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INTERVIEW/249: Brückenbau und freie Wahl ...    Iris Hefets im Gespräch (SB)


Auf Identitätssuche zwischen Tel Aviv und Berlin

Interview am 8. März 2015 in Berlin-Schöneberg


Iris Hefets ist Psychotherapeutin und in der "Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost", der deutschen Sektion der Föderation "European Jews for a Just Peace" (EJJP), aktiv. Laut seiner Satzung setzt sich der gemeinnützige Verein dafür ein, "Personen jüdischer Herkunft eine Plattform" zu bieten, "sich für das allgemeine Ziel der Völkerverständigung und vorrangig für eine gerechte Friedenslösung zwischen Israel und Palästina einzusetzen sowie für ein friedliches Zusammenleben der jüdischen und palästinensischen Bürger und Bürgerinnen Israels zu wirken". Dabei will er "die jüdische Tradition des Strebens nach Gerechtigkeit, Friedfertigkeit und Mildtätigkeit sowie insbesondere den jüdischen Widerstand gegen Willkür und Unterdrückung in Ehren halten und in der jüdischen und nichtjüdischen deutschen Bevölkerung bekannt machen" [1].

Im Gespräch mit dem Schattenblick berichtet Iris Hefets über die in den letzten Jahren stark zugenommene Zuwanderung jüdischer Bürgerinnen und Bürger Israels in die Bundesrepublik Deutschland und dabei insbesondere nach Berlin. Zu diesem Thema wird am 27. März auf Deutschlandradio Kultur die Aufzeichnung einer Diskussionsveranstaltung [2] ausgestrahlt, zu auch der Iris Hefets aufs Podium geladen wurde.


Im Gespräch im Gasthaus Gottlob in Berlin-Schöneberg - Foto: © 2015 by Schattenblick

Iris Hefets
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Frau Hefets, wenn junge Israelis nach Berlin umsiedeln, auch um dem kriegerischen Konflikt im eigenen Land zu entfliehen, kommen sie im Grunde in ein Land, in dem unter dem Leitsatz der Übernahme neuer Verantwortung in der Welt eine starke Militarisierung der Außenpolitik stattfindet. Gelangen sie dadurch nicht gewissermaßen vom Regen in die Traufe?

Iris Hefets (IH): Ich glaube nicht. Im Vergleich zu Israel spürt man hier vom Militarismus nicht viel. Zudem haben die jungen Leute, die hierher kommen, nicht viel Ahnung von Deutschland. Ich muß zugeben, als ich nach Deutschland kam, habe ich die erste Zeit gedacht, ich bin im Paradies gelandet. Das meiste ist hier viel billiger als in Israel. Man kann in einem Straßencafe wie diesem ruhig sitzen und sprechen, in Israel ist der Lärmpegel viel höher. Und so weiter.

Natürlich muß man auch die Frage stellen, wer überhaupt kommt. Es sind vor allem Ashkenasi-Israelis mit europäischer Abstammung, die ausreichend ausgebildet sind, um hier über Stipendien Fuß fassen zu können. Entweder haben sie einen deutschen Paß oder entdecken, daß der deutsche Paß des Opas doch sehr nützlich ist. Auch drängen junge Israelis ihre Eltern, sich einen deutschen Paß ausstellen zu lassen, damit sie nach Deutschland einreisen können. Mit einem deutschen Paß bekommen sie sofort Hartz IV, Integrationskurse und Wohngeld.

Unter den jungen israelischen Umsiedlern gibt es eine Gruppe, die sehr glücklich mit Hartz IV ist, weil sie davon leben können. Man kann sich eine Tasse Kaffee leisten, was in Tel Aviv gar nicht möglich wäre, ohne daß man arbeiten geht. Hier bekommen sie das Geld von einem Staat, mit dem sie gar nichts zu tun haben und dessen Sprache sie nicht sprechen. Doch inzwischen findet bei etlichen ein Integrationsprozeß statt, sie lernen Deutsch und kommen in diesem Land langsam an.

Daneben gibt es noch eine andere Gruppe israelischer Aussiedler mit osteuropäischen, zum Beispiel polnischen, bulgarischen oder rumänischen Pässen. Ihre Pässe hatten lange Zeit keine Bedeutung, aber in den letzten Jahren hat das Ausstellen solcher Pässe einen Anstieg von 450 Prozent erlebt. Das heißt, die Eltern werden regelrecht gedrängt, zur polnischen Botschaft zu gehen, eine Prüfung auf Polnisch zu machen, oder es werden Rechtsanwälte eingeschaltet. Diejenigen Aussiedler aus Israel, die keine deutschen oder europäischen Pässe haben, kommen mit Stipendien für einen Doktor oder Magister z.B.

Dazu gibt es auch viele gemischte Paare - homo- bzw. heterosexuelle - , bei denen einer der Partner einen deutschen Pass hat. Aber auch bei israelischen Paaren reicht es aus, wenn zum Beispiel der Mann einen polnischen Paß hat. Dann hat auch die Frau die Möglichkeit, hier zu leben. Die israelischen Aussiedler haben oft keine Ahnung von einer zunehmenden Militarisierung hier in Deutschland, aber im Vergleich zu Israel ist das wirklich nichts.

SB: Gibt es in der Bundesrepublik hinsichtlich der Paßformalitäten so etwas wie eine Sonderreglung für Bürger Israels aufgrund der historischen Verantwortung Deutschlands?

IH: Nein, die einzige Erleichterung ist, daß Israelis, wenn sie zur Ausländerbehörde gehen, in der Schlange für Kanada und Japan stehen, aber nicht in der für Menschen aus Ghana oder Pakistan oder asiatischen Ländern. Formell gibt es keine besondere Regelung, aber ich kenne auch keinen Israeli, der abgeschoben wurde. Manchmal sind die Beamten wohlwollend, aber das ist nicht immer der Fall. Als Student aus Israel hat man es schon einen Tick leichter.

SB: Aus Gründen der Wiedergutmachung könnte man natürlich für eine Sonderregelung argumentieren, weil unter dem NS-Regime viele jüdische Deutsche nach Palästina emigriert sind. Zumindest ließe sich damit rechtfertigen, daß diese Personengruppe bei der Einwanderung bevorzugt würde.

IH: Ich fände es auch gut, aber noch gibt es so etwas nicht. Wenn Deutschland Verantwortung übernimmt und dem Antisemitismus keinen Raum läßt, damit die Juden ihre Rechte bekommen, dann bitte hier und nicht woanders und nicht auf dem Rücken anderer Menschen. Meine zur Zeit wichtigste politische Aktivität ist, Israelis zu helfen, ihr Land zu verlassen und sich hier eine Perspektive aufzubauen.

Ich halte es persönlich für wichtig, Israel je früher, desto besser zu verlassen, weil es dort keine Zukunft gibt. Alles wird nur schwieriger im Laufe der Zeit, wenn man Familie hat und nicht so leicht Arbeit findet. Auch auf einer politischen Ebene ist eine Ausreise aus Israel wichtig, wenngleich damit das Problem natürlich nicht gelöst wird. Die Masse der Israelis kann das Land ohnehin nicht verlassen und muß bleiben; wenn sie es könnten, hätten viele es schon getan. Als wir Israel vor dreizehn Jahren verließen, wurden wir noch als Verräter betrachtet, aber nach zwei Jahren bekamen wir bei einem Besuch Neid zu spüren. Man gab uns zu verstehen, daß es eine gute Entscheidung war, weil es in Israel nur noch bergab geht.

SB: Nach den Anschlägen von Paris, bei denen auch jüdische Franzosen ermordet wurden, hat Netanjahu zur Auswanderung nach Israel aufgefordert, weil Juden nur dort Schutz geboten würde. Wie ist dieser Aufruf bei Ihnen angekommen?

IH: Das ist lächerlich. Die Chancen, als Jude umzukommen, sind in Israel statistisch gesehen am größten. Natürlich geht es Netanjahu nicht darum. Vielmehr hat das zionistische Konzept den Antisemitismus regelrecht verinnerlicht, denn es heißt, daß Juden unter anderen Menschen immer ausgegrenzt würden und daher ihre Rechte nur bekommen könnten, wenn sie in Israel lebten. Im NS-Staat wurden auch Schwule vernichtet, aber niemand käme deswegen auf den absurden Gedanken, einen Schwulenstaat zu gründen. Für die deutsche Gesellschaft ist es natürlich bequemer, wenn die Juden in Israel leben. Wenn sie weit weg sind, hat man weder die Opfer noch die eigene Täterschaft so präsent vor Augen. Israel bietet eine Adresse für eine pauschale Wiedergutmachung, obwohl die meisten Juden nicht in dem so genannten Judenstaat leben. Netanjahu verspricht, daß Juden nur in Israel sicher sein könnten, auch wenn dies eine Utopie und nicht verwirklicht ist.

Sicherlich wird es zunehmend gefährlicher für Juden in Europa. In der Tat riskiert Israel unser Leben hier. Ich persönlich gehe nicht zur Synagoge. Ich bin ein Kind des Zionismus und in diesem Sinne auch des Säkularismus, aber die Juden, die sich als Juden zu erkennen geben, sind in Gefahr, weil Israel beansprucht, für alle Juden zu sprechen. Israel nennt sich der Judenstaat, und auch in Deutschland wird Israel als jüdischer Staat bezeichnet. Die meisten Menschen können mittlerweile nicht mehr zwischen Juden und Israel differenzieren. Wenn Israel Gaza angreift, heißt das nicht, daß die Juden es gerecht finden. Wenn die Türkei Armenien überfiele, würden auch nicht alle losgehen und Muslime erschlagen, aber das Judentum wird mit dem jüdischen Staat immer gleichgesetzt. Unsere Putzhilfe sagte neulich, sie habe den jüdischen Botschafter gesehen, oder ich werde gefragt, ob ich einen jüdischen Paß habe. Das Judentum ist eine Religion, aber der Zionismus hat daraus eine Nationalität gemacht. Dieses verrückte Konstrukt zusammen mit der Aggressivität, die von Israel ausgeht, hat jedoch seinen Preis, nämlich daß es für Juden zunehmend schwieriger wird, als Juden in Europa zu leben.

SB: Den Zionismus zeichnet ein säkularer Charakter aus, aber dennoch hat man den Eindruck, daß sich die Identitäten immer mehr überlappen. Ist der heutige Zionismus noch eine säkulare Ideologie?

IH: Der Zionismus war nie eine absolut säkulare Ideologie. Der israelische Geschichtsprofessor Amnon Raz-Karkotzkin hat das einmal so formuliert: Der Zionismus sagt, es gibt keinen Gott, aber er hat uns das Land gegeben. In diesem spannungsreichen Paradox sind wir aufgewachsen. Moshe Zuckermann [3] hat in diesem Zusammenhang vom Vatermord gesprochen, davon, daß der traditionelle Diasporajude durch den Zionismus umgebracht wurde. Trotzdem sah sich der Zionismus mit dem Judentum verbunden. In Israel existiert zum Beispiel kein Zwang zur Beschneidung, gleichzeitig kann man in Israel keine Zivilehe schließen, sondern muß zum Rabbinat gehen, wenn beide Juden sind - so werden interkonfessionelle Eheschließungen erschwert -, während man bei der Beschneidung freie Wahl hat. Trotzdem lassen 98 Prozent der Juden in Israel ihre Söhne beschneiden. Das Jüdische besteht viel länger als das Zionistische, es ist eine alte Tradition, auf die man zurückgreifen kann.

Im Augenblick kann man in Israel eine Bewegung weg vom zionistischen Projekt beobachten, die fast den Charakter einer Identitätssuche hat. Viele finden dabei Gott, meines Erachtens auch aus psychologischen Gründen. Israel ist strukturlos wie ein Land ohne Grenzen. Das greift auch auf das Leben und die Psyche über. Man darf alles und letzten Endes doch nichts, und so erstaunt es nicht, daß die Menschen die fehlende Struktur über die Religion suchen, da ein religiöses Leben Sinn stiftet. Man steht auf und bleibt nicht depressiv im Bett liegen, man betet und lernt die Regeln für eine Gemeinde, die einem Halt geben kann. Deshalb war der Zionismus meines Erachtens nie säkular, aber dennoch gab es den Anspruch, aufgeklärt zu sein, und im Gedankengut Europas bedeutete dies, säkular zu sein und das Judentum und die Religiosität zu verachten. So findet man auch viele junge Israelis, die die jüdischen Orthodoxen verachten, aber dann fahren sie nach Indien oder Tibet und erzählen nach ihrer Rückkehr, daß sie in einem Ashram waren und es ganz toll gefunden haben, wie sie die Schuhe vor dem Betreten ausziehen mußten und alles so spirituell war.

Meine Mutter kommt aus einer marokkanischen Familie. Man muß dabei bedenken, daß es in den muslimischen Ländern des Maghreb keinen Aufklärungsprozeß wie in Europa gegeben hat. Das Konzept der Unterscheidung zwischen Säkularität und Religion war den Menschen dort unbekannt. Die Familienangehörigen meiner Mutter haben sich daher schlicht als Juden gesehen, und dazu gehörte, daß sie z.B. am Samstag nicht arbeiten. Für die Gesellschaft dort war dies kein Grund, sie auszugrenzen oder in irgendeiner Form zu sanktionieren. Von einem Assimiliationsdruck konnte also nicht gesprochen werden. Dennoch hat sie verstanden, daß sie als Israeli alles hinter sich lassen mußte. Mein Vater kommt aus einer spanisch-marokkanischen Familie, aber sein Großvater stammt aus Rußland. Als meine Mutter meinen Vater heiratete, hat sie von einem Tag zum anderen die israelische Identität angenommen und die religiösen Bräuche weitgehend abgelegt, bis auf das Fasten an Yom Kippur, also dem Versöhnungstag, und das Verbot, Schweinefleisch zu essen. Aber ansonsten hat sie alles aus ihrem vorherigen Leben vergessen und sich im Grunde eine falsche Identität zugelegt.

Möglicherweise ist dies auch das identitätstiftende Element, wenn man ein Israeli wird. Es bedeutet, das Judentum zu verachten und sich als aufgeklärter Europäer zu geben. Natürlich bleiben dabei Schuldgefühle zurück, weil es keinen wirklichen Ablösungsprozeß gegeben hat. Schließlich ist das Judentum keine Religion, die man ablegen könnte. Im Christentum ist das möglich, aber als Jude ist man dazu verdammt, nicht austreten zu können.

SB: In Israel wird das Jiddische nicht unbedingt als originäre Sprache wertgeschätzt. In welchem Verhältnis stehen das Hebräische und das Jiddische als osteuropäische Tradition zueinander?

IH: Unter den orthodoxen Juden wird Jiddisch gesprochen. Es ist ihre Alltagssprache, aber gebetet und gelernt wird auf Hebräisch. Nur in den orthodoxen Kreisen ist Jiddisch noch wirklich lebendig, nur dort wird es nicht als museales Relikt betrachtet. Ansonsten wurde Jiddisch in der zionistischen Gesellschaft unterdrückt - das gehört mit zum Vatermord. Jiddisch ist die Sprache der von Deutschen ermordeten und vom Zionismus negierten Juden, die Israelis sprechen Hebräisch. Man darf dabei nicht vergessen, daß der Zionismus eigentlich eine protestantische Bewegung ist. Die Losung "zurück zur Bibel" gilt auch für den Zionismus, der immer schon die Ideologie vertreten hat, daß wir vor 2000 Jahren das Land verlassen haben, es seitdem hier nichts gegeben hat und wir jetzt wieder zurück sind. Auch im zionistischen Alltag herrscht eine protestantische Arbeitsmoral, man muß schuften. Im Grunde wurde darüber ein antisemitischer Stereotyp verinnerlicht, denn es hieß ja immer, daß die Juden faul sind und nicht arbeiten. Daß das neue Hebräische zur Staatssprache erhoben wurde, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es viele hebräische bzw. Talmud-Sprachen gibt, die sich auf ganz verschiedenen Ebenen bewegen, aber es wurde eher die Bibel als Grundlage für die Sprache gewählt, zu der wir zurückkommen.

So war es selbstverständlich, daß ein Kind nur Hebräisch lernt. Meine Mutter kann Arabisch und Französisch als Muttersprache sprechen. Mein Vater versteht vielleicht noch ein wenig Ladino, das ist die jüdische Sprache der spanischen Juden, die er von seiner Mutter gelernt hat, und Arabisch, weil er in Palästina geboren ist. Ich kann keine dieser Sprachen sprechen. Für mich ist es ganz normal, daß ich mit meinen Kindern Hebräisch spreche, unabhängig davon, ob mein Mann das verstanden hätte oder nicht. Es ist meine Sprache. Tatsächlich wurde in vielen Familien hebräisch gesprochen, weil man Jiddisch unterdrückt hat. Möglicherweise auch, weil die alte Sprache Holocaust-Erinnerungen geweckt hat. Daß das Jiddische überhaupt bewahrt wurde, lag wohl daran, daß die alten Leute sie untereinander gesprochen haben, auch wenn ihre Kinder das nicht verstehen konnten. Es lag etwas Verführerisches in der Idee vom Schmelztiegel, das den Wunsch, die Vergangenheit hinter sich lassen und eine neue Identität anzunehmen, bediente. Bei den Ashkenasi spielte Neid mit, als sie die Sprache der Mizrachim zerstörten und unterdrückten, die arabische Muttersprache vieler Juden wurde vom kolonialistischen Zionismus als Sprache des Feindes betrachtet. Juden aus arabischen Familien haben schnell kapiert, daß sie ihre Sprache nur zu Hause, aber nicht draußen sprechen durften. Es war ein Tabu und gehörte nicht in den öffentlichen Raum.

SB: Vor der NS-Diktatur gab es ein ausgeprägtes jüdisches Bürgertum, das teilweise sehr emanzipiert war. Gibt es in Israel noch eine Bezugnahme auf diese jüdische Tradition, die auch viel mit deutscher Kultur zu tun hatte?

IH: Ein bißchen schon. Es gibt Israelis, die Germanistik in Israel studiert hatten und dann über ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) hierher kamen und inzwischen mit Deutschen verheiratet sind. Einige von ihnen sind als Übersetzer tätig. So wurde zum Beispiel der Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Gershom Scholem von einem Israeli, der in Berlin lebt, neu übersetzt. Ansätze, an diese Tradition anzuknüpfen, gibt es vor allem auf akademischer Ebene, aber es ist schwierig, weil diese jüdische Kultur vernichtet wurde und die neue jüdische Gemeinde, die später gegründet wurde, sehr zerstritten ist und angstbesetzt agiert.

Darüber wurden auch rassistische Stereotypen verinnerlicht. So existieren noch Ressentiments den Ostjuden und den Juden und Nichtjuden aus der ehemaligen Sowjetunion gegenüber. Ganz allgemein haben die Israelis, die mittlerweile nach Deutschland kommen, nichts mit der jüdischen Gemeinde und auch nicht viel mit dem Judentum zu tun. Es geht nicht um Religion, sondern darum, irgendeine Identität zu finden. Da prallen wirklich zwei Welten aufeinander. Die Juden hier verstehen sich erst einmal als Opfer, während die israelischen Juden sich als Nicht-Opfer sehen und zugleich verleugnen, daß sie Täter sind. Ihnen sind die passiven Opfer-Juden, die mit den Deutschen so viel zu tun haben, ziemlich unbegreiflich. Hinzu kommt, daß sie bei ihrer Ankunft die deutsche Sprache nicht beherrschen und sich so ausgeschlossen fühlen oder selbst ausschließen, indem sie zu sich sagen, ich brauche die Juden hier in Deutschland nicht, ich komme allein zurecht oder pflege nur Umgang mit anderen Israelis oder Nichtisraelis.

SB: Haben sie die Perspektive der Rückkehr, daß Deutschland für sie nur ein vorübergehender Aufenthalt ist?

IH: Bestimmte Leute kommen, weil es ein Hype ist, und sie denken, das ist hier wie in Tel Aviv. Andere haben schon Fuß gefaßt und wollen hier bleiben. Als wir nach Berlin gekommen sind, gab es zweimal in der Woche einen Flug Berlin-Tel Aviv, aber jetzt wird diese Route dreimal am Tag geflogen. Mittlerweile gibt es hier fünf Therapeutinnen, die auf Hebräisch arbeiten. Es gibt Babysitter, die hebräisch sprechen, und Kulturabende auf Hebräisch. Es gibt sogar eine hebräische Zeitung und eine Bibliothek mit hebräischen Werken. Das Angebot ist vielseitig geworden. Viele kommen ohne zu wissen natürlich, wie es wird. Es gibt solche die bleiben, solche die zurückkehren und solche die unentschieden in beiden Orten leben. Die elektronischen Möglichkeiten und billigen Flieger erleichtern es natürlich ...

SB: Können Sie aus Ihrer therapeutischen Arbeit sagen, daß junge Israelis eine spezielle Problematik haben?

IH: In meiner als auch in der jetzigen Generation gibt es viele junge Leute, die im Krieg waren und schreckliche Dinge getan haben. Irgendwann haben sie gesagt: Jetzt ist Schluß, das mache ich nicht mehr mit. Dann kommen sie nach Berlin und machen eine für sie verwirrende Erfahrung. Anfangs haben sie geglaubt, alle Deutschen sind Antisemiten, aber dann entdecken sie zum Beispiel eine Bewunderung für Israel bei den Antideutschen, es gibt Annäherungsversuche und Neugier, dass nicht alle Deutschen schlimm und schlecht sind. Darüber findet eine interessante Interaktion statt.

Manchmal kann man den Täter in sich selber auch über den anderen finden. Wenn Deutsche z.B. nach Frankreich oder Holland fahren, beschleicht sie das Gefühl, wenn ich als Deutscher erkannt werde, was denken sie dann über meinen Vater, also über mich. Die Deutschen waren nach dem Zweiten Weltkrieg Ausgestoßene und mußten mit Scham umgehen. Sie liefen in der Welt herum mit einem Stigma auf der Stirn. Unbewußt laufen auch viele Israelis so herum, weil sie ahnen, daß wir in Gaza z.B. fürchterliche Sachen tun. In der israelischen Gesellschaft kommt es darüber zu einer starken Abwehrhaltung, aber dahinter steckt eben diese Schuld, von der auch Zuckermann gesprochen hat. Eigentlich wissen wir es und sind deshalb auch so aggressiv und können nicht so souverän argumentieren, wie es erforderlich wäre. Ich glaube, daß wir nicht zufällig nach Deutschland gekommen sind. Ich denke, daß wir eigentlich den Täter in uns suchen und innerliche Antwort darauf, wie kann man mit dieser Schuld und Scham leben. Es mag absurd klingen, aber manchmal beneide ich die Deutschen auch, weil ich denke, daß es für die Kinder der Täter aus meiner Generation Vergangenheit ist. In Deutschland macht man sich jetzt Sorgen wegen der zunehmenden Militarisierung. Für mich ist es Gegenwart. Während wir hier sitzen und sprechen, werden Menschen in den besetzten Gebieten erschossen.

SB: Deutsche Journalisten haben es immer noch schwer, unbeeinträchtigt von ideologischen Ressentiments über den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern zu berichten. Wie beurteilen Sie die Berichterstattung deutscher Medien in dieser Hinsicht?

IH: Als Bettina Marx einmal etwas Kritisches zu Israel gefragt hat, reichte ein Leserbrief, damit sie nicht mehr über Israel berichten konnte. Das ist wirklich schade, denn im Vergleich zu anderen Journalisten, die zu Israel arbeiten, aber kein Hebräisch beherrschen, kann sie hervorragend Hebräisch sprechen und kennt sich in Israel sehr gut aus. Was hier in Deutschland über Israel und zum Palästinakonflikt berichtet wird, ist strenggenommen oft keine journalistische Arbeit. Da könnte man gleich eine Zeitung in Israel lesen. Für die meisten israelischen Journalisten ist die Armee die einzige Quelle für Informationen aus dem Gaza-Streifen. Bisweilen waren sie selbst in der Armee, oft auch als Journalisten, und sind mit dem Objekt der Berichterstattung verstrickt. Es ist ganz normal, dass ein Journalist in Israel in der Wir-Form spricht und schreibt. Das macht eine kritische Berichterstattung schwierig bis unmöglich.

Während des letzten Gaza-Angriffs habe ich die Erfahrung gemacht, daß der Abstand zwischen dem, was in den Medien berichtet wird und dem, was die Menschen auf der Straße reden, viel größer geworden ist. Ein Großteil der Deutschen findet, daß diese Politik nicht fortgeführt werden darf, aber man weiß auch, daß man darüber nicht sprechen darf, was mir persönlich angst macht. Es ist das Gefühl, mundtot gemacht zu werden oder einen Maulkorb zu bekommen. Wenn es sich um ein Thema handelt, wo es legitimer ist freier zu sprechen, kommen dann ungezügelte antisemitische Aussagen vor, wie während der Beschneidungs-Diskussion. Die Überwindung des geahnten Verbotes, kritisch über Israelpolitik zu sprechen, geschieht dann durch eine Verschiebung in anderen Themen.

SB: Die neue Rechte in der Bundesrepublik zieht auf speziellen Webseiten unter Schlagworten wie "proamerikanisch" und "proisraelisch" "gegen die Islamisierung Europas" zu Felde. Dabei wird tief in die Kiste rassistischer und auch frauenfeindlicher Hetze gegriffen, wenn etwa das Aussehen von Politikerinnen der Linken herabwürdigend kommentiert wird. Haben Sie schon ähnliches erlebt?

IH: Das antimuslimische und rassistische Element erlebe ich, wenn man mich irrtümlich für eine Muslimin hält. Ein Beispiel aus dem Alltag dazu: Als ich einen Platz in der Schule für meine Tochter gesucht habe, wurde mir am Telefon gesagt, es gibt keinen Platz in der Klasse. Ich war irritiert, denn zuvor hatte ich gehört, daß noch fünf Plätze frei wären. Ich habe den Vorfall dann mit einem Bekannten besprochen. Er sagte mir, vielleicht hat man dich wegen deines Akzents für eine Türkin gehalten. Als ich bei der Schulleitung vorstellig wurde und erklärte, daß meine Familie aus Israel kommt, waren plötzlich mehrere Plätze frei. Ein palästinensischer Freund, der dort später anrief und das gleiche mit deutsch-arabischem Akzent fragte, bekam auch eine ähnliche Antwort von der Sekretärin.

Wie ich eingestuft werde, ist sehr kontextabhängig. Es kommt immer darauf an, wo ich bin. Auf einem internationalen Kongreß werde ich gefragt, ob ich Spanierin oder Italienerin bin. Aber wenn ich auf einem Markt bin, wo ich wegen des Regens ein Kopftuch trage, sprechen mich Leute auf persisch oder arabisch an. Es ist die Tragödie des Zionismus, daß das Böse beim Übergang von Europa nach Israel vom Nazi bzw. Deutschen auf den Araber verlagert wurde. So findet man in der Yad Vashem-Enzyklopädie weniger über Rudolf Höss als über Haj Amin al-Husseini, den Mufti von Jerusalem.

Weil meine Mutter aus Marokko kommt, bin ich eigentlich Araberin. Es ist wirklich verrückt, daß die Mehrheit der Juden in der israelischen Gesellschaft aus muslimischen und arabischen Ländern stammt. In so einer Wirklichkeit tragen sie den Feind in sich. Im Grunde soll die antimuslimische Hetzwelle in Israel zeigen, daß es gar nicht um einen territorialen Konflikt, sondern um die Natur der Menschen geht. Die Palästinenser sind gegen uns, weil sie Muslime sind, und die Hamas ist das Symbol dafür. Ob wir Siedlungen in den besetzten Gebieten bauen oder nicht, ist egal, der Konflikt liegt in der Natur dieser Menschen, sie hassen uns einfach und zwar, weil wir Juden sind und nicht aufgrund unseres Verhaltens. Es ist also unveränderbar. Mit diesem Clash der Kulturen wird alles gerechtfertigt. Diese Strategie wird nicht nur in Israel gefahren, auch die Evangelikalen bedienen sich dieses Instruments. Die Juden in Israel wollen das Land vor den Muslimen bewahren bis zum Tag des Armageddon usw.

Manchmal kommt es jedoch auch zu Momenten der Besinnung. Als Muslime hier in Deutschland ermordet wurden, fühlten sich auch die jüdische Gemeinde bzw. die hier lebenden Juden in Gefahr. Das kann auch in die andere Richtung gehen. So ließen die Muslime auf dem Höhepunkt der Beschneidungsdiskussion lieber die Juden die Arbeit machen und hielten sich weitgehend heraus, weil sie wußten, daß ihre Chancen, etwas zu bewirken, wesentlich kleiner gewesen wären. Dann wieder klammern sich die Juden hier an die Illusion von einer jüdisch-christlichen Tradition und verbünden sich mit den Christen gegen die Muslime, weil sie hoffen, damit als Teil der Gesellschaft anerkannt zu werden. Aber auch dieser Bund auf Zeit ist letztlich nur die Folge des Fremdheitsgefühls.

SB: Frau Hefets, vielen Dank für das lange Gespräch.


Fußnoten:

[1] http://www.juedische-stimme.de/wp-content/uploads/2011/11/Satzung_2011.pdf

[2] "Neuer Exodus - Was zieht Israelis nach Berlin?"
http://www.deutschlandradiokultur.de/faszination-und-befremden-50-jahre-deutsch-israelische.452.de.html?drem:event_id=1512

[3] INTERVIEW/024: Krieg um die Köpfe - teile und kriege ...    Dr. Moshe Zuckermann im Gespräch (SB)
Interview am 5. März 2015 an der Freien Universität Berlin
http://www.schattenblick.de/infopool/sozial/report/sori0024.html

23. März 2015


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