Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REPORT


INTERVIEW/313: Die Zwischentürkei - ethnozidale Zielstrebigkeit ...    Cihan Ipek im Gespräch (SB)


Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung der Kurden?

Veranstaltung "Sicherer Drittstaat Türkei?" am 11. April 2016 in Kiel


Cihan Ipek ist seit 1988 als Rechtsanwalt in seiner Heimatstadt Diyarbakir tätig und dort Stellvertretender Vorsitzender der Anwaltskammer. Bei der Veranstaltung "Sicherer Drittstaat Türkei?" im Kieler Landeshaus hielt er einen Vortrag zum Thema "Die Türkei als Zufluchtsort und als Ursache für Fluchtbewegungen". Im Anschluß daran beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zu den Zielen der türkischen Regierung bei der aktuellen Kriegsführung in den Kurdengebieten, zur Rolle der HDP und zur Situation in Nordsyrien.


Im Gespräch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Cihan Ipek
Foto: © 2016 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Die Frage, die heute zwar angerissen, aber nicht zur Gänze beantwortet wurde, betrifft die Strategie der türkischen Regierung in der Kurdenfrage. Halten Sie es für denkbar, daß die Kurden vollständig aus ihren Wohngebieten im Südosten der Türkei vertrieben werden sollen?

Cihan Ipek (CI): Im Grunde genommen sind sie aus den Städten, die ihre Autonomie ausgerufen haben, bereits vertrieben worden. Die türkische Armee hat ganze Stadtbezirke mit starkem Artilleriefeuer eingedeckt, so daß die Menschen auch infolge der erbitterten Kämpfe zwischen der Armee und der PKK-Jugendorganisation flüchten mußten. Besonders in den davon betroffenen Stadtteilen von Diyarbakir gibt es keine Menschen mehr. Neben den Wohnvierteln sind auch 623 unter Denkmalschutz stehende Gebäude stark beschädigt worden. Die Menschen sind entweder in umliegende Stadtviertel oder andere Städte gezogen. Cizre beispielsweise war eine Stadt mit 87.000 Menschen, die Hälfte davon ist geflüchtet. Ich weiß nicht, ob sie inzwischen wieder zurückgekehrt sind, aber selbst wenn, ist das kein Ort mehr zum Leben.

SB: Wenn so viele Menschen versuchen, bei Verwandten oder Bekannten unterzukommen, müßte es doch eine große Binnenflüchtlingsbewegung innerhalb der Türkei geben. Können Sie das bestätigen?

CI: Es wird gesagt, daß 200.000 Menschen aufgrund dieser letzten Eskalationswelle ihre Wohnorte gewechselt haben. Zum Teil wurden die Menschen von der Stadtverwaltung auch in Hotels untergebracht. Aus Diyarbakir, wo ich herkomme, weiß ich, daß 4.500 Familien aus den verwüsteten Bezirken von der Stadt jeweils eine Miethilfe von tausend türkischen Lira bekommen haben, um sich anderswo einzuquartieren.

SB: Gibt es Pläne, die zerstörten Stadtteile wieder aufzubauen und neu zu besiedeln?

CI: Im Moment gibt es eine große Diskussion darüber. Laut eines Beschlusses des Ministerrats sollen die Besitzer der zerbombten Häuser enteignet und damit auf gewisse Weise entschädigt werden, um mit ihren Familien woanders hingehen zu können. Darüber hinaus plant die Stadt neue Bauprojekte, um Winkel, hinter denen sich Kämpfer verstecken konnten, von vornherein auszuschließen, oder enge Gassen zu verbreitern, die der PKK-nahen Jugendorganisation als Rückzugsfelder dienten. Außerdem sollen mehr Polizeistationen gebaut werden, um Diyarbakir sicherer zu machen.

SB: Was wissen Sie von Plänen, denen zufolge syrische Flüchtlinge in den kurdischen Gebieten angesiedelt werden sollen?

CI: Das ist im Augenblick nur Gerede. Es heißt jedoch, daß die Türkei, nicht unbedingt heute, aber vielleicht in den nächsten Jahren, syrische Flüchtlinge, wenn sie integriert sind und die türkische Staatsangehörigkeit bekommen haben, auf die kurdischen Siedlungsgebiete verteilen will, um so die Demographie in der Südosttürkei zu verändern und gegebenenfalls neue AKP-Wähler zu gewinnen. Das halte ich durchaus für möglich, auch wenn eine solche Entscheidung im Moment nicht existiert. Nur in Gaziantep, Kilis und Kahramanmaras sind syrische Flüchtlinge bisher in größerer Zahl untergebracht worden.

SB: Welche Auswirkungen haben die Armeeangriffe auf die kurdische Kultur und den Zusammenhalt der Menschen?

CI: Von einer gelebten kurdischen Kultur kann im Moment nicht gesprochen werden, weil die Menschen erst einmal damit beschäftigt sind, ein Dach über dem Kopf und eine Arbeit zum Geldverdienen zu finden. Dennoch haben die Bombardierungen des Staates in der Osttürkei viel Unmut unter der Bevölkerung geweckt. Zwar hat die prokurdische HDP bei den letzten Wahlen im westlichen Teil des Landes Stimmen verloren, aber dafür erhielt sie in den östlichen Landesteilen, die überwiegend von Kurden bevölkert sind, eine höhere Quote. Das heißt, es gibt unter den Kurden allgemein eine Stimmung weg von der AKP und hin zu der HDP. Aber ein kulturelles Leben ist in einer Kriegssituation kaum möglich. Man kann keine Hochzeit feiern, wenn Panzer vor der Tür stehen.

SB: Die HDP scheint zeitweise die gesamte Opposition gegen Erdogan zusammengeführt zu haben, was als historisch einmalige Situation gewertet werden könnte. Was halten Sie von dieser Einschätzung?

CI: Die sogenannte Koalition wurde fälschlicherweise so dargestellt, als ob es eine Gegenbewegung zu Erdogan wäre, die sich hinter der HDP versammelt hätte. Das ist aber nicht der Fall gewesen. Vielmehr hat die HDP Wurzeln in den früheren kurdischen Parteien geschlagen und damit quasi deren Wählerschaft erworben. Der Erfolg der HDP ist ein Erfolg des kurdischen Volkes und nicht ein Erfolg der Gegner von Erdogan gewesen. Als die kemalistischen Linken in Istanbul, Ankara und überhaupt im westlichen Teil der Türkei gemerkt haben, daß sie selber nichts gegen Erdogan ausrichten können, schlossen sie sich der HDP an. Aber schon bei der zweiten Wahl nach dem Kriegseinsatz in den kurdischen Gebieten hat man gesehen, daß sie ihre Unterstützung zurückgezogen haben. Trotzdem hat die HDP mit 11 Prozent die Zehnprozenthürde genommen. Meiner Ansicht nach ist das nur auf den Erfolg der Kurden zurückzuführen.

SB: Wie würden Sie denn die Situation in den kurdischen Gebieten in Nordsyrien einschätzen?

CI: Seit die Kurden ihre Gebiete dort wieder unter ihre Kontrolle gebracht haben, ist die Situation friedlich. Sie haben auch kleine, sogenannte kantonale Verwaltungseinheiten gebildet und bekommen viel solidarische Hilfe von außen. Zumindest gibt es keine Fluchtbewegungen aus den syrischen Kurdengebieten in die Türkei. Überwiegend sind es Araber, die aus Syrien in die Türkei kommen. Selbst die Kurden, die früher in die Türkei geflohen waren, gehen zum Teil wieder zurück, weil in ihren Gebieten Frieden herrscht. Dennoch besteht jederzeit die Gefahr, daß der Islamische Staat wieder dort angreift, falls der IS oder eine andere fundamentalistische Opposition in Syrien an die Macht kommt. Niemand gesteht den Kurden autonome Gebiete zu, auch die Freie Syrische Armee nicht, die von der türkischen Regierung unterstützt wird. Das gleiche gilt für Assad. Im Moment kann niemand sagen, wer sich in Syrien durchsetzen wird, aber einstweilen geht es den Kurden in Nordsyrien gut.

SB: Die türkische Regierung hat zumindest im letzten Jahr eine Art Sicherheitszone im Norden Syriens gefordert. Würde das nicht zugleich bedeuten, daß damit auch Angriffe des türkischen Militärs gegen die Kurden leichter fortgesetzt werden könnten?

CI: Die Türkei wollte immer eine Pufferzone haben, um die Flüchtlinge dort unterzubringen, was jedoch auch die Möglichkeit türkischer Angriffe auf die kurdischen Gebiete in Syrien mit einschließt, um zu verhindern, daß die Kurden ihre Autonomie weiter ausbauen. Aber die Weltöffentlichkeit hat diese türkische Politik nicht unterstützt.

SB: Wenn die Repression in der Türkei gegen die Kräfte der Opposition weiter anwächst, besteht dann nicht auch die Gefahr, daß die wie fest auch immer geknüpften Bündnisse im Kontext der HDP wieder aufbrechen?

CI: Ja, seit den Eskalationen in den kurdischen Gebieten im Südosten hat es auch vielfache Menschenrechtsverletzungen im Westen der Türkei gegeben, was zeigt, daß die Regierung autoritärer geworden ist. Aber die Menschen haben noch Hoffnung, daß die Friedens- und Reformprozesse irgendwann weitergeführt werden. Allerdings kann niemand sagen, wie sich die Zukunft entwickeln wird, weil alles mit dem Syrienkrieg und den Konflikten im Nahen und Mittleren Osten zusammenhängt. Auch ist nicht abzusehen, welche Interessen die proislamistische AKP dabei verfolgen wird. Ich persönlich denke nicht, daß sich die Türkei zu einem theokratischen Staat wie im Iran entwickeln wird.

SB: Viele Menschen in der Türkei müssen mehrere Jobs annehmen, um einigermaßen über die Runden zu kommen, und auch die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer weiter. Vor allem in den ländlichen Gebieten sind Unterversorgung und medizinische Notstände nicht selten. Wie würden Sie vor diesem Hintergrund die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung der Türkei einschätzen?

CI: Der Wirtschaft in der Türkei geht es nicht schlecht. In den letzten Jahren, als noch Frieden herrschte, hat sich die Wirtschaftskraft wirklich verbessert, zumal die Türkei keine allzu hohen Schulden beim IWF hat, aber natürlich kann man die Türkei nicht mit Deutschland oder einer anderen Industrienation vergleichen. Immerhin gehört die Türkei zur Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G20) und rangiert an 17. Stelle.

SB: Beim Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei hatte man die Befürchtung, daß damit auch das Schicksal aller Oppositionellen in der Türkei besiegelt sein könnte. Glauben Sie, daß Erdogan bei seinem Feldzug gegen alle Andersdenkenden im Lande nun einen Freibrief in Händen hält, weil das europäische Ausland die Türkei bei der Flüchtlingsregulation braucht?

CI: Ich denke nicht, daß Erdogan alle Oppositionellen zum Schweigen bringen kann, es sei denn, er riskiert, daß die europäischen Staaten die diplomatischen Beziehungen zur Türkei komplett abbrechen.

SB: Herr Ipek, vielen Dank für das Gespräch.


Veranstaltung "Sicherer Drittstaat Türkei?" in Kiel im Schattenblick
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/234: Die Zwischentürkei - nicht sicher, nicht frei ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0234.html

BERICHT/235: Die Zwischentürkei - Sippenhaft und Bürgerkrieg ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0235.html

INTERVIEW/312: Die Zwischentürkei - taktische Spiele, strategische Ziele ...    Martin Link im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0312.html

25. April 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang