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INTERVIEW/360: Gegenwartskapitalismus - Begegnung im Geist der Befreiung ...    Barbara Pade-Theisen im Gespräch (SB)



Daß es ohne eine Befreiung der Frau keine befreite Gesellschaft geben könne, wie Fawza Yusuf, die Kovorsitzende des Exekutivrats der Demokratischen Föderation Nordsyrien, besser bekannt als Rojava, im Schattenblick-Interview [1] erklärte, ist unter Menschen, die sich der kurdischen Bewegung zugehörig oder verbunden fühlen, längst zu einem geflügelten Wort geworden. In den kurdischen Autonomiegebieten, in denen mit dem Aufbau einer neuen Gesellschaft nach den Prinzipien des demokratischen Konföderalismus begonnen wurde, wurden Fakten geschaffen, die die Aufmerksamkeit vieler Menschen, die an einem solidarischen Zusammenleben in Geschlechtergleichwertigkeit und ohne Klassen- oder sonstige Hierarchien nicht nur in theoretischer Hinsicht interessiert sind, auf sich gezogen haben.

Auf der nunmehr dritten Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern III", die vom 14. bis 16. April im Audimax der Universität Hamburg stattfand, stand nicht von ungefähr die Jineoloji, so das kurdische Wort für die Wissenschaft der Frau, im Zentrum vieler Veranstaltungen und Diskussionen. Angesichts der von Konferenz zu Konferenz anwachsenden Teilnehmerzahl läßt sich vermuten, daß sich auch immer mehr Menschen, die selbst nicht kurdisch sind, für diese Bewegung zu interessieren beginnen, die strenggenommen keine "kurdische" ist, weil ihr Kampf um den Aufbau einer neuen antipatriarchalen, antikapitalistischen und antistaatlichen Gesellschaft ganz allgemeine und menschheitsgeschichtlich bislang ungelöste Fragen betrifft.

An der diesjährigen Konferenz nahm mit Dr. med. Barbara Pade-Theisen eine Vertreterin der Modernen Matriarchatsforschung teil, die die Vorträge zum Thema Jineoloji mit besonders großem Interesse verfolgte. Am Rande der Veranstaltungen erklärte sie sich bereit, dem Schattenblick einige Fragen zu beantworten zu der inhaltlichen Nähe zwischen der kurdischen Bewegung in Theorie und Praxis und der von ihr betriebenen Matriarchatsforschung.


B. Pade-Theisen im Gespräch - Foto: © 2017 by Schattenblick

Barbara Pade-Theisen
Foto: © 2017 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Frau Pade, Sie sind Matriarchatsforscherin. Was bedeutet das für Sie und wie sind Sie dazu gekommen?

Barbara Pade-Theisen (BP): Ich bin eine Referentin für Matriarchatsforschung und wurde vor ein paar Jahren in der Akademie Hagia von Dr. Heide Göttner-Abendroth ausgebildet.

Ich lernte aber schon in den 1950er Jahren im Geschichtsunterricht der DDR etwas über diese andere Gesellschaftsform. Dort hieß es in unserem Schulbuch der 10. Klasse, daß laut Friedrich Engels die Menschheit in der Frühgeschichte in größeren verwandtschaftlichen Gruppen nach der Mutterlinie zusammengelebt hat und die Frauen einen großen Stellenwert gehabt haben, daß das friedliche Gesellschaften gewesen sind und daß die Wissenschaft dies "Matriarchat" nennt.

Viel später, in den 1980er Jahren, hörte ich in München Vorträge von der Philosophin und Matriarchatsforscherin Heide Göttner-Abendroth. Es hat mich sehr beeindruckt, das Matriarchat in einem positiven Sinne präsentiert zu bekommen. Göttner-Abendroth ist meiner Ansicht nach die einzige moderne und jetzt noch lebende Forscherin, die eine wissenschaftliche Definition vom Matriarchat erstellt hat. Johann Jakob Bachofen, ein Vertreter der alten Matriarchatsforschung aus dem 19. Jahrhundert, hat ja leider das Wort von der Frauenherrschaft, der Gynaikokratie, aufgebracht, was dann von vielen Wissenschaftlern aufgegriffen wurde.

SB: Und wie verwendet Göttner-Abendroth den Matriarchatsbegriff?

BP: Das Wort Matriarchat, sagte sie, kommt von griechisch matri und arché und bedeutet "am Anfang die Mütter" und nicht - wie so oft unterstellt wird - "Herrschaft der Mütter". So wie das Wort Archäologie ja auch nicht "Lehre von der Herrschaft" bedeutet, sondern Lehre von den Anfängen unserer Kulturgeschichte, vom Altertum. Erst später im Patriarchat habe das Wort arché die Bedeutung "Herrschaft" angenommen, die es nun ja auch gab.

Matriarchate haben sich im Gegensatz dazu gerade durch Herrschaftsfreiheit und durch Geschlechter-Gleichwertigkeit ausgezeichnet. Ökonomisch waren sie um die gleiche Verteiligung ihrer Güter - v.a. auch der landwirtschaftlichen - unter allen Menschen bemüht. Akkumulation in den Händen einiger wurde bewußt verhindert. Es gab noch kein Privateigentum. Wenn beispielsweise in einer Dorfgemeinschaft ein Klan eine besonders gute Ernte gemacht und einen Mehrwert erzeugt hat, wurde von ihm erwartet, ein Dorffest zu geben, auf dem alles von allen verkonsumiert wurde. Es wurde immer darauf geachtet, die Gleichheit wieder herzustellen.

Auf der sozialen Ebene lebten die Menschen in der mütterlichen Linie in Klan-Gemeinschaften zusammen. Das waren keine Kleinfamilien mit Vater, Mutter und Kind, sondern Großfamilien, in denen in mütterlicher Linie meistens drei, manchmal auch vier Generationen zusammenlebten. Die Mosuo in China zum Beispiel sind heute noch sehr matriarchal, sie haben diese Struktur weitestgehend beibehalten.

Auf der politischen Ebene waren es keine Konkurrenzgesellschaften, wurde doch sehr viel Wert darauf gelegt, die Entscheidungen der Menschen in diesen Gemeinschaften im Konsens zu erzielen. So hatte jede und jeder ein Mitspracherecht bei der Organisierung des Lebens. Delegierte der Klans in Dorf- oder gegebenenfalls auch Regionalräten mußten sich an die Vorgaben ihrer jeweiligen Basis halten.

Auf der religiös-spirituellen Ebene waren Matriarchate sakrale Gesellschaften. Mutter Erde mit all ihren Geschöpfen, alle Menschen, Flora und Fauna wurden als heilig betrachtet und geehrt.

SB: Wie ist denn Ihr Interesse an der kurdischen Bewegung entstanden?

BP: Vor zwei Jahren hielt Meike Nack von der "Stiftung der Freien Frauen in Rojava" einen Vortrag in München. Da lernte ich das Gesellschaftsmodell von Abdullah Öcalan kennen und stellte viele Übereinstimmungen fest zwischen dem, was ich über matriarchale Gesellschaften weiß, und dem, was die Frauen und Männer in Rojava und anderen Teilen Kurdistans in die Praxis umsetzen.

Ich befaßte mich dann mit den Schriften von Abdullah Öcalan, insbesondere mit der kleinen Broschüre "Die Revolution der Frau" [2], und schätze sehr, daß er die matriarchale Frühgeschichte in Mesopotamien vermittelt, wo die Frauen noch frei waren, daß er die spätere Versklavung der Frau als Grundlage aller folgenden Versklavungen im Patriarchat sieht und dementsprechend die Befreiung der Frau als Voraussetzung für eine freie Gesellschaft erachtet, und daß er schon so viele Frauen und Männer inspiriert hat, eine freie, geschlechtergleichwertige, basisdemokratische und ökologische Gesellschaft aufzubauen.

SB: Hier in Deutschland sind die Thesen Öcalans zur Frauenfrage und der hohe Stellenwert der Frau in der kurdischen Bewegung nicht sehr bekannt. Könnte die Matriarchatsforschung da als Informationsmittlerin fungieren?

BP: Es macht mir Freude, die Matriarchatsforschenden mit dem Rojava-Modell bekannt und andererseits die Menschen, die bei uns und in Kurdistan an dem neuen Gesellschaftsmodell arbeiten, mit den Erkenntnissen der Matriarchatsforschung vertraut zu machen, sie zum Beispiel aufmerksam zu machen auf die Überlebensstrategien einiger noch bestehender matriarchaler Gesellschaften.

SB: Vielen Dank, Frau Pade, für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] Siehe das Interview mit Fawza Yusuf im Schattenblick unter INFOPOOL → BUERGER → REPORT:
INTERVIEW/357: Gegenwartskapitalismus - Emanzipation und Demokratie für alle ...    Fawza Yusuf im Gespräch (SB)

[2] Befreiung des Lebens: Die Revolution der Frau, von Abdullah Öcalan, zweite Auflage 2016. Broschüre mit Texten aus verschiedenen Büchern Abdullah Öcalans, herausgegeben von der Internationalen Initiative "Freiheit für Abdullah Öcalan - Frieden in Kurdistan", Köln. ISBN: 978-3-941012-88-2


Beiträge zur Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern III" im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BUERGER → REPORT:

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12. Mai 2017


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