert aus den Städten in Nordsyrien, die er vor kurzem bereist hat. Wo Krieg geherrscht habe wie in Tabka, Manbidsch und Rakka seien die Krankenhäuser verwüstet, die Innenausstattungen komplett zerstört, und das internationale Embargo verhindere, daß die dringend benötigten Hilfslieferungen in diese Region gebracht werden. Seit Ausbruch des Bürgerkrieges seien rund 300.000 Zivilisten mangels Medikamenten gestorben, und dieser stille Tod der Menschen in Syrien werde von der hiesigen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Das Erdogan-Regime kriminalisiere Millionen von Menschen und diffamiere sie als "Terroristen". Der Angriff der türkischen Armee auf Afrin sei ein völkerrechtswidriger Akt und ein Kriegsverbrechen. Die Bundesregierung müsse endlich die Erdogan-Administration dafür anklagen, die Waffenexporte einstellen und eine Rückkehr zur Demokratie und Wahrung der Menschenrechte einfordern.

Am Rande der Kundgebung beantwortete Gerhard Trabert dem Schattenblick einige Fragen zu seinem Engagement in den nordsyrischen Kurdengebieten und seiner Einschätzung der weiteren Entwicklung dort wie auch in der Türkei.


Im Backstage-Bereich vor Ordnern des NAV-DEM [2] - Foto: © 2018 by Schattenblick

Prof. Dr. Gerhard Trabert
Foto: © 2018 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Du bist vor kurzem in die kurdischen Gebiete Nordsyriens gereist. In welchem Zusammenhang engagierst du dich für Gesundheitsprojekte in dieser Region?

Gerhard Trabert (GT): Ich bin Arzt, Sozialarbeiter und Vorsitzender des Vereins "Armut und Gesundheit in Deutschland". Wir unterstützen auch Gesundheitsprojekte im Ausland. Ich habe jüngst Rojava zum dritten Mal besucht und war in Rakka, Tabka und Kobane, in Ain Issa und auch in Manbidsch, wo wir Krankenhäuser und Ärzte unterstützen, was die medizinische Ausstattung angeht, und auch ein Waisenhaus, das in Kobane gebaut wird. Jetzt war ich dort, um nach Afrin zu gelangen, was mir jedoch verwehrt blieb. Ich führte in meinem Gepäck 60 Kilo Medikamente und medizinisches Equipment mit, nachdem ich zuvor mit Ärzten in Afrin darüber gesprochen hatte, was sie dringend brauchen: Schmerzmittel, Antibiotika, Verbandsmaterial und dergleichen.

SB: Wie wir gehört haben, sind in Afrin bei einem Angriff auf ein Krankenhaus viele Menschen getötet und zahlreiche weitere zum Teil schwer verletzt worden. Gibt es dazu aktuelle Informationen?

GT: Ich habe vor einem Tag aktuelle Informationen von Dr. Nuri Kanbar, einem Arzt und Nothilfekoordinator in Afrin, bekommen. Den aktuellen Zahlen zufolge sind in den letzten Wochen über 400 Zivilisten getötet worden. Sein dringender Appell lautet, daß die Angriffe sofort gestoppt werden müssen, da sie als Mediziner die Menschen gar nicht versorgen können. Jetzt sind auch noch in dem Krankenhaus viele Menschen umgekommen. Diese Kriegsführung zeichnet sich dadurch aus, daß die türkische Armee nahtlos an die Untaten anderer Aggressoren anknüpft und gezielt Krankenhäuser und medizinische Versorgungseinrichtungen angreift und zerstört. Das ist eine Katastrophe, und wir erfahren von ihr aus erster Hand, da wir mit den Menschen dort in ständigem Kontakt stehen.

SB: Von türkischer Seite wird behauptet, es würden keine Zivilisten angegriffen.

GT: Das ist eine absolute Lüge. Ich war ja vor zweieinhalb Wochen in Manbidsch, also nicht sehr weit von Afrin entfernt. Ich habe sehr verläßliche Quellen, die mir berichteten, daß von Anfang an gezielt die Wasserversorgung und die Stromversorgung zerstört wurde. Es wurden Schulen zerstört, weitere Einrichtungen der Infrastruktur angegriffen und von Anfang an Zivilisten getötet, insbesondere Kinder und alte Menschen waren in den dokumentierten Listen aufgeführt. Wenn Erdogan dies bestreitet, ist das schlichtweg eine unverfrorene Lüge.


Symbolische Totenklage auf dem Platz vor der Bühne - Foto: © 2018 by Schattenblick

So viele Opfer, so viele Lügen ...
Foto: © 2018 by Schattenblick

SB: Wie hast du die Stimmung in der Bevölkerung angesichts der aktuellen Bedrohung durch den Angriff der türkischen Streitkräfte und ihrer dschihadistischen Söldner erlebt?

GT: Das ist sehr frustrierend. Ich war vor einem Jahr dort und habe die Aufbruchstimmung miterlebt, nachdem der IS in Kobane, in Rakka besiegt worden war. Der Aufbau eines neuen basisdemokratischen Gesellschaftssystems, das wirklich gelebte Demokratie und Freiheit, ein emanzipatorisches Umgehen der Geschlechter, der Ethnien und der Religionen miteinander ist, schritt voran und war von großen Hoffnungen begleitet. Nun kehrt der Krieg zurück, weshalb eine tiefe Verunsicherung herrscht, weil all das, was neu geschaffen worden ist, zerstört zu werden droht. Die Menschen sind erschüttert und voller Angst, daß die aufgebaute demokratische Struktur wieder zunichte gemacht wird.

SB: Es gab eine Phase, während der hier in Deutschland selbst die sogenannten Leitmedien und die Bundesregierung den kurdischen Interessen zugewandt schienen und im Unterschied zu dem früheren Umgang mit der kurdischen Bewegung Tauwetter herrschte. Das scheint sich inzwischen wieder ins Gegenteil zu verkehren.

GT: Ja, und ich halte es für fatal, daß dem Deal mit der Türkei, was geflüchtete Menschen angeht, alles andere untergeordnet wird und die hohe Politik hierzulande nicht den Mut hat, einen Diktator und dessen Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen beim Namen zu nennen, weil man Angst hat, daß andernfalls die bilateralen Beziehungen erneut gestört werden. Aber das ist meines Erachtens immer der falsche Weg. Man muß Unrecht beim Namen nennen, und es war bisher stets verhängnisvoll, sich mit autokratischen Herrschern und Diktatoren zu arrangieren. Auf längere Sicht hat diese Vorgehensweise durchweg schädliche Auswirkungen. Wenn wir gemäß unserem Selbstverständnis eine humane, menschenrechtsorientierte Gesellschaft sind, dann müssen wir das auch in unserer Außenpolitik praktizieren.

SB: Welche Mittel und Möglichkeiten hat der Verein "Armut und Gesundheit in Deutschland", die hiesige Bevölkerung zu erreichen wie auch an offizielle Stellen heranzutreten?

GT: Er herrscht ein Informationsdefizit. Man weiß zu wenig über die Region, gerade auch was diese basisdemokratische Entwicklung betrifft. Bei den Menschen, die informiert sind, spüre ich schon eine Solidarität. Aber was die Politik angeht, fühle ich sehr viel Distanz und Ablehnung. Man wagt es offenbar nicht, sich mit Erdogan anzulegen und ihm Paroli zu bieten. Mir ist auch sehr wichtig, zwischen der Türkei und Erdogan zu unterscheiden. Erdogan ist nicht die Türkei, denn dort gibt es auch sehr viele Menschen, die gegen diesen Krieg sind. Aber sie werden kriminalisiert und eingesperrt. Ich bin da momentan etwas hoffnungslos. Deshalb ist es um so wichtiger, immer wieder an die Öffentlichkeit zu gehen und Aktionen durchzuführen, damit die Problematik ins Bewußtsein der Menschen dringt.

SB: Wie hat sich deiner Erfahrung nach das Verhältnis zwischen türkischen und kurdischen Menschen in der jüngeren Vergangenheit entwickelt?

GT: Ich glaube, daß sehr viele türkische Bürger ihrerseits Frieden und eine Kooperation befürworten und vorziehen würden. Aber der Mainstream der Erdogan-Administration bewegt sich in eine andere Richtung. Wer sich gegen diese Politik ausspricht, wird sofort kriminalisiert und verhaftet. So haben zu Beginn des Angriffs auf Afrin etliche Ärzte den Krieg kritisiert, worauf sie alle eingesperrt wurden. Wir müssen das differenziert sehen und die demokratische Bewegung in der Türkei unterstützen, aber nicht Erdogan.


Gerhard Trabert mit Mikrophon auf der Bühne - Foto: © 2018 by Schattenblick

Den Mantel des Schweigens zerreißen!
Foto: © 2018 by Schattenblick

SB: Machst du dir eine Vorstellung davon, welchen Verlauf die Entwicklung in der Türkei nehmen wird? Zieht Erdogan die Schraube weiter an?

GT: Ich glaube schon. Daß die Welt jetzt schweigt, ist ein absoluter Fehler. Er wird versuchen, immer stärker in diese Richtung zu expandieren, weil er spürt, daß es sich bei der Kritik an seinem Kurs um keinen echten Widerstand handelt. Ich fürchte, daß der Weg in eine islamische Türkei unter Führung eines Diktators weitergehen wird - das ist ja keine Demokratie mehr, wenn allenfalls dem Schein nach eine demokratische Fassade vorgehalten wird.

SB: Wir haben jetzt in der neuen Bundesregierung einen Innenminister, der sich sofort mit der Äußerung profiliert hat, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Steht da zu befürchten, daß sich das Klima hierzulande auch in dieser Hinsicht weiter verschärfen wird?

GT: Ja leider. Das ist auch fatal und falsch, wenn die CSU glaubt, sie müsse im rechten Wählerspektrum Stimmen gewinnen. Das ist der falsche Weg. Man muß sich vielmehr absolut abgrenzen und darf keinen Millimeter nach rechts rücken, sondern muß ganz klar sagen, daß dort Rassisten und Nationalisten am Werk sind. Setzt man diesen Kurs fort, vertieft man die Spaltung und stärkt letztendlich die Rechtsentwicklung in Deutschland. Ich halte das für absolut falsch.

SB: Vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnoten:


[1] http://www.armut-gesundheit.de

[2] NAV-DEM - Demokratisches Gesellschaftszentrum der Kurdinnen und Kurden in Deutschland


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23. März 2018


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