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INTERVIEW/340: Übergangskritik - Wandlungsthesen ...    Michael Brie im Gespräch (SB)


Plädoyer für eine wirkmächtige Erzählung der Linken

Interview am 4. März 2017 in Berlin


Ob man es bei den seit 2008 anhaltenden Verwerfungen mit einer der wiederkehrenden zyklischen Krisen des Kapitalismus oder vielmehr mit dessen finalem Abgesang zu tun habe, ist eine Frage, die nicht nur die Linke, sondern längst auch Teile des bürgerlichen Lagers umtreibt. Weithin Einigkeit dürfte darüber herrschen, daß es den Kapitalismus, wie wir ihn kennen, binnen weniger Jahre nicht mehr geben wird. Während die einen bereits ein Verfallsdatum prognostizieren, gemahnen andere an diverse weit zurückliegende Vorhersagen vom nahen Ende des Kapitalismus, der sich demgegenüber als bemerkenswert wandlungsfähig erwiesen habe. Angesichts der multiplen Krise globalen Ausmaßes drängt sich zudem die Warnung Rosa Luxemburgs auf, daß entweder der Sozialismus erkämpft werde oder die Barbarei unabwendbar sei.

Der Eindruck, daß die ganze Welt aus den Fugen geraten sei, trügt sicher nicht: Mit Dürren und Fluten kündigt sich der Klimawandel an, von der westafrikanischen Sahelzone bis an die Grenzen Chinas herrscht Krieg, Millionen Menschen sind auf der Flucht, wie riesige Konverter sammeln und verschlingen die Megacitys des globalen Südens das Elend überflüssig gemachter Menschenmassen. Der Kapitalismus umspannt den Globus als Weltsystem und hat die Menschheit an den Rand eines Abgrundes getrieben, den niemand ausloten kann, von dem aber alle wissen, daß er sehr tief ist. Will man nicht einer apokalyptischen Stimmung verfallen, die sich aus einer bloßen Interpretation zutiefst erschreckender Phänomene speist, gilt es, deren Genese und Folgekonsequenzen einer substantiellen Analyse zu unterziehen.

Zwei irreversible Folgen der wachstumsgetriebenen und warenerzeugenden Produktionsweise zeichnen sich unabweislich ab. Zum einen sind die Ressourcen des Planeten in einem Maße ausgeplündert, daß das Überleben eines wachsenden Teils der Menschheit nicht mehr gewährleistet ist. Zum anderen stößt die Kapitalverwertung an ihre Grenzen, da die beiden Quellen der Wertschöpfung, nämlich Natur und menschliche Arbeitskraft, in Folge der Produktivkraftentfaltung ihre Profitabilität zusehends einbüßen. Die zirkulierenden Geldmengen übersteigen die weltweite Wirtschaftsleistung längst um ein Vielfaches, so daß de facto kein Äquivalent von Geldwert und Gütern mehr existiert. Was euphemistisch als Anlageproblem beschrieben wird, zeugt von einem rasanten Verfall der vom Profit beflügelten Wirtschaftsweise. Der massive Schwenk zu finanzkapitalistischen Verwertungshoffnungen hat die grundsätzliche Krise zur Explosion gebracht. Der verstärkte Rückgriff auf Formen der ursprünglichen Akkumulation wie Land, Grundrechte oder Immobilien verschafft allenfalls einen befristeten Aufschub.

Das ist keine gute Nachricht, wäre doch die bloße Hoffnung, der Kapitalismus werde gewissermaßen von selbst zusammenbrechen, ein denkbar schlechter Ratgeber, da dieser Verlauf keinen Deut an der eigenen Ohnmacht ändern würde. Endet die warenproduzierende Profitwirtschaft und damit der Kapitalismus, wovon man wohl ausgehen kann, muß das keineswegs für die Herrschaft gelten, die oftmals in einer ökonomistischen Verkürzung mit der Produktionsweise gleichgesetzt wird. Die Menschheitsgeschichte zeichnet sich durch eine schubweise Innovation der Verfügungsgewalt aus, weshalb auf die kapitalistische Gesellschaftsordnung ein noch weniger aus dem Feld zu schlagendes Regime herrschaftsförmiger Verhältnisse zu folgen droht. Sollte es die Linke unterlassen, diese Gefahr zu identifizieren und auszuloten, wüchse sich die strategische Lücke gleichsam zu einem blinden Fleck in der Kontroverse um das Ende des Kapitalismus aus.

Am Sterbebett des Kapitalismus?

"Am Sterbebett des Kapitalismus? - Kapital, Krise, Kritik". Zu einer Konferenz, die der Auseinandersetzung mit dieser Fragestellung gewidmet war, hatten das Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und die Helle Panke e.V. am 3. und 4. März nach Berlin eingeladen. Gehen sollte es dabei um eine kritische Auswertung der vorliegenden Veröffentlichungen zur Krise des Kapitalismus, der darin enthaltenen Analysen, Alternativvorstellungen und Subjekte einer Transformatiom.

Beim ersten Panel zum Thema "Wie der Kapitalismus enden wird" unterzogen Michael Brie (RLS) und Klaus Steinitz (Helle Panke) die Analysen Wolfgang Streecks einer kritischen Würdigung. Der Soziologe war zwar in den 60er Jahren SDS-Mitglied, gehörte aber in den 90ern eher dem rechten Flügel der SPD an und war Mitglied der Expertenkommission, welche die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze vorbereitet hat. Mithin ein Vordenker der neoliberalen Wende der Sozialdemokratie, hat Streeck in jüngerer Zeit überraschend mit seiner Publikation "Wie wird der Kapitalismus enden?" [1] weithin von sich reden gemacht.

Wie Klaus Steinitz, ehemals Mitglied der staatlichen Plankommission der DDR und Anfang der 90er Jahre im Parteivorstand der PDS, ausführte, geht Streeck von einer langen Periode des Verfalls des Kapitalismus aus. Ein Rückgang des Wirtschaftswachstums, ein Anstieg der Gesamtverschuldung und wachsende Ungleichheit seien mit fünf strukturellen Funktionsstörungen verbunden: Stagnation, oligarchische Umverteilung, Plünderung des öffentlichen Sektors, Korruption und eine aus den Fugen geratene Weltwirtschaft. Die Heirat von Kapitalismus und Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg sei zu einem Ende gekommen.

Steinitz hält dies für einen wichtigen Beitrag zur Kapitalismusdiskussion, zu dessen Schwächen jedoch die mangelnden Handlungsoptionen zählten. Zudem blieben für die Perspektive des Kapitalismus entscheidende langfristige Trends wie insbesondere die Zerstörung der Umwelt und der Klimawandel unberücksichtigt. Streeck halte den Kapitalismus für nicht mehr rettbar und rate, über Alternativen nachzudenken, unterlasse es aber, von Transformationsschritten zu sprechen, die einen Übergang herbeiführen könnten. Demgegenüber sei die Linke gefordert, Entwürfe für eine zukünftige Gesellschaft zu entwickeln, wobei Steinitz insbesondere eine Synthese aus Planung und Markt, eine Demokratisierung in allen Bereichen und einen umfassenden weltweiten Reformprozeß für unabdingbar erachtet.

Michael Brie wurde 1988 Dozent für Historischen Materialismus an der Humboldt-Universität und war dort von 1990 bis 1994 Professor für Sozialphilosophie. Er war Mitglied in verschiedenen Programmkommissionen der PDS und der Partei Die Linke und maßgeblich am Aufbau der Rosa-Luxemburg-Stiftung beteiligt, unter anderem als Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse, dessen Mitarbeiter er im Zuge einer Rotation der Funktionen jetzt ist. Unter seinen zahlreichen Publikationen sind mit Blick auf das Konferenzthema "Mit Realutopien den Kapitalismus transformieren" (2015) [2] und "Polanyi neu entdecken" (2015) [3] zu nennen, er war Mitherausgeber zahlreicher Bände zur Transformationsforschung und hat 2016 mit Lutz Brangsch "Das Kommunistische oder Ein Gespenst kommt nicht zur Ruhe" [4] veröffentlicht.

Im Panel warf Michael Brie die Frage auf, warum Streeck das Denken über den Kapitalismus in Deutschland in den letzten Jahren wie kein anderer Autor verändern konnte. Streeck erkläre, daß man wesentliche Prozesse ohne die Kenntnis von Marx nicht verstehen könne, und sage, daß die Alternative zu einem Kapitalismus ohne Demokratie eine Demokratie ohne Kapitalismus wäre. Er bekenne sich in jüngster Zeit sogar zum Sozialismus, da er kein anderes Konzept für eine mehr gemeinschaftliche, mehr auf die anderen achtgebende und kollektiv verantwortliche Lebensweise kenne.

Brie schlug vor, nicht so sehr darauf zu sehen, was Streeck sagt, sondern wie er es sagt, ihn also als Erzähler zu würdigen. Wolle man die Diskursschwäche der Linken begreifen, müsse man dies genauer analysieren. Streeck sei zwar schon lange einer der führenden deutschen Sozialwissenschaftler, aber primär nur in der Scientific Community und als Politikberater bekannt gewesen. Zuletzt habe er jedoch einen Rollenwechsel hin zu einem öffentlichen Intellektuellen vollzogen, da es ihm gelungen sei, sozialwissenschaftliche Kompetenz in eine neue wirkungsmächtige Erzählung einzubetten. Wolle man solche Wirkung im öffentlichen Raum hervorbringen, müsse man eine Geschichte erzählen. Die bedeutendsten Intellektuellen des 19. und 20. Jahrhunderts seien allesamt große Geschichtenerzähler und zugleich brillante sozialwissenschaftliche Analytiker gewesen. Dieser Symbiose entspringe ihre Wirkungsmacht.

Wie der ungarische Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi 1943 geschrieben habe, hätten die Rechten ihre eigene Erzählung über die Weltkatastrophe, während die Linken erst noch ihre Erzählung hervorbringen müßten. Milton Friedman habe 1982 hervorgehoben, daß nur eine wirkliche oder wahrgenommene Krise tatsächlichen Wandel erzeuge. Trete eine Krise auf, hingen die ergriffenen Maßnahmen von den Ideen ab, die im Umlauf seien. Es gelte daher, Ideen bereitzuhalten, bis das politisch Unmögliche politisch unausweichlich wird.

Das Hauptproblem der Streeckschen Erzählung sei ihr fatalistischer Charakter eines Verfalls ohne Eingriffsmöglichkeiten. Wolle man wissen, wie eine gute Erzählung aufgebaut ist, schaue man am besten in die Grimmschen Märchenbücher, so Brie. Da finde man Helden und Schufte, Helfer des Helden, Helfer der Schufte, die Guten, die belohnt werden, die Bösen, die bestraft werden. Streeck erzähle eine Geschichte, in der die Bösen immer stärker werden und die Guten immer schwächer, von guten Helden könne keine Rede sein, weil sie alle als kraftlose Feiglinge erschienen.

Als zweites maßgebliches Stichwort hob Brie das Interregnum hervor: Die Verfallsgeschichte sei bei Streeck zuletzt durch das Interregnum präzisiert worden, also eine Zwischensituation ohne legitimen Herrscher. Streeck spreche von einer de- oder unterinstitutionalisierten Gesellschaft, die er als Abweichung vom Normalzustand darstelle, dem etwas fehle. Dagegen seien drei Einwände vorzubringen: Schon Marx habe in den Grundrissen darauf hingewiesen, daß in der Krise einer Gesellschaft zugleich neue Muster, Nischen, Symbiosen oder Hybriden entstünden, die durchaus besonders handlungsfähig sein können. Gramsci spreche vom Interregnum als einer Zeit großer Ambitionen, in der neue Kräfte aufsteigen. Zum dritten habe das Institut für Gesellschaftsanalyse bereits 2011 vorhergesagt, daß der herrschende politische Block zerfallen werde und die Zerfallsprozesse eine neue starke Rechte hervorbringen würden, aber auch Ansätze eines grün-sozialen Kapitalismus. Die Linke müsse sich dazu verhalten und eigenständig als dritter Pol positionieren. Es müsse nicht bei Streecks Verfallsgeschichte bleiben, vielmehr könnten auch strategische Handlungsoptionen und -motivationen erschlossen werden. Es könnte also auch die Erzählung einer neuen starken Linken werden.

Am Rande der Konferenz beantwortete Michael Brie dem Schattenblick einige Fragen zu der positiven Erzählung, der Veränderbarkeit des Kapitalismus, der Rolle von Martin Schulz und zur Rosa-Luxemburg-Stiftung.


Beim Vortrag - Foto: © 2017 by Schattenblick

Michael Brie
Foto: © 2017 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Ein zentrales Thema der Konferenz, das teils im Hintergrund, teils im Vordergrund immer wieder auftauchte, war die positive Erzählung, die positive Geschichte. Was hat es damit auf sich?

Michael Brie (MB): Wenn man mit Menschen redet oder Umfragen glaubt, gibt es doch ein enormes Problembewußtsein bei sehr, sehr vielen Leuten, welcher politischen Couleur auch immer. Alle wissen, daß es jede Menge sozialer Probleme und enorme Unsicherheit gibt. Es gibt große Angst, im Alter arm zu sein, es gibt Angst, daß die Kinder die Schule nicht richtig hinkriegen, auf dem Bildungsweg steckenbleiben oder sich nicht etablieren können, es gibt enorm viele Zukunftsängste, bezogen auf die eigene und die nachfolgende Generation. Es gibt ein enormes Bewußtsein bei der ökologischen Frage, es weiß jeder, wie gefährlich es ist, daß wir den Bach runtergehen, weil wir mehr zerstören, als wir gegenwärtig schaffen.

Kurioserweise erinnert mich das an die Spätzeit der DDR. Damals war die Situation insofern ähnlich, als man das Gefühl hatte, in einer Art Sackgasse zu stecken und nicht zu wissen, wie man wieder herauskommt. Im Grunde wird immer der gleiche Typ von Fragen gestellt, das ist meines Erachtens ganz charakteristisch für Krisenzeiten, in den letzten 200 Jahren war das eigentlich immer so. Gegenwärtig sind wir in einer solchen Situation, und die Leute haben überdies Angst, daß eine neue Finanz- und Wirtschaftskrise selbst diese relative Stabilität gerade in Deutschland neu gefährdet und viel drastischer gefährdet. Dieses Bewußtsein ist vielleicht im Kontext des gesamten Krisenbewußtseins noch am wenigsten entwickelt, aber wir merken es an der Niedrigzinspolitik, die dann durchschlägt auf Lebensversicherungen und ähnliche Vorsorgesysteme, also den doch nicht unbeträchtlichen Teil der Bevölkerung, der noch irgendwelches Finanzvermögen hat. Das ist die Situation.

Die Frage lautet: Wie kommt man da raus? Wir haben in den USA gesehen, daß ein absoluter Außenseiter Präsident geworden ist. Die Idealkandidatin mit ungeheurer Erfahrung, ungeheuer viel Geld, ungeheuer viel Know how, ungeheuer viel Unterstützung hat plötzlich gegen jemanden wie Trump verloren. Bei uns in Deutschland schien noch vor ganz kurzer Zeit Frau Merkel für immer da zu sein. Das war sozusagen Gesetz, wenn sie antritt, wird sie gewinnen, dachte doch jeder. Plötzlich hat sie einen ernsthaften Konkurrenten. Wir haben eine Situation in Frankreich, wo fast alle Kandidaten jenseits des Front National gefährdet sind - wir werden sehen, wie es ausgeht - teilweise herrschen dort fast bürgerkriegsähnliche Zustände auf den Straßen, und wir erleben eine enorme Zuspitzung auch bei uns. Ich will nur sagen, daß die herrschenden Kreise, die das alles fest im Griff und die Krise einigermaßen bewältigt zu haben schienen, zerfallen und Macht verlieren, weil die Leute nach Antworten suchen. Wir haben es in den USA gesehen, wo es keiner für möglich gehalten hätte, daß jemand unter Berufung auf demokratischen Sozialismus, ein älterer Herr, der noch zehn Jahre älter ist als ich, ich sage jetzt mal zugespitzt, in einem nicht besonders gut sitzenden Anzug, mit einer ziemlich simplen Sprache Hunderttausende und Millionen junger Leute begeistert, die sich ungeheuer engagiert haben. Wir haben das gleiche in England gesehen mit Corbyn, Hinterbänkler seit dreißig Jahren, ist immer stur seinem Gewissen gefolgt, hat für Frieden, gegen Sozialkürzungen, immer gegen alle herrschenden Parteien gestimmt und immer hinten gesessen. Plötzlich ist er Oppositionsführer.

Das zeigt, daß es von rechts wie von links Herausforderer gibt, es kommt zu einer Polarisierung. Diejenigen, die bisher den Mittelkurs gefahren haben - siehe Schröder und Blair, Gabriel oder Merkel, von Hollande und anderen will ich gar nicht reden -, sind in echten Schwierigkeiten, weil die Leute ihnen nicht mehr glauben. Deswegen suchen sie nach positiven Erzählungen. Das können solche Erzählungen wie die Trumps sein: Wir bauen eine Mauer, wir sorgen dafür, daß die Arbeitskräfte nicht mehr ins Ausland wandern, wir werden uns auf unsere eigenen Energieressourcen konzentrieren und seien sie noch so dreckig, also die schmutzig-autoritäre Variante, wir werden auf Militär und Atombomben setzen, auf unsere eigene Stärke "Make America great again!". Oder aber jene, die genau die entgegengesetzte Sprache sprechen. Und das ist eine neue Situation, weil die Menschen erkennen, daß es so, wie es jetzt läuft, einfach nicht gut ist, auch wenn es ihnen gar nicht so schlecht geht. Aber sie haben das Gefühl, daß das nicht gut sein kann. Und deswegen sind sie bereit, nach rechts oder auch nach links zu gehen. Das ist die Herausforderung, über die wir reden müssen. Trump hat gezeigt, wie man mit relativ einfacher Erzählung von rechts viele Menschen erreicht. Marine le Pen zeigt es auch, sie wird wahrscheinlich 40 Prozent bei den Präsidentschaftswahlen kriegen, vielleicht wird es noch knapper, wobei ich immer noch hoffe, daß sie nicht durchkommt.

Es gibt also wirkungsstarke Erzählungen von rechts, und wir müssen an anderen arbeiten, die genauso aus dem Alltag kommen, die die Leute ja selber erzählen: Wie muß ein Schulsystem beschaffen sein, das meine Kinder nicht gefährdet, daß ich mir auch nicht Tag und Nacht nur Sorgen darum machen muß? Wie muß ein Rentensystem aussehen, wie muß ein Gesundheitssystem aussehen? Daß darüber sehr viel geredet wird, merke ich auch in meinem eigenen Umfeld im breitesten Sinne. Es gibt zum einen diese uns unmittelbar bedrängenden Gefährdungen und zum anderen die großen Gefährdungen, die vor allem die ökologischen Fragen betreffen. In einem Zeitalter, wo wir selber ja überall hinfahren, wo wir auf alle Informationen überall auf der Welt zugreifen können, kann es der Rest der Menschheit auch. Die sagen sich mit Recht, das lassen sie sich nicht länger gefallen, daß sie in einer so anderen Welt leben. Die ist nicht mehr selbstverständlich. Menschen, die für wenig Geld Zugang zu Internet oder Fernsehen haben, und das gilt heute für die übergroße Mehrheit der Weltbevölkerung, wollen nicht länger hinnehmen, daß sie selber und ihre Kinder und Enkel in diesem Elend existieren müssen. Wir haben hier eine globalisierte ökologische Frage, die zugleich eine soziale ist, weil wir die Lebensmöglichkeiten der zukünftigen Generationen zerstören, weil wir auf Kosten zukünftigen Generation leben, und das wissen die Leute auch.

Es kommt also darauf an, diese Fragen, die die Menschen in Deutschland unmittelbar bedrängen, mit den umfassenderen Fragen so zu verbinden, daß daraus nicht die Überzeugung erwächst, wir wissen das alles, können aber gar nichts tun. Man muß folglich aufzeigen, wie Handlungsoptionen entstehen können. Das ist auf der Konferenz meines Erachtens bisher zu wenig diskutiert worden.

Für mich wäre ein wichtiges Beispiel ein entgeltfreier öffentlicher Nahverkehr, also der Luxus einer freien öffentlichen Beweglichkeit, der dann natürlich durch uns gemeinsam finanziert werden muß. Die Kosten sinken trotz allem für jeden einzelnen von uns deutlich, aber es wäre sozusagen eine Art Zwangsabgabe, zu der alle beitragen müssen. Die mit Vermögen würden stärker herangezogen als andere, aber letztlich müssen alle irgendwie mitzahlen. Auf diese Weise ließe sich der Luxus des Öffentlichen für alle gegen den Luxus des Privaten durchsetzen. Wir haben in Deutschland in der Mehrheit Autofahrer, aber zugleich Gruppen, die in ihrer Mobilität wesentlich eingeschränkt sind, im globalen Süden ist das der größte Teil der Bevölkerung. Da kann man sehen, wie die ökologische Frage, die soziale Frage und die Frage der Gestaltung des öffentlichen Raums als demokratische Frage von der Hoffnung her positiv miteinander verbunden werden können. Wir müssen über solche konkreten Hoffnungsprojekte, für die es ja Beispiele wie einen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr, Beispiele für ein gutes Bildungs- und Gesundheitswesen, sogar sehr gute Beispiele für das Rentensystem gibt, sehr viel mehr reden, damit die Leute sehen, daß es ja eigentlich alles machbar ist. Wir müssen bloß (in Anführungsstrichen) die machtpolitischen Voraussetzungen schaffen.

SB: In den heutigen Diskussionen stand des öfteren die Frage im Raum, ob man vor dem Ende des Kapitalismus überhaupt eine dauerhafte positive Veränderung herbeiführen kann. Es ist der alte Streit darüber, ob die herrschenden Verhältnisse aus sich selbst heraus an ihre Grenze getrieben und überwunden werden könnten. Welche Position würden Sie in diesem Zusammenhang favorisieren?

MB: Ich habe gemeinsam mit meinem Kollegen Dieter Klein das Konzept der doppelten Transformation entwickelt: Wir kämpfen für Strukturveränderungen im Hier und Jetzt. Öffentlicher Personennahverkehr heißt natürlich, daß der Verkehr in die Hände der Kommunen übergeht. Es ist nicht das private Auto, das privat durch Großkonzerne produziert wird, sondern es sind Verkehrssysteme im öffentlichen Eigentum, über deren Gestaltung wir gemeinsam entscheiden. Man kann dann weiter darüber nachdenken bis hin zur Finanzierung über ein öffentliches Banksystem. Das ist konkrete Veränderung im Hier und Jetzt, die zugleich die Vormacht kapitalistischer Entscheidungsprozesse zurückdrängt und schrittweise, das ist die Überlegung, überwindet. Das wissen wir ja alles nicht. Wenn solche Lernprozesse ablaufen und Menschen sehen, daß das möglich ist, kann es auch schnell gehen. Ein wenngleich nicht sehr schönes Beispiel ist der Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg. Damals wurde von einem Tag auf den anderen die private Autoindustrie auf Rüstungsindustrie umgestellt. Wenn Gesellschaften sehen, daß etwas getan werden muß, können auch Dinge sehr schnell vollzogen werden. Wir müssen heraus aus dieser Ohnmachtsvorstellung, und es stellt sich die Frage, wie wir die Voraussetzungen für einen wirklich großen politischen Willen schaffen, die drängendsten Gegenwartsfragen und die langfristigen Fragen gemeinsam anzugehen. Wir müssen von dieser Trennung wegkommen und schauen, wie Projekte so gestaltet werden können, das beides zugleich angegangen wird. Das ist machbar, denn so intelligent sind wir allemal, denke ich.

SB: Wir erleben derzeit das Phänomen Martin Schulz, der sich soziale Gerechtigkeit auf die Fahne geschrieben hat. Ist das eine Erscheinung, die auch unter die positive Erzählung fallen würde oder handelt es sich eher um eine kurzfristige Scheinblüte?

MB: Man muß klar sagen, daß die SPD unter Schröder mindestens zwei verheerende Dinge durchgesetzt hat. Sie hat erstens das lebenssichernde Rentensystem in Deutschland zerstört. Das Ausmaß dieses Prozesses ist vielleicht vielen gar nicht klar gewesen, als es damals losging. Aber es bedeutet doch, daß ein Großteil der Leute gegenwärtig Angst hat, daß sie, obwohl sie hart arbeiten, am Ende bei der Sozialhilfe landen. Man muß sich im klaren darüber sein, was das für die Lebensperspektive bedeutet, daß man arbeitet und später, wenn man dazu nicht mehr in der Lage ist, den Lebensstandard nicht mehr halten kann. Wenn wir mit der Rente bei 45 Prozent des Bruttodurchschnittsverdienstes landen, dann sind wir am Rande oder unter der Sozialhilfe. Das kann prinzipiell nicht sein. Ich kann bis heute nicht fassen, daß eine Sozialdemokratie die größte Errungenschaft der Adenauerzeit zerstört hat. Das ist mir völlig rätselhaft. Dahinter stand auch Bismarcks Überlegung, wir sorgen dafür, daß sich alle Staatsbürger Deutschlands sozial sicher fühlen.

Die zweite Maßnahme war Hartz IV, daß Leute nach zwölf Monaten faktisch solange ihr gesamtes Vermögen abwickeln müssen, bis sie arm sind, und dann Unterstützung bekommen. Das ist genauso verheerend, weil es das Fundament sozialer Sicherheit zerstört. Das darf einfach nicht sein, denn wir sind reich genug, um uns etwas anderes zu leisten. Es gibt zwar Probleme wie Mißbrauch, die man offen einräumen kann, doch darf man deswegen nicht 90 Prozent der anderen Leute bestrafen. Das geht überhaupt nicht.

Martin Schulz ist der erste Kanzlerkandidat der SPD, der versucht, da eine Wende herbeizuführen. Wir haben als Institut für Gesellschaftsanalyse schon vor Jahren vorhergesagt, daß in dieser Krise der Block aus CDU/CSU und SPD zerfallen wird. Es gibt Tendenzen nach rechts, wie es Seehofer vormacht, der inhaltlich in vielem durchaus gemeinsame Positionen mit der AfD vertritt. Schulz macht das plötzlich in die andere Richtung und rumms steigt die SPD um acht oder zehn Prozent in den Umfragen, teilweise auch auf Kosten der Grünen und der Linkspartei. Trotzdem verändern sich, wenn man die Zahlen zusammenlegt, die Kräfteverhältnisse. Das ist weiter steigerungsfähig. Wir hatten den Mittelpol, der durch Merkel und Gabriel vertreten wurde, wir hatten den rechten Pol und dann haben wir gesagt, wir brauchen einen dritten Pol. Die Linke muß darauf hinarbeiten, wir müssen die Grünen gewinnen und wir müssen hoffen, daß die SPD endlich begreift, daß sie in der Mitte niemals wieder den Kanzler stellen wird. Schulz hat offensichtlich diesen Schluß für sich selber und für seine Partei gezogen. Die SPD wird ja immer mit einem Tanker verglichen, der für eine Kurve eine Weile braucht. Ich weiß nicht, ob er die Kurve kriegt, aber wenn die SPD hinreichenden Machtwillen aufbringt, und den würde ich Schulz nun wirklich zutrauen, denn er ist ehrgeizig und will wirklich Kanzler werden, dann wird er den Tanker SPD noch ein bißchen herumdrehen müssen, und dabei sollte ihn die Linkspartei unterstützen.

Aber das ist nicht zum Nulltarif zu haben. Wir haben das schon in der PDS und dann in der Linkspartei immer vertreten, daß wir einen Richtungswechsel der Politik wollen, nicht einen Personalwechsel. Mir ist völlig egal, ob Merkel oder Schulz regiert, wenn sie die gleiche Politik vertreten. Gabriel wäre, wenn auch mit Modifikationen, das gleiche gewesen. Jetzt gibt es - wir haben das in den USA gesehen, wir sehen es in Großbritannien - Chancen für einen Richtungswechsel, aber da muß man ungeheuren Mut haben, weil das ein harter Kampf ist. Wenn man sich ansieht, wie der neoliberale Wechsel von Thatcher und Reagan damals von rechts durchgepowert wurde, müßten Martin Schulz und Co. mindestens den gleichen harten Machtwillen haben. Thatcher und Reagan hatten die Unterstützung der Großkonzerne und Banken, hier geht es darum, deren Macht zu schwächen. Das heißt, wir müssen noch härtere Bandagen und Machtmittel haben, das auch klar kommunizieren und überdies einen längeren Atem haben. Darüber muß man sich im klaren sein, es ist jedoch ein Hoffnungszeichen, womöglich aber auch nur ein kurzes Aufflackern.

SB: Die Rosa-Luxemburg-Stiftung verfügt über ein beträchtliches Potential an Forschung, Bildung, Schulung und Diskussion. Ist ihr Schwerpunkt ein politischer oder ein sozialer Auftrag?

MB: Wie die anderen politischen Stiftungen sind auch wir eine parteinahe Stiftung. Wir sind indessen nicht so sehr der Parteiorganisation nah, als vielmehr bestimmten Grundvorstellungen verpflichtet, die wir im Sinne Rosa Luxemburgs demokratischer Sozialismus nennen, es ist also kein leninistischer, sondern ein luxemburgianischer radikaldemokratischer Sozialismus. Wir machen Bildung, haben hier auch ein Forschungsinstitut, wir fördern über unser Studienwerk sehr viele Studierende auch aus sozial benachteiligten Zusammenhängen, die in verschiedenster Form sozial engagiert sind, und wir haben mehr als zwanzig Auslandsbüros, weil wir uns darüber im klaren sind, wie das heute noch einmal deutlich geworden ist, daß es übergreifende globale Strukturprobleme gibt, die sich in den einzelnen Ländern völlig unterschiedlich darstellen. Ein Thema war vorhin Konversion: Wir müssen unsere Autoindustrie schrittweise umbauen in Industrien, die ganz anderen Zielen dienen, und zugleich extraktivistische Industrien wie die Braunkohle, über die wir vorhin gesprochen haben, aber ebenso Ressourcen ausbeutende Industrien im globalen Süden zurückfahren. Das sind gemeinsame Aufgaben unserer internationalen Arbeit, Lernprozesse zu organisieren und darüber, das ist ja unser Hauptziel, in dieser Spannbreite möglichst effektive öffentliche Diskurse zu führen.

SB: Herr Brie, vielen Dank für dieses Gespräch.


Veranstaltungsflyer - Grafik: © 2017 by Rosa-Luxemburg-Stiftung

Grafik: © 2017 by Rosa-Luxemburg-Stiftung


Fußnoten:

[1] Wolfgang Streeck: Wie wird der Kapitalismus enden? In: Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015, Seite 99-111)

[2] Michael Brie (Hrsg.): Mit Realutopien den Kapitalismus transformieren?, VSA Verlag Hamburg 2015

[3] Michael Brie: Polanyi neu entdecken. Das hellblaue Bändchen zu einem möglichen Dialog von Nancy Fraser und Karl Polanyi, VSA Verlag Hamburg 2015

[4] Lutz Brangsch, Michael Brie (Hrsg.): Das Kommunistische Oder: Ein Gespenst kommt nicht zur Ruhe, Rosa-Luxemburg-Stiftung 2016

10. März 2017


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