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INTERVIEW/365: Gegenwartskapitalismus - eine alte, demokratische Kultur ...    Ayten Kaplan im Gespräch (SB)




A. Kaplan in Großaufnahme - Foto: © 2017 by Schattenblick

Ayten Kaplan
Foto: © 2017 by Schattenblick

Ayten Kaplan ist Vorstandsmitglied bei NAV-DEM, dem Demokratischen Gesellschaftszentrum der Kurden in Deutschland, und gehört dem Landesvorstand der Partei Die Linke in Nordrhein-Westfalen an. Am Rande der Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern III", die vom 14. bis 16. April an der Universität Hamburg stattfand, erklärte sie sich bereit, dem Schattenblick einige Fragen zur kurdischen Geschichte wie auch zu den aktuellen Entwicklungen zu beantworten.


Schattenblick (SB): Ich möchte mit Ihnen ein bißchen über die kurdische Geschichte sprechen, in der es immer Instrumentalisierungen gegeben hat, beispielsweise der irakischen Kurden durch den Iran, wenn Iran und Irak im Krieg gegeneinander standen, und umgekehrt. Es scheint sich wie ein roter Faden durch die Geschichte zu ziehen, daß die Kurden immer nur dann Unterstützung bekamen, wenn ein Staat sie sich für seine Zwecke nutzbar machen wollte. Besteht diese Gefahr Ihrer Einschätzung nach heute noch?

Ayten Kaplan (AK): Ja, natürlich. Vor allem im Irak besteht diese Gefahr durch Barzani [1] immer noch. Unsere Idee ist, daß alle Kurden zusammenkommen und einen Nationalkongreß bilden sollten, auf dem sie gemeinsam entscheiden, wie die vier Teile und die in ihnen lebenden Volksgruppen, auch wenn sie getrennt in verschiedenen Ländern leben, im Geiste zusammenkommen und ihre Interessen gemeinsam verteidigen können. Das ist das Ziel der Bewegung, die sich seit zwei Jahrzehnten darum bemüht. Aber natürlich ist es schwierig, eine solche Einheit herzustellen, vor allem, weil es kleinere Gruppierungen gibt, die zwar von Zeit zu Zeit zusammenarbeiten, zwischen denen es aber von der Interessenlage her große Unterschiede gibt. Wir sehen das in dem kurdischen Autonomiegebiet im Irak, wo Präsident Barzani seine eigenen politischen Interessen verfolgt und mit der Türkei und den USA kooperiert.

Wie da die gegensätzlichen Interessen kollidieren können, zeigte sich, als Barzani forderte, daß die Volksverteidigungskräfte den Sengal verlassen sollten. Sie haben das nicht getan, weil sie die Erfahrung gemacht haben, daß die Peshmerga [2], als Sengal angegriffen wurde, das Volk einfach im Stich gelassen haben. Das Ergebnis war, daß die Volksverteidigungskräfte Sengal von der IS-Barbarei befreit und gleichzeitig damit begonnen haben, das Volk in der Volksverteidigung auszubilden, so daß auch die Eziden ihre Selbständigkeit zurückgewonnen haben. Es liegt nicht im Interesse Barzanis, daß eine autonome Gruppierung ihren eigenen politischen Willen artikuliert. Daß die Bevölkerung selbst anfängt zu denken und zu handeln, ist nicht erwünscht. Die militärische Auseinandersetzung ist jetzt erst einmal beendet, aber natürlich pocht Barzani immer noch darauf, daß die Volksverteidigungskräfte das Sengal-Gebiet verlassen müßten.

Natürlich spielt auch die Türkei immer wieder eine große Rolle. Wir haben ja in der Vergangenheit, in den 1990er Jahren, gesehen, als die Kämpfe zwischen der kurdischen Bewegung und dem türkischen Militär sehr heftig waren, daß die Türkei und Barzani auch gegen die kurdische Guerilla zusammengearbeitet haben und daß gemeinsame militärische Operationen der türkischen Armee mit den Peshmerga durchgeführt wurden. So etwas kennen wir aus unserer Geschichte, aber es gibt immer wieder auch Versuche, zu einer Versöhnung zu kommen. In unserem Volk werden die Wünsche nach einer solchen Vereinigung und einem gemeinsamen Handeln immer stärker, je mehr Zeit vergeht. Ich glaube, daß das auch Barzani bald nicht mehr ignorieren kann. Daß er die Interessen einer Clan-Partei nicht über die des Volkes stellen kann, wird er in den kommenden Jahren zu spüren bekommen.


Der Aufbau des Neuen inmitten eines Krieges ...

SB: Man könnte im Nahen und Mittleren Osten inzwischen fast von einem Mehrfrontenkrieg sprechen mit durchaus undurchsichtigen Verbindungen zwischen den verschiedenen Akteuren. Die Türkei, aber auch die USA und Rußland, Syrien, Iran und Irak, alle verfolgen ihre jeweiligen, zumeist gegensätzlichen Interessen. Wie positionieren sich die Kurden in einer solchen Gemengelage?

AK: Als der Bürgerkrieg in Syrien angefangen hat, haben die Kurden in Rojava gesagt: Wir werden nicht Teil dieses schmutzigen Krieges. Wir werden uns in unsere Grenzen zurückziehen, unsere Region schützen und zusehen, daß wir in diesem Krieg nicht instrumentalisiert werden. Das haben sie auch gemacht. Wenn es um eine Demokratisierung Syriens gegangen wäre, hätten die Kurden sich das vielleicht anders überlegt. Aber im Endeffekt war es so, daß sich durch den Aufbau ihrer neuen Strukturen, die Ausrufung der Autonomie und die entstandenen Selbstverwaltungen Rojavas natürlich gezeigt hat, daß sie eine ganz eigene Strategie verfolgen.


Karte, aus der die Gebietsansprüche Rojavas hervorgehen - Foto: By Editor abcdef (Own work) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

Rojava im Norden Syriens im Mai 2016 - beanspruchtes (orange) und kontrolliertes Territorium (grün)
Foto: By Editor abcdef (Own work) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

In diesem schmutzigen Krieg mit seinen, wie Sie schon sagten, undurchsichtigen Akteuren werden natürlich auch Stellvertreterkriege geführt von regionalen Mächten, die ihre eigenen Interessen durchsetzen wollen und von denen keiner seine territorialen Ansprüche verlieren will. Die Kurden haben das gesehen, als sie erklärt haben, daß sie an diesem Krieg nicht teilnehmen, sondern sich zurückziehen, um sich neu zu organisieren, zu strukturieren und ihre eigene Verwaltung und Selbstverteidigung aufzubauen. Und das hat funktioniert! Wie wir jetzt sehen können, suchen in vielen Kantonen Rojavas auch Araber, Aramäer und christliche Turkmenen Schutz, der ihnen natürlich auch gewährt wird. Dort werden sie nicht als Kanonenfutter für irgendeine Interessenpolitik in dieser Gemengelage benutzt.

Die Kurden sind heute eine gut organisierte und politisierte Gesellschaft. Sie haben aus der Vergangenheit gelernt, wovon wir auch hier auf der Konferenz schon öfter gehört haben. Eine der Thesen Öcalans beispielsweise lautete ja auch: Erst wenn man die Geschichte kennt, kann man die Gegenwart analysieren und aus ihr heraus die Zukunft planen. Ich glaube, daß die kurdische Bewegung es inzwischen geschafft hat, ihre Geschichte zu analysieren. Die hat uns gelehrt, daß uns zwar immer wieder Freiheiten versprochen wurden - die Anerkennung unserer Identität oder die Erlaubnis, unsere eigene Sprache zu sprechen -, die aber in der Vergangenheit nicht eingelöst wurden. Deshalb sagen die Kurden heute: Wir werden uns selbst organisieren. Unsere politischen Forderungen können wir nicht einfach nur an irgendwelche Staaten oder Mächtige richten, wir müssen uns selbst für sie einsetzen. Insofern ist die kurdische Gesellschaft eigentlich eine hochpolitisierte, die ihre sozialen, kulturellen und politischen Forderungen zwar ausruft, aber auch lebbar macht, indem sie sie praktiziert.


Historische Wurzeln eines nicht-hierarchischen Zusammenlebens?

SB: Damit haben Sie im Grunde schon das nächste Thema angeschnitten. Dem kurdischen Volk ist ja nie das Selbstbestimmungsrecht zuerkannt worden, obwohl die Siegermächte des Ersten Weltkriegs damals eine solche Zusage gegeben haben. Was könnten, um jetzt einmal ein bißchen zu spekulieren, die Gründe gewesen sein, daß die führenden Staaten es riskiert haben, in der kurdischen Frage als wortbrüchig kritisiert zu werden?

AK: Ich glaube, das geht ein bißchen aus der Geschichte der Kurden hervor. In der Region des Nahen und Mittleren Ostens sind sie auf vier verschiedene Gebiete aufgeteilt worden, in denen sie mit anderen ethnischen oder auch religiösen Minderheiten aber immer friedlich zusammengelebt haben. Die Kurden hatten nie den Drang, eine Nation zu gründen und niemals das Gefühl, sich auf diese Weise darstellen zu müssen. Im Osmanischen Reich oder auch früheren Imperien haben sie das Zusammenleben mit anderen Völkern und Kulturen immer genossen. Sie konnten so leben, wie sie es wollten, mit ihrer eigenen Sprache und Kultur. Deswegen hat sich für sie auch nie die Frage nach einer Nation oder einem eigenen Staat gestellt. Das hat sich erst geändert, als während oder nach dem Ersten Weltkrieg viele Nationalstaaten im Zuge der sogenannten Entkolonialisierung der Region damit anfingen, in dieser Gemengelage ihre eigenen Interessen durchzusetzen.

Die kurdischen Gebiete, wo Euphrat und Tigris fließen, gehören ja, was Erdölvorkommen und Bodenschätze betrifft, zu den reichsten Lagerstätten. Die Interessen der Großmächte an ihnen waren natürlich sehr groß, weshalb sie gerade diese Region eigentlich nie abgeben wollten. Sie haben zwar gesagt, sie sei entkolonialisiert worden, aber tatsächlich wurde dort eine Art Schattenkolonialismus installiert. Die damaligen Mächte haben sich ja nie wirklich zurückgezogen, sondern sind dageblieben im Schatten anderer, die sie als ihre Stellvertreter in bestimmte Gebiete hineingelassen haben, damit sie dort ihre Interessen verteidigen. Aus diesen Gründen waren diese Mächte auch nie daran interessiert, daß die Kurden einen eigenen Staat bekommen.

Die Kurden galten als sehr schlagkräftig. Wenn sie sich ein Ziel gesetzt hatten, zogen sie das auch durch und zeigten keine Angst. Diese Stärke des kurdischen Volkes ist aber auch, glaube ich, eine Gefahr, weil sie dazu führte, daß die mächtigen Staaten kein Interesse hatten zu sagen, wir geben den Kurden einen Staat, in dem sie uns dann vertreten sollen. Das hat damals keine der Siegermächte des Ersten Weltkriegs gewollt, und so ist es dann zur Aufteilung Kurdistans gekommen, wobei England und Frankreich die größten Gebietsanteile für sich beansprucht haben. Der Irak und Syrien sind ja künstlich geschaffene Staaten, die es vorher gar nicht gab. Anhand dieser beiden Länder sehen wir, daß England und Frankreich ihre Hände da nie wirklich rausgezogen haben, und für die Kurden gab es keinen Platz. Was die Türkei betrifft, kann man sagen, daß da gewisse Zugeständnisse gemacht worden sind aufgrund ihrer Interessenlage.

Für die Kurden aber waren Nation und Staat, wie ich am Anfang schon gesagt habe, Sachen, die sie eigentlich nie wirklich gewollt haben. Sie konnten ja längst überall hin reisen. Die Vorstellung, in einer Staatsform mit eigenen Grenzen zu leben, gab es bei ihnen nicht.


Karte des Osmanischen Reiches inklusive Kurdistans - Foto: By Ottoman_empire.svg: André Koehne derivative work: Furfur (This file was derived from Ottoman empire.svg:) [CC BY-SA 2.5-2.0-1.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5-2.0-1.0), CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/) or GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html)], via Wikimedia Commons

Lange vor der Existenzverleugnung durch die türkische Republik - Kurdistan im Osmanischen Reich
Foto: By Ottoman_empire.svg: André Koehne derivative work: Furfur (This file was derived from Ottoman empire.svg:) [CC BY-SA 2.5-2.0-1.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5-2.0-1.0), CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/) or GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html)], via Wikimedia Commons

SB: Über die Rolle der westlichen Staaten haben wir, historisch gesehen, schon gesprochen, auch darüber, daß sie nie aufgehört haben, und sei es über Stellvertreter- oder Vasallenregime, den Daumen auf dieser Region zu haben. Wie geht die kurdische Bewegung heute damit um, wie ist da ihre Analyse?

AK: Wir wissen, daß die einen ohne die anderen nicht existieren können, das macht ja in unserer Analyse im Kern die Interessenpolitik aus. Nehmen wir zum Beispiel Deutschland, also eines der Länder, die den Kolonialismus sehr spät entdeckt und kaum eigene Kolonialismuserfahrungen haben, was vielleicht das einzige ist, was Deutschland mit den afrikanischen Staaten gemeinsam hat. Aus diesen Gründen hat Deutschland auf andere Ebenen gesetzt. Heute verfolgt es seine politischen und wirtschaftlichen Interessen, die aus der Zeit des Osmanischen Reiches herrühren, auch wieder militärisch. Die Waffenbrüderschaft von damals, die sich aus dem damaligen Kontext ergeben hatte, finden wir jetzt wieder, wenn wir die gegenwärtige Situation sehen, nämlich daß in der Türkei durch Erdogan die Meinungsfreiheit, die Demokratie, sogar die Justiz komplett zerstört worden sind, Deutschland aber trotzdem bei aller Kritik die Regierung in Ankara immer noch nur mit Samthandschuhen anfaßt.


Schattenkolonialismus und unheilvolle Allianzen

Wenn es zu einer direkten Konfrontation zwischen der Türkei und Deutschland käme, würden diese Interessen davon berührt werden. Deswegen ist es aus deutscher Sicht unpassend, direkte Kritik an Erdogan zu üben und den Finger in die Wunde zu legen. Das will Deutschland nicht, und natürlich wiegen diese Dinge schwerer als die Menschenrechte in der Türkei, auch wenn wir sehen, was dort gerade jetzt passiert. Solche Zusammenhänge können wir aber auch in Hinsicht auf andere Staaten feststellen. Ob es sich nun um die USA, England oder Frankreich handelt, diesen Schattenkolonialismus können wir bei ihnen allen feststellen. Die Kraft der kurdischen Bewegung besteht darin, daß sie sich nicht auf irgendwelche Staaten bezieht, sondern unabhängig von ihnen allen agiert, denn sie zieht ihre Stärke aus der eigenen Bevölkerung.

Diese Unabhängigkeit ist auch der Grund, warum sich die kurdische Bewegung in der Analyse ganz klar gegenüber den westlichen Staaten positionieren und ihre Forderungen formulieren kann. Wenn wir uns jetzt andere Kräfte ansehen wie zum Beispiel Barzani, über den wir schon gesprochen haben, zeigt sich ein anderes Bild. Auch wenn es in Irak-Kurdistan eine autonome kurdische Regierung gibt, ist sie auf der anderen Seite doch abhängig von den politischen und wirtschaftlichen Interessen anderer Staaten. Ein wirklich eigenständiges Handeln ist dieser Regierung nicht gegeben. Das ist bei der kurdischen Bewegung anders, die sich ausschließlich auf die eigene Bevölkerung beruft, weshalb sie auch politische Entscheidungen treffen kann, die von anderen Staaten wirklich unabhängig sind.

Der Westen führt seine Stellvertreterkriege durch die Despoten, die er selbst dort hingestellt hat oder indem er bestimmte Staaten oder Gruppierungen unterstützt. Auf der anderen Seite ist es natürlich so, daß die Gefahr besteht, wenn die Belange des eigenen Volkes nicht berücksichtigt, sondern die Eigeninteressen anderer Mächte unterstützt werden, daß das Volk gegen diese Herrscher aufbegehren könnte. Die Eigendynamik solcher Bewegungen muß dann in solchen Staaten immer wieder bekämpft werden, damit die Bevölkerungen nicht plötzlich Alternativen schaffen, in denen die Fremdinteressen überhaupt nicht mehr berücksichtigt werden. Wenn wir die Krisen im Nahen und Mittleren Osten durch echte Demokratisierungsprozesse lösen wollen, muß der Impuls dazu in den Ländern selbst entstehen. Die Bevölkerungen müssen eine eigenständige Dynamik entfalten und darüber entscheiden, wie sie leben wollen und welche Demokratiemodelle sie bevorzugen. Das sind alles Fragen, über die die kurdische Bewegung frei entscheiden und zu denen sie ihre Forderungen dementsprechend positionieren kann, und dafür leistet sie auch Widerstand.

SB: Es gibt Bewegungen in anderen Regionen, die eigentlich vor einer ganz ähnlichen Konfrontation oder Problematik stehen. Ich denke da an das Baskenland, den Nordirland-Konflikt oder die Westsahara, wo die Befreiungsbewegungen bereits ganz unterschiedliche Levels erreicht haben. Die Westsahara ist als internationaler Verhandlungspartner zumindest anerkannt worden, es gibt ein UN-Referendum zur Unabhängigkeitfrage, das allerdings nicht umgesetzt wird. Die baskische Bewegung hat bei allen Schwierigkeiten einen gewissen Verhandlungsprozeß erreicht, in Nordirland ist das alles bei allen Widersprüchen noch weiter gediehen. Können Sie etwas dazu sagen, wie diese Prozesse aus kurdischer Sicht bewertet werden?

AK: Natürlich analysiert die kurdische Bewegung alle Lösungen, die von revolutionären oder widerständigen Bewegungen in Europa, aber auch in Südafrika und anderen Ländern erreicht werden konnten. Selbstverständlich stellt sich für jede Bewegung aufgrund ihrer Besonderheiten, der geographischen Lage oder weiteren Gegebenheiten die Interessenlage ein wenig anders dar, die Forderungen sind nicht immer dieselben. Leider Gottes leben wir Kurden in einem Siedlungsgebiet, das große Unterschiede aufweist. Wenn man sich nur einmal die vier Teile Kurdistans ansieht, kann man feststellen, daß den Kurden beispielsweise im Iran ein ganz anderer Stellenwert beigemessen wird als in den anderen Staaten. Sie sind dort in ihrer Sprache und Kultur nicht unterdrückt, sondern können sie ausleben. In dem Moment aber, in dem sie politische Forderungen stellen, zeigt sich der Staat ihnen gegenüber von einer ganz anderen Seite. Oder nehmen wir den Irak. Saddam Hussein hat ja den Giftgasangriff in Halabdja durchgeführt, jegliche Forderungen der Kurden dort wurden unterdrückt. In Syrien waren die Kurden vor dem Bürgerkrieg so gut wie enteignet. Ihnen wurde keine eigene Identität zugestanden, die einfachsten existentiellen Dinge waren für sie nicht vorhanden. In der Türkei wiederum war es ja so, daß alle kurdischen Forderungen mit Vernichtung und Massakern beantwortet worden sind.

Das bedeutet, daß sich für die vier verschiedenen Ebenen natürlich auch ganz andere Lösungsansätze ergeben. Wie aber entscheiden wir, welche Möglichkeiten das sein sollten? In der Friedensphase zum Beispiel, als der Dialog der türkischen Regierung mit Öcalan eingeleitet wurde und die Osloer Gespräche stattfanden, gab es natürlich einen Funken Hoffnung, und es war interessant zu beobachten, was da passiert, wie sich das entwickelt und welche Diskussionen geführt wurden. Wird das ein Prozeß wie im Baskenland oder eher wie in Irland? Doch dann lief es komplett anders, auch die Lösungsansätze waren oft gänzlich andere. Während des Friedensprozesses, der sich über Monate und Jahre hinweg entwickelte, wurde natürlich auch darüber gesprochen, wie und über welche Punkte und Forderungen verhandelt werden sollte.

Öcalan zum Beispiel hat erklärt, daß die Delegationen der Regierung oder auch der HDP zwar mit ihm reden, aber daß das, was bei den Verhandlungen herauskommt, keine politische Bedeutung hat, solange es nicht ins Parlament hineingetragen wird, wo Abgeordnete anderer Parteien in die Diskussion miteinbezogen werden können. Dieser Prozeß müsse auch von unabhängigen Akademikern, Philosophen, Friedensaktivisten und Menschenrechtlern begleitet werden. Innerhalb des Parlaments müsse eine Versöhnungs- und Wahrheitsfindungskommission eingesetzt werden, um den ganzen Konflikt aufzuarbeiten. Es standen verschiedene Lösungsansätze zur Debatte. Doch in letzter Minute, als eigentlich schon klar war, wie es gehen könnte und ein 10-Punkte-Programm zur praktischen Umsetzung des Dialogs vorlag, hat Erdogan einfach gesagt, er will das nicht, das liegt nicht im Interesse des türkischen Staates.


Zerschlagene Hoffnungen

Da stellte sich heraus, daß die Frage, ob er den kurdisch-türkischen Konflikt wirklich lösen will oder einfach nur darauf bedacht ist, die Kurden für sich einzuspannen und in sein Machtgefüge einzubinden, völlig offen war. Im nachhinein kann man natürlich viel darüber spekulieren, doch de facto ist es so, daß die Türkei oder eben Erdogan den Friedensprozeß beendet haben, durch den ja auch die türkische Bevölkerung endlich die Hoffnung hatte, daß keine Soldaten in diesem Konflikt mehr sterben müßten wie auch die kurdischen Mütter gehofft hatten, daß ihre Kinder nicht mehr in den Bergen getötet werden. Es war ein Freiraum geschaffen worden, wirklich einen gemeinsamen Lösungsdialog zu schaffen, der auch die Demokratisierungsprozesse in der Türkei insgesamt verstärkt hätte, was für alle Menschen ein Anlaß zur Hoffnung gewesen wäre und so auch erwartet worden war.

Aber leider Gottes ist das alles durch diese Interessenkonflikte oder auch Machtspiele ins Stocken geraten, so daß jetzt seit zwei Jahren keine Gespräche mit Öcalan mehr stattfinden. Wir fragen uns, wie er diese Entwicklung bewertet und welche Möglichkeiten er sieht, den Dialog wiederaufzubauen oder zu erreichen, daß die Türkei bzw. die Regierung Erdogan zu der Einsicht kommt, daß ihre jetzige Politik eigentlich nur eine Sackgasse ist und daß, wie Öcalan sagt, die Lösung des Kurdenproblems nur gemeinsam gefunden werden kann. Nun ist es so, daß es entweder zu einem ganz starken Staat oder einer Demokratisierung der Türkei kommen wird, was natürlich unsere Hoffnung bzw. das ist, was wir erreichen wollen. Selbstverständlich gibt es auch Auseinandersetzungen auf militärischer Ebene, wobei die türkische Regierung in den kurdischen Gebieten einfach den Ausnahmezustand verhängt. Auf der einen Seite werden die Städte zerstört, die Menschen verhaftet oder getötet, doch auf der anderen Seite pochen wir immer noch darauf, daß die beste Lösung der Frieden ist und daß wir einen politischen Dialog führen müssen.


A. Kaplan während des Interviews - Foto: © 2017 by Schattenblick

Den Sozialismus auf eine zeitgenössische Ebene bringen
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Eine Frage noch zur jüngeren Geschichte dieses Konflikts. Die PKK ist ja als marxistisch-leninistische Organisation gegründet worden, heute vertritt sie den demokratischen Konföderalismus. Welche Ereignisse oder auch Überlegungen haben zu diesem Wandel, wenn man das denn so nennen möchte, geführt?

AK: Öcalan ist ein Mensch, der auch das Ende des Kalten Krieges genau analysiert hat. Warum ist das geschehen, welche Diskussionen wurden Ende der 80er Jahre geführt, was ist da falsch gelaufen? Der Sozialismus ist ja auch unser Kernpunkt, aber was ist mit seiner Umsetzung? Wie ist der historische Kontext zu verstehen, daß die Menschen auf einen Sozialismus, in dem alle gleichgestellt sind, gehofft hatten, dann aber in der praktischen Ausführung eigentlich alles komplett anders war? Solche Analysen wurden von Öcalan nicht nur intern in der Bewegung diskutiert, sondern in die breite Öffentlichkeit hineingetragen, ebenso die Fragen danach, was wir überhaupt wollen und wie wir leben wollen? Was bedeutet Sozialismus, was ist Kapitalismus, und gibt es noch eine Alternative zu diesen beiden?

Sozialismus ist der richtige Weg, aber in der Praxis hat sich das nicht bewahrheitet. Da sind Fehler passiert, die Öcalan auch analysiert hat, woraus dann in der kurdischen Bewegung die Paradigmenwechsel entstanden sind. Aber er hat die Bevölkerung immer mitgenommen, so zum Beispiel bei der Frage, ob ein Dritter Weg eine Lösung sein könne. 2001 waren in der Türkei wie auch in Europa Akademie-Zelte aufgebaut worden, in denen die Bevölkerung Fragen diskutiert hat wie: Wie wollen wir leben, was wollen wir erreichen, in welch einer Gesellschaftsform wollen wir leben? Daß Menschen in diese Zelte gehen und darüber sprechen konnten, was ist Demokratie, was bedeutet Selbstverteidigung, was ist eine Kommune, welche Aufgaben hat sie und was kann ich von ihr erwarten, bedeutete doch, daß ihre Interessen und Ideen in die neuen Paradigmen bereits miteingebaut wurden und daß der Wandel in den Gedanken und Vorstellungen der Bevölkerung bereits stattgefunden hat.


Wichtige Zukunftsfragen in lebendiger Diskussion

Und das ist das Lebendige an dem ganzen Prozeß. Der Paradigmenwechsel ist keine Ablehnung marxistisch-leninistischer Vorstellungen, sondern der Versuch, wie schon Öcalan gesagt hat, Marx auf eine zeitgenössische Ebene ins 21. Jahrhundert zu bringen mit den Instrumenten, das uns heute zur Verfügung stehen, um die Verhältnisse und Entwicklungen zu definieren und zu verstehen. Das ist keine Ablehnung, sondern einfach eine kritische Analyse, bei der es darum geht, die Inhalte mit den veränderten heutigen Instrumenten auf die gegenwärtige Situation zu übertragen. Was damals richtig war, ist im 21. Jahrhundert vielleicht falsch, das muß in die Analyse miteinbezogen werden, und darin liegt meiner Meinung nach auch die Stärke Öcalans.

SB: Eine Frage noch zur kurdischen Kulturgeschichte, in der es ja den Schmied Kawa gab. Können Sie erläutern, was das bedeutet und aus welcher Zeit diese mythologische Figur stammt?

AK: Der Schmied Kawa spiegelt eigentlich die Newroz-Zeit wider. In der Mythologie ist es so, daß es einen Despoten als König gab. Mythologisch wird der auch anders beschrieben, aber ich denke mir, daß es ein Despot war, der sein Volk getötet oder unterjocht hat. Er hat dann irgendwie nach Macht gegiert und sich mit einer verbündet, so daß ihm laut Mythologie an der Schulter zwei Schlangen wuchsen, die jeden Tag die Gehirne zweier junger Männer brauchten, um ihm die Macht zu erhalten. Deshalb mußte ihm das Volk immer wieder seine Söhne geben, und so gab es eine große Wut und Proteste gegen den König. Viele Familien schickten ihre Söhne in die Berge, damit sie nicht an die Schlangen verfüttert werden. Doch irgendwann hat der Schmied Kawa gesagt: "Jetzt reicht's." Er ist in die Berge gegangen, hat ein Feuer entzündet, den Widerstand gegen den Despoten angeführt und ihn schließlich getötet.

Newroz ist ein Fest, das auch andere Völker im Mittleren und Nahen Osten, in Afghanistan, im Iran und in anderen Staaten, begehen. Bei den Kurden ist das Feuer eigentlich das Symbol des Widerstands. Es spiegelt den Frühling wider, aber auf der anderen Seite auch den Widerstand des Feuers. Und der Schmied Kawa ist die mythologische Person, die dieses Feuer symbolisch entfacht hat, um in der damaligen Zeit zum Widerstand aufzurufen. Deswegen wird an Newroz, wenn das Neujahrsfest gefeiert wird, immer auch die mythologische Figur des Schmied Kawa angedeutet.


Mythologie und Geschichte in Zeiten des Widerstands

SB: Wenn ich mich richtig erinnere, sollen ältere Frauen, als Öcalan noch ziemlich unbekannt war, in ihm schon den Schmied Kawa gesehen haben. Können Sie dazu etwas sagen? Und spielt dieser Mythos heute überhaupt noch eine Rolle?

AK: In der heutigen Diskussion hier auf der Konferenz hat einer der Referenten gesagt, daß du in der Vergangenheit der Geschichte, die die Gegenwart verdeckt, versteckt bist. In der Mythologie ist ja auch das Leben der Menschen von früher verborgen. Nehmen wir zum Beispiel die kurdische Kultur und ihre historischen Erzählungen - ob nun mythologisch oder geschichtlich - mit den Erfahrungen des Leids, der Vernichtung und der Unterdrückung. Sie konnten gerade durch das, was die Frauen erlebt hatten, lebendig gehalten werden, weil sie mit den patriarchialen Strukturen, die der Feind in ihr Land gebracht hatte, kaum in Berührung gekommen waren. Die Männer schon eher, aber die Frauen nicht so sehr, weil sie in geschlossenen Bereichen lebten und dadurch ihre Geschichten schützen und die historischen Ereignisse an ihre Kinder weitergeben konnten, auch die Sprache. Viele sehen Öcalan so. Jemand hat einmal gesagt, daß Menschen wie er nur alle hundert Jahre einmal geboren werden.


Karte der Türkei, in der Dersim hervorgehoben wurde - Foto: By NordNordWest [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html) or CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)], via Wikimedia Commons

Unvergessen in der kurdischen Geschichte - die Region Dersim Mitte der 1930er Jahre
Foto: By NordNordWest [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html) or CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)], via Wikimedia Commons

SB: Könnte man sagen, daß Öcalan, der seit fast dreißig Jahren ein Gefangener des türkischen Staates ist, gerade für ältere Menschen nach wie vor eine ganz besondere Bedeutung hat?

AT: Was unsere älteren Leute angeht, ist es so, daß viele unserer älteren Väter und Mütter, unserer Großmütter und Großväter in den vier Staaten, vor allem in der Türkei, einfach keinen Widerstand gegen die staatliche Unterdrückung leisten konnten. Auf ihnen liegt dieser Schmerz wie eine tiefe Last, weil sie nichts machen konnten, keine Mittel hatten und nicht organisiert waren. Ich glaube, daß es erst durch die kurdische Bewegung zu diesem Aufwachen gekommen ist und die Menschen den Mut gefaßt haben, die eigene Identität anzunehmen und sich selbst in ihrer Kultur und Sprache zu erkennen.

Wenn ich manchmal die älteren Leute sehe, wie sie, wenn es zu irgendeiner historischen Veränderung oder einem Fortschritt im Leben der Kurden kommt, lächeln, aber auch Tränen in den Augen haben, dann ist das schon genug, um zu sagen, daß wir auf dem richtigen Weg sind. Ich glaube, daß das auch der Grund ist, warum viele ältere Leute ein Bild Öcalans bei sich tragen, wozu zum Beispiel in Deutschland oft gesagt wird, das sei ein Personenkult. Ich aber denke, daß dieser Mensch ihnen den Lebenshauch wiedergegeben hat, zum Beispiel nach dem Dersim-Massaker von 1938, wo das türkische Militär gesagt hat: "Jetzt haben wir den Kurden getötet und zubetoniert, jetzt gibt es keinen Kurden mehr." Diese Zeit des Totschweigens, der Nicht-Existenz, hat Öcalan durchbrochen, und ich glaube, daß es Dankbarkeit ist, warum viele Ältere in ihm den Schmied Kawa sehen.

SB: Vielen Dank, Frau Kaplan, für dieses lange Gespräch.


Fußnoten:

[1] Massud Barzani, Präsident der Autonomen Region Kurdistan im Norden des Irak

[2] Als Peshmerga (kurdisches Wort für Freiheitskämpfer) werden in der Regel die Truppen im Nordirak bezeichnet, die im Dienste Präsident Barzanis bzw. seiner Partei, der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP), stehen.


Beiträge zur Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern III" im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BUERGER → REPORT:

BERICHT/262: Gegenwartskapitalismus - den Droh- und Vernichtungswuchten revolutionär entgegen ... (SB)
BERICHT/264: Gegenwartskapitalismus - für Kurden und für alle Menschen ... (SB)
BERICHT/265: Gegenwartskapitalismus - wie ich dir ... (SB)
BERICHT/266: Gegenwartskapitalismus - eine antiimperiale Befreiungspraxis ... (SB)
INTERVIEW/351: Gegenwartskapitalismus - fundamentale Gegenentwürfe ...    Yavuz Fersoglu im Gespräch (SB)
INTERVIEW/352: Gegenwartskapitalismus - unterdrückt und totgeschwiegen ...    Mako Qocgiri im Gespräch (SB)
INTERVIEW/353: Gegenwartskapitalismus - im Namen der Revolution ...    Zilan Yagmur im Gespräch (SB)
INTERVIEW/355: Gegenwartskapitalismus - streitbare Avantgarde ...    Dersim Dagdeviren im Gespräch (SB)
INTERVIEW/357: Gegenwartskapitalismus - Emanzipation und Demokratie für alle ...    Fawza Yusuf im Gespräch (SB)
INTERVIEW/358: Gegenwartskapitalismus - Vorbilder der Geschichte ...    Raúl Zibechi im Gespräch (SB)
INTERVIEW/359: Gegenwartskapitalismus - selbstbestimmt und regional ...    Salih Muslim im Gespräch (SB)
INTERVIEW/360: Gegenwartskapitalismus - Begegnung im Geist der Befreiung ...    Barbara Pade-Theisen im Gespräch (SB)
INTERVIEW/361: Gegenwartskapitalismus - widerstands- und linksübergreifend ...    Miguel Juaquin im Gespräch (SB)
INTERVIEW/362: Gegenwartskapitalismus - viele Fragen, eine Stimme ...    Martin Dolzer im Gespräch (SB)
INTERVIEW/363: Gegenwartskapitalismus - getrennt marschieren, gemeinsam schlagen ...    Cassia Figueiredo Bechara im Gespräch (SB)
INTERVIEW/364: Gegenwartskapitalismus - von den Kurden lernen ...    Kerem Schamberger im Gespräch (SB)


19. Mai 2017


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