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INTERVIEW/151: Kapitalismus final - Grenzfälle (SB)


Bernd Belina über Raum als Metapher und Kategorie

Interview am 1. November 2012 im Hamburger Karolinenviertel



Prof. Dr. Bernd Belina forscht und lehrt am Institut für Humangeographie in Frankfurt a. M. und ist im Arbeitskreis Kritische Geographie aktiv. Vor der Veranstaltung zum Thema "Krise des Kapitalismus - Krise der neoliberalen Stadt" [1], die im Rahmen der Hamburger Veranstaltungsreihe "Kapitalismus in der Krise" stattfand, beantwortete Bernd Belina dem Schattenblick einige Fragen.

Im Gespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Bernd Belina
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: In deinen Publikationen hast du dich intensiv mit dem Raumbegriff auseinandergesetzt, der als solcher kaum kritisch reflektiert wird. Der Begriff der Virtualität des Raumes, der auch in den Kulturwissenschaften sehr präsent ist, spiegelt sich in der Vorstellung des Cyberspace wider. Gleichzeitig basieren diese immateriellen Verhältnisse auf technisch-wissenschaftlichen Innovationen und den dazu erforderlichen Ressourcen wie Elektrizität und Hardware-Produktion. Welche Konsequenzen hat die Idee der Immaterialität des Cyberspace deiner Ansicht nach für die gesellschaftliche Entwicklung?

Bernd Belina: Ich will als erstes etwas zur Virtualität in bezug auf Immaterialität und Materialität sagen. Du hast in deiner Frage völlig zu Recht darauf verwiesen, daß das ohne technische Anlagen nicht möglich wäre. Eine der interessanten Entwicklungen in den letzten Jahren scheint mir der große Streit um den Standort der Server zu sein. An diesem speziellen Aspekt läßt sich wunderbar erkennen, daß die Frage, in welchem Herrschaftsgebiet, also auf welchem Territorium eines Gewaltmonopolisten, die Server stehen, auf die materielle Grundlage des Ganzen verweist. Die Debatte um Blackberry, die jetzt wieder ein wenig abgeflaut ist, daß man es nicht so gut abhören und überwachen kann wie andere Systeme, hat genau damit zu tun. Deswegen scheint mir auf jeden Fall Vorsicht geboten, wenn es vordergründig um Virtualität und Immaterialität geht. Die materiellen Grundlagen sind, ganz banal gesprochen, immer zu beachten. In diesem Fall würde ich sogar sagen, daß es derzeit kaum etwas Umkämpfteres und Machtdurchzogeneres gibt als das Internet, in dem die virtuellen Räume entstehen. Die Frage, wo die Server stehen, ist dann auch für Epiphänomene wie WikiLeaks und die Frage nach der Datenübertragung bzw. -sicherheit bedeutsam. Sobald man sich in einem Chatroom oder in einem Computerspiel bewegt, an dem Hunderte von Leuten gleichzeitig teilnehmen, ist es ein virtueller Raum, aber die Grundlage bleibt materieller Raum und als solche auch Gegenstand von Verwertungs-, aber insbesondere von politischen Strategien.

SB: Viele Leute behaupten, im Internet ließen sich politisch oppositionelle Bewegungen oder Debatten nicht so einfach durch eine repressive staatliche Kontrolle unterdrücken. Wie ist deine Einschätzung dazu?

BB: Ich bin in dieser Frage zwar kein kompetenter Experte, aber nach meinem Eindruck befinden wir uns wahrscheinlich immer noch in der Phase, in der die Ausübung von Herrschaft im und mittels Internet sich durch technische Entwicklungen noch institutionalisiert. In bezug auf illegale Downloads und bei der Frage von geistigem Eigentum können wir feststellen, wie das, was einmal anarchisch erschien, Schritt für Schritt zurückgenommen wird. Zum Glück gibt es großartige Leute oder Gruppen wie den Chaos Computer Club, die am Thema Überwachung durch den Staat wirklich dranbleiben und die Entwicklungen in den USA und in der EU genau verfolgen, weil dort die Beherrschung dieser Technologie mittels technischer Innovationen nach wie vor angestrebt wird. Wieviel an Freiraum übrigbleibt, weiß ich nicht. Das hängt auch von technischen Fragen ab, wo ich mich nun gar nicht auskenne, oder inwieweit man solche Technologien nutzen kann, ohne daß sie in Verwertungsprozesse geraten und/oder durch die Machtausübung der Staatsgewalt kontrolliert werden.

SB: Das Interesse staatlicher Behörden und Institutionen auf Zugang zu diesen Technologien ist also vorauszusetzen?

BB: Das scheint mir so zu sein, soweit wir die Sache beobachten können. Nachdem Facebook durch den Börsengang zu einem Riesenunternehmen geworden ist, wird sich noch zeigen müssen, ob das Ganze nicht eine riesige Luftnummer ist. Das hängt davon ab, wie es politisch reguliert wird, also von der Frage, was sie dürfen und wie sie in Vorbereitung darauf, damit vielleicht Geld zu verdienen, Daten sammeln. Fast schon anekdotenhaft habe ich in meiner Einführungsvorlesung betont, daß die Facebook-Seite, auf der Informationen unseres Instituts stehen, gar nicht von uns ist. Darauf haben mich die jungen Leute erstaunt angeguckt, weil sie überhaupt kein Problem darin sehen, sich anzumelden und daran zu partizipieren. Ich habe eingewendet, daß ich und viele andere Kollegen da nicht mitmachen. Das heißt, es gibt schon einen schleichenden Prozeß, an dem viele Leute auch aktiv teilhaben. Wenn man sich bei Facebook mit seinem Klarnamen anmeldet und Informationen preisgibt, ist man Teil des Spiels, das aber gleichzeitig mit Verwertungsinteressen und Machtausübung einhergeht. Die Einhegung ist in vollem Gange.

SB: Im Wissenschaftsdiskurs wird auch bei abstrakten Debatten sehr häufig mit Raum-Metaphern gearbeitet. So wird zum Beispiel auf den Ort, an dem diese oder jene Entscheidung getroffen wurde, abgehoben. Damit ist jedoch kein geographischer oder topographischer, sondern ein virtueller Ort gemeint. Selbst bei Sachverhalten, die früher in ihrer Abstraktion eigentlich ohne Raum-Metaphern ausgekommen sind, werden sie inzwischen in großem Ausmaß verwendet. Worin steckt deiner Ansicht nach der Nutzwert dieser modernen, vielleicht sogar poststrukturalistischen Diskursivität?

BB: Ja, das ist eine sehr treffende Beobachtung. Seit den 80er Jahren werden vor allem im Kontext poststrukturalistischer Theoriebildung und kulturwissenschaftlicher Debatten immer häufiger räumliche Metaphern eingesetzt, die an Wichtigkeit gewinnen. Es gibt einen wunderbaren Text des unlängst verstorbenen großartigen Kollegen Neil Smith und seiner damaligen Kollegin Cindi Katz von Anfang der 90er Jahre, in dem sie, wie ich finde, sehr überzeugend argumentieren, daß in dem Moment, wo man Raum-Metaphern verwendet, die Sache, auf die man sich gerade bezieht, fixiert, tot, nicht lebendig, nicht umkämpft, unpolitisch erscheint. Indem man eine andere Metapher findet, ändert sich ja nichts an dem Sachverhalt. Aber durch die Verwendung räumlicher Metaphern werden Gegenstände entpolitisiert. In einer sehr umfangreichen und detaillierten Arbeit argumentiert der amerikanische Kollege Matthew Sparke in gleicher Weise, daß in vielen dieser Theorien der Raumbegriff, auf Basis dessen diese Metaphern verwendet werden, als einziges nicht im Fluß ist. In einer Welt, die so unglaublich im Fluß zu sein scheint, was sie ja auch wirklich ist, aber vielleicht auf eine andere Art, als manche dieser Theorien behaupten, ist der Raum auf einmal das einzig Fixe. Genau diese Funktion der Entpolitisierung erfüllen die Metaphern. Da könnte man direkt anschließen an Formulierungen von Adorno und Horkheimer, die eben den Raum als das absolut Entfremdete bezeichnet haben - Raum quasi als das Tote. Zeit als gesellschaftliche Entwicklung, Dynamik, Revolution. Raum ist nur Gegenstand, Materialität, besitzt aber keine Relevanz.

Seit den 70er Jahren ist gleichzeitig mit der metapherlastigen Art, über Raum zu sprechen, eine Debatte - von David Harvey, Henri Lefebvre und anderen begründet - aufgekommen, die zu zeigen versucht, in welcher Weise Raum in seiner materiellen Produktion und dann eben auch in der ihm zugeschriebenen Bedeutung höchst relevant für gesellschaftliche Praxen und Prozesse sein kann. Diese Praxen und Prozesse können eine Wirkmächtigkeit haben, insofern sie sich auf Raum beziehen, nicht als Metapher, sondern als räumliche Strukturen oder bestimmte Formen des Raums oder von Territorien und Netzwerken, die es ja tatsächlich als Produkte gesellschaftlicher Praxis gibt. Das ist etwas ganz anderes als diese sehr metaphorische Verwendung von Raumbegriffen. Die führt in wissenschaftlichen Debatten manchmal zu enormen Mißverständnissen oder Schwierigkeiten in der Kommunikation, weil diese räumlichen Metaphern in bestimmten Therorieansätzen so unglaublich wichtig sind. So fragen mich manchmal Leute, mit denen ich diskutiere, was meint ihr denn mit den Regionen des Wissens - Foucault etc. -, was soll das denn bedeuten? Diese Metapherlastigkeit ist ein gewisses Problem, auch in der Kommunikation.

SB: Wenn du von der Produktion des Raums als einer letztlich herrschaftsförmigen Technik sprichst, inwiefern läßt sich das auf materielle Weise dingfest machen?

BB: Die Frage zielt auch immer darauf, in welcher Weise physische Materialität, die dann eben räumlich ausgedehnt ist oder räumliche Distanzen beinhaltet, eine Relevanz bekommt. Das kann je nach sozialem Prozeß sehr unterschiedlich sein. Harvey, Lefebvre und andere haben auf einer systematischen Ebene darzustellen versucht, wie physisch-materielle Räume relevant werden. Dabei verweist insbesondere Harvey auf den expansiven Charakter der kapitalistischen Produktionsweise. Er ist nicht der erste, dem das aufgefallen ist. Das ist geradezu ein Klassiker des Marxismus. Auch Lenin und Luxemburg haben sich damit befaßt. Harvey will gleichzeitig den Widerspruch verdeutlichen, daß das Kapital, um mobil zu sein, dauerhaft im Raum fixiert werden muß in Form von gebauter Umwelt und fixem Kapital. Nicht alles an Kapital ist im Raum fixiert, aber vieles etwa in Form von Infrastrukturen, die alle Voraussetzungen dafür sind, daß Kapital überhaupt mobil sein kann. Aus diesem Widerspruch heraus läßt sich die räumlich ungleiche Entwicklung im Kapitalismus erklären. Einerseits die notwendige Fixierung im Raum durch Straßen, Bürogebäude, Produktionsanlagen, Internet, Servern und so weiter, also von allem, was es physisch-materiell im Raum gibt, und andererseits das Bedürfnis, durch Ausnutzung der räumlichen Unterschiede, also durch Mobilität, Extraprofite zu generieren.

Die Strategie besteht immer darin, die im Raum fixierten Werte vor Entwertung zu schützen. Ein gutes Beispiel sind Hafenanlagen. Ich habe lange in Bremen studiert. Das war in Bremerhaven wunderbar zu besichtigen. Wenn die Hafenanlagen zwar noch voll funktionstüchtig sind, aber nicht mehr kapitalistisch genutzt werden, sind sie entwertet. Riesige Ensembles gebauter Umwelt fallen brach und sind nichts mehr wert. Daraus erklärt dann Harvey die Entstehung territorialer oder klassenübergreifender Koalitionen, warum Gewerkschaften auf einmal für den Standort kämpfen und lokale Medien nichts anderes zu tun haben als alles, was in der Stadt passiert, toll zu finden. Vereinfacht gesagt ist der Schutz immobiler Werte der Grund für Koalitionsbildungen zwischen Leuten, die ansonsten andauernd konkurrieren würden oder sich gegenseitig egal wären. Das ist für mich der überzeugendste Ansatz, danach zu fragen, in welcher Weise die physische Materialität des Raums, erst kapitalistisch-ökonomisch und in der Folge auch politisch, relevant wird.

Natürlich gibt es weitere Phänomene, wo Raum ganz offensichtlich immer noch und immer wieder relevant ist wie staatliche Grenzen, obwohl in der bürgerlichen Sozialwissenschaft als auch in poststrukturalistischen Varianten vom Ende aller Grenzen und vom Raum der Ströme und so weiter gesprochen wurde. Nach einer kurzen Phase wird es kaum jemand mehr geben, der nicht sieht, welche Relevanz ganz offensichtlich bestimmte politische Grenzen zwischen Staatsterritorien haben. Man nehme nur die mexikanisch-US-amerikanische Grenze oder die EU-Außengrenze. Da wird Raum in seiner Materialität real, nicht an sich, die Grenzlinie ist immer eine von Menschen gezogene, aber indem sie wie eine Staatsgrenze behandelt wird, ist sie relevant. Das sind zwei Aspekte, wo es mir scheint, daß man sehr sinnvolle Abstraktionen bzw. Verallgemeinerungen darüber bilden kann, in welcher Weise physisch-materieller Raum ökonomisch-politisch wichtig ist.

SB: In Anbetracht dessen, daß wir heute eigentlich keine territorialen Expansionsräume mehr haben, die durch Menschen noch nicht erschlossen wären und somit räumliche Eroberungen wie in früheren Zeiten nicht mehr möglich sind, welche Räume würden deiner Ansicht nach dann noch übrigbleiben für Aneignungen?

BB: Das ist eine ganz zentrale Frage zur zeitdiagnostischen Einschätzung der Relevanz solcher räumlichen Prozesse. Zum einen gibt es schon noch weitere Räume, die nicht zuletzt durch den Klimawandel entstehen wie zum Beispiel die Nordost- und Nordwestpassage, die Antarktis und auch Nordkanada, wo man auf einmal in diesen Tar Sands (Ölsanden) produktiv Öl abbauen kann, was ohne Klimawandel und neue Technologien nicht gegangen wäre. Es gibt noch Räume, die nach wie vor von Interesse sind. Die ganze Thematik von Rohstoffen insbesondere in Afrika mit dem Vorkommen seltener Erden könnte man auch dazunehmen. Die großen Debatten von heute drehen sich um Bereiche, die ja leider nur vorzufinden sind, wenn es zu neuen Erschließungen kommt, aber tatsächlich sind das die letzten kleinen weißen Flecken. Harvey und viele andere verweisen in starkem Maße darauf, daß neben dem Erschließen neuer Räume auch die andauernde Umformung räumlicher Strukturen ein Mittel und damit auch ein Resultat ganz normaler kapitalistischer Alltagspraxis darstellt.

So wird möglich, daß vor nicht allzulanger Zeit noch prosperierende Regionen jetzt darniederliegen und andererseits das Agrarland Bayern auf einmal zum Hightech-Standort avanciert, während das Ruhrgebiet, einst der Motor Deutschlands, seit 40 Jahren Krisengebiet ist. Das sind Veränderungen der räumlichen Strukturen, der Relevanz von Räumen untereinander, die keine Expansion beinhalten, die aber durch die Herstellung räumlicher Unterschiede immer neue Investitionsmöglichkeiten zu bieten scheinen und teilweise auch bieten. Man weiß erst hinterher, ob es sich gelohnt hat. Und dann argumentiert zum Beispiel der Kollege Christian Zeller, was ich sehr überzeugend finde, wie viele andere auch, daß Natur selbst als Anlagesphäre relevanter wird. Neil Smith hat das die Produktion der Natur genannt, also die reale Subsumption der Natur, sie nicht nur kapitalistisch zu nutzen, sondern im Sinne kapitalistischer Akkumulation selber herzustellen. Gentechnisch manipuliertes Saatgut wäre hierbei wahrscheinlich der plausibelste Fall. Das ist eine weitere Investitionssphäre, die keine räumliche Expansion beinhaltet, sich aber im Raum auf jeden Fall niederschlägt. Ansonsten können wir nach dem Platzen der großen Immobilienblase das Suchen nach neuen Anlagesphären besichtigen. Manche haben relativ wenig mit Raumprozessen zu tun wie die Kommodifizierung geistigen Eigentums.

SB: Die Debatte um die Landnahme ließe sich in fortgesetzter Konsequenz auch als Expansion auf den menschlichen Körper übertragen, indem zum Beispiel Biosubstanzen kommodifiziert werden. Wäre dies deiner Ansicht nach noch mit dem Raumbegriff als relevanter Kategorie vereinbar?

BB: Man müßte dann jeweils prüfen, inwiefern das als räumliches Phänomen sinnvoll zu diskutieren ist. Ein plausibler Ausgangspunkt für die Art und Weise, wie Gesellschaft sich Raum aneignet, ist schon der menschliche Körper in seinem Werden. Er ist eben auch kein fixes abgeschlossenes System, keine Entität, aber selbstverständlich könnte man die Prozesse der Kommodifizierung von menschlichen, tierischen und auch Pflanzenkörpern als ein räumliches Phänomen diskutieren. Das müßte man dann im einzelnen untersuchen.

Die Landnahme ist ein schönes Beispiel für Metaphern, weil es sehr Verschiedenes meinen kann. Ganz banal tatsächlich im Sinne von Land unter den Nagel reißen, was jetzt in bezug vor allem auf Afrika, aber auch Südosteuropa und andere Weltgegenden als Landgrabbing diskutiert wird. Dann wurde es auch zur Metapher für die innere Landnahme, im Fordismus die Kommodifizierung des Lebens in allen Aspekten. Natürlich kann man eine räumliche Metapher verwenden, wenngleich sie dann vielleicht nicht mehr so viel erklärt. Bernd Röttger hat unlängst zu Recht darauf hingewiesen, daß eine Metapherisierung gerade der Landnahme nicht viel wert ist. Der Begriff der Kommodifizierung reicht völlig. Man müßte dann lediglich anfügen des Körpers, der Privatsphäre, der Pflege usw.

Bernd Belina mit SB-Redakteur - Foto: © 2012 by Schattenblick

Gespräch im Café Panter im Hamburger Karolinenviertel
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Hättest du ein Beispiel dafür, inwiefern sich der sogenannte Spatial Turn auf die Effizienz repressiver Strukturen auswirkt, die in den Sozialwissenschaften durchaus mitentwickelt werden, wo also diese Raumidee auch eine Handlungsanleitung für Formen der Kontrolle und Überwachung bereitstellt?

BB: Das Naheliegendste ist wahrscheinlich wirklich die Art und Weise, wie die Polizei in vielerlei Hinsicht räumlich agiert. Zwei Beispiele sind hierbei erwähnenswert, zum einen die räumlichen Verdrängungsprozesse von sichtbaren Randgruppen, die den Standort durch ihre Anwesenheit entwerten. Das wäre der eine Beweggrund. Bettlerinnen, Prostituierte, Junkies, migrantische Jungendliche sehen in bestimmten Stadtteilen nicht gut aus, sowie alle, die nicht mehr so richtig gebraucht werden. Das wäre der andere Aspekt. Sie werden ja immer mehr räumlich einfach woanders hingedrängt. Das steht dem sozialstaatlichen, fordistischen oder keynesianistischen Ansatz, wir müssen alle integrieren außer den ganz schlimmen politischen Abweichlern, weil sie ein Teil des großen Ganzen, der Nation, des Standortes, der Deutschland AG sind, entgegen.

Die Abkehr davon vollzieht sich in einem Umgang mit diesen überflüssig Gemachten mittels Raum. Sie werden in bestimmte Stadtteile abgedrängt, in den USA insbesondere auch in Gefängnisse, hierzulande kaum, zumal kein relevanter Anstieg der Gefangenenzahlen in Deutschland zu beobachten ist. Hier ist es eher so, daß die Leute in den Stadtteilen, in die sie abgedrängt wurden, bleiben sollen. Ein spezieller Aspekt, woran man die Relevanz ziemlich gut erkennen kann, ist, daß diese Art und Weise der Polizeiarbeit inzwischen im Polizeirecht festgeschrieben ist. Sie geschieht durch Ausweisung gefährlicher Orte, Platzverweise, Betretungsverbote wie die Überwachung des öffentlichen Raums. Letzteres ist in Deutschland gar nicht so wichtig, aber folgt der gleichen Logik räumlicher Strategien der Verdrängung. Hier in Hamburg gab es eine Initiative, die die gefährlichen Orte der Polizei kartiert hat. Dies betrifft Gegenden, die die Polizei selber als solche ausweist und in denen bestimmte Gruppen von Leuten immer verdächtig sind. Sie braucht dazu keinen konkreten Verdacht und selbstverständlich werden genau diese Leute kontrolliert. Dabei handelt es sich üblicherweise um migrantische Jugendliche oder Gruppen junger Männer, die dann eben polizeilich behandelt werden.

Das berührt eine alte Debatte: Wo fängt die Bestrafung des Staates eigentlich an? Viele würden argumentieren - und ich schließe mich dem an -, natürlich schon bei der Kontrolle selbst. In Koblenz wurde in der letzten Woche der Fall eines jungen dunkelhäutigen Mannes verhandelt, der geklagt hatte, weil er in Deutschland andauernd kontrolliert wird. Dabei handelt es sich um eine Bestrafung und nicht um eine sinnvolle Polizeiarbeit. Das ist eine Art, wie Raum repressiv eingesetzt wird. Das Resultat wird eben sein, daß die Leute sich in den Räumen nicht mehr aufhalten.

Die zweite Art, die in Deutschland noch nicht so verbreitet ist wie anderswo, ist die Kriminalitätskartierung. Ich mache ja Geographie und mag Karten. Sie sind eine großartige Sache, aber selbstverständlich immer ein Instrument, und in dem Fall eben ein Instrument der Kriminalisierung und Kontrolle. Diese Karten basieren immer darauf, daß in sie Daten aus der Kontrolle der üblichen Verdächtigen eingehen, und deswegen erscheinen die Gegenden, wo sie kontrolliert wurden, als kriminell. Weil Karten auf solchen Daten basieren, werden immer wieder die gleichen Orte kontrolliert. Das ist ein wunderbarer Selbstverstärkerkreislauf, der mittels dieser Verräumlichung plausibel gemacht wird.

Die meisten Polizistinnen und Polizisten wissen, daß in Kriminalstatistiken nur ihre Arbeit abgebildet wird, also die Ergebnisse ihrer Kontrollen oder die Aufnahme von Anzeigen. Sobald ihnen dies als Karte entgegentritt, am besten noch in der Anwendung als Geographisches Informationssystem (GIS), hochtechnisiert mit allen möglichen Algorithmen, die dann Risiken und Zeitabläufe berechnen, erscheint es als Realität. Dann sind diese Gegenden auf einmal gefährlich, werden stärker von der Polizei überwacht und die gleichen Leute noch mehr kontrolliert. Die Ausweisung gefährlicher Orte und die Kriminalitätskartierung sind zwei Beispiele, wo Raum in Städten auf einer sehr alltäglichen Ebene für die Polizeiarbeit eine zunehmende Rolle gewonnen hat, die immer auf die üblichen Verdächtigen abzielt: auf sichtbare Randgruppen im öffentlichen Raum.

Ein weiteres zentrales Beispiel für Repression und Raum ist die bereits von mir angesprochene Grenzziehung. Ich habe unlängst einen Vortrag darüber gehört, wie in Arizona verdurstenden illegalisierten MigrantInnen aus Mexiko geholfen wird und wie eben diese Versuche des Helfens wiederum kriminalisiert werden, und das alles mittels Raum in dem Sinne, daß die Grenze eingezogen und alles getan wird, um diese auch als Grenze wahrzumachen, was dann mit politischen und rechtlichen Mitteln passiert. Es ist nie der Raum selber, die Grenze macht das nicht, sondern es ist die Art und Weise, wie die Grenze gesichert wird bis dahin, daß sich, wer Illegalen Wasser gibt, selber strafbar macht. Sie müssen es immer irgendwo deponieren in der Hoffnung, daß die Leute das Wasser finden. Das ist eine andere Art, wie durch Raum Repression wahrgemacht wird.

SB: Wenn man in Deutschland vom öffentlichen Raum redet, hat das insofern eine spezielle Bewandtnis, daß dieser eigentlich egalitär allen zur Verfügung stehen und im Rahmen der Gesetze nutzbar sein soll. Nun ist es aber so, daß etwa im Fall der Flüchtlinge in Berlin, die dort für ein reformiertes Asylrecht demonstrieren, versucht wird, sie von ihrem Platz zu verdrängen, indem ihnen die Erfüllung physischer Basisbedürfnisse verweigert wird. In Israel gibt es den Sperrwall, in Bagdad haben die Besatzer ganze Stadtviertel voneinander durch Mauern getrennt und kleine Ghettos gebildet, um die Leute beim Zu- oder Ausgang kontrollieren zu können. Hinzu kommt die Einwirkung kommerzieller Interessen auf den öffentlichen Raum, wo beispielsweise in Einkaufszentren keine Sitzmöglichkeiten außerhalb gastronomischer Angebote mehr bestehen. Der Mensch möchte sich frei bewegen können, aber alle anderen Interessen stehen dem anscheinend entgegen. Wie siehst du diese Entwicklung, verschärft sich in deinen Augen die Auseinandersetzung um den öffentlichen Raum?

BB: Die Beispiele zeigen, daß Grenzen nicht nur Staatsgrenzen sein müssen, sondern auch künstlich eingezogene Grenzen aller Art sein können bis hin zur Residenzpflicht, damit Flüchtlinge ihren Landkreis nicht verlassen dürfen und sich jedesmal, wenn sie von der Uckermark nach Berlin fahren, weil dort ihre Communities sind, strafbar machen. Die Nutzung des öffentlichen Raums für alle ist ein hehres demokratisches Ideal und war schon immer Ideologie. Natürlich gab es sie noch nie, und sei es nur, daß auf der abstraktesten Ebene die Nutzung nie für alle gleichermaßen gegolten hat, schon aus rein technischen Gründen, weil es für Räume Grenzen der Belastbarkeit gibt. An dieser Stelle würde ich, wie wir uns die bürgerliche Öffentlichkeit auch immer erklären, damit argumentieren, daß die Behauptung des freien Zugangs für alle schon immer ein ideologisches Mittel war, um diese Art von Vergesellschaftung attraktiver und legitimer erschienen zu lassen als andere.

So waren in öffentlichen Räumen lange Zeit Frauen nicht gerne gesehen bzw. wurden aktiv ausgegrenzt. Nur Prostituierten war der Zugang erlaubt, und das auch nur in bestimmten Gegenden. Heutzutage sind davon Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung betroffen und seit zehn oder zwanzig Jahren in Deutschland auch zunehmend alle möglichen sichtbaren Randgruppen wie Bettler, Junkies, Alkoholiker sowie migrantische und nichtmigrantische Jugendliche, die abhängen. Ihnen wird der Zugang zum öffentlichen Raum natürlich nicht deswegen verwehrt, weil sie nicht zur Gesamtheit gehören, sondern damit sich alle anderen dort sicher fühlen. Das ist der Trick dieser Legitimationsideologie, derzufolge der öffentliche Raum für alle zugänglich ist.

Aber diese Art Legitimation des bürgerlichen Staates kann auch gegen Minderheiten, die sich in politischen Auseinandersetzungen positiv darauf beziehen und ihr Recht auf Zugang zum öffentlichen Raum einfordern, eingesetzt werden. Diese ganz banale Umkehrung ist in den USA vollständig durchgesetzt worden. Öffentlicher Raum ist nur dann öffentlich, wenn sich dort alle sicher fühlen. Das heißt, bestimmte Leute müssen aus dem öffentlichen Raum herausgedrängt werden, und das sind, insbesondere in den USA und in Großbritannien, aber nicht so sehr in Deutschland, immer die gleichen üblichen Verdächtigen. Aber auch in Deutschland ist an manchen Stellen verstärkt zu beobachten, daß diese Art, sich auf den öffentlichen Raum zu beziehen, eine der Begleitideologien zu den vorher erwähnten Polizeimaßnahmen ist. Schließlich muß man irgendwie begründen, warum Bettler im Namen der Sicherheit aus der Innenstadt vertrieben werden. Sie sind ja nicht kriminell, aber sie können vielleicht den Eindruck von mangelnder sozialer Kontrolle vermitteln. Darauf gründet sich der große Erfolg der sogenannten Broken-Windows-Theorie. Sie müssen verschwinden, nicht, weil sie selber kriminell sind, sondern weil Leute sich unsicher fühlen, wenn zu viele von ihnen da sind. In solchen Debatten wird der öffentliche Raum geradezu als Exklusions-Legitimation angeführt.

SB: Auch Sonderwirtschaftszonen definieren neue Räume, in denen die hoheitlichen Rechte der Staaten, auf deren Gebiet sie angesiedelt sind, eingeschränkt sein können. Ganze Regionen werden im betriebswirtschaftlich-infrastrukturellen Sinn als Cluster definiert, in denen der Einzugsraum bestimmter hochproduktiver Zentren der dafür notwendigen Zuarbeit und Entsorgung nachgeordnet ist. In der chinesischen Metropole Zhengzhou bildet der Produktionskomplex des Computerherstellers Foxconn mit 200.000 Mitarbeitern eine Art Stadt in der Stadt. Im ländlichen Raum entstehen sogenannte Outlet-Center, die neue Verkehrsanforderungen bedingen. Ruft der angebliche Sachzwang, Produktivität räumlich zu konzentrieren und die verfügbaren Räume funktional zu definieren, deiner Ansicht nach noch eine Gegenbewegung auf den Plan?

BB: Es gibt erst einmal das kapitalistische Gegeninteresse, daß Konzentration immer auch negative Effekte für Teile der Kapitalistenklasse hat. Deswegen können wir auch ein andauerndes Umstrukturieren der kapitalistischen Raumproduktion beobachten. Ökonomische Standortentscheidungen teilweise in Richtung auf Konzentration, Agglomerationsvorteile, teilweise die Ausweisung von Sonderzonen, ein komplett politisch getriebener Prozeß, aber das geht nur, wenn politisch festgelegt wird, daß in diesem Raum andere Regeln gelten. Deswegen werden diese Räume immer künstlich hergestellt. Es gibt verschiedene Gründe, warum eine Konzentration erfolgt, sei es wegen der Minimierung externer Kosten oder des Erzielens von Skalen-Vorteilen. Man kann ganz neoklassisch begründen, warum Konzentration angestrebt wird.

Dann muß man aber auch die negativen Effekte von Konzentration beachten wie zum Beispiel, daß es in den 90er Jahren in Silicon Valley auf einmal keine Parkplätze mehr gab. Das klingt banal, aber es war ein Standortnachteil, daß in Silicon Valley die Umwelt so zerstört und alles so zersiedelt war, daß keiner mehr hinziehen wollte. Daß man in Frankfurt dauernd im Stau steht, mögen die Banker nicht, die nach Feierabend wieder in den Taunus fahren. Wesentlich wichtiger als diese eher alltäglichen Probleme ist, aus der Agglomeration heraus- und dahin zu gehen, wo noch keine Konkurrenz ist. Das verspricht Extraprofite, weil dort die Arbeiterinnen und Arbeiter vielleicht billiger sind oder in anderen Ländern bzw. in einer Wirtschaftszone andere Regularien gelten. Manchmal sind auch klassische Standortfaktoren entscheidend wie die Nähe zum Wasser wegen der Transportmodalitäten. So kann es sinnvoll sein, daß die Schiffe nach Hamburg hineinfahren und der Container erst hier auf den LKW verladen wird. Es gibt also jede Menge guter Gründe sowohl für Konzentration als auch für Dekonzentration. Neil Smith hat das die Wippentheorie des Kapitalismus genannt, also daß es andauernd ausgleichende Bewegungen zur Konzentration gibt. Das wäre sozusagen die kapitalistische Logik selber. Umweltschutz im Sinne von Infrastruktur oder staatlichem Eingriff auf allgemeine Produktionsbedingungen ist dagegen immer ein politischer Aspekt, weshalb bestimmte Formen von Konzentration oder auch der Nutzung von Natur erst nach langen Kämpfen eingeschränkt werden.

SB: Der Raum verspricht Bewegungsfreiheit und eröffnet Perspektiven, gleichzeitig definiert er sich über seine Grenzen. Das Versprechen auf Bewegung und Freiheit bricht sich daran, daß die Horizonte, die sich vermeintlich öffnen, nie erreicht werden, weil sie in der betrachtenden Distanz unüberbrückbar bleiben. Ließe sich der Begriff Raum vielleicht noch anders fassen, um mit diesem Problem der betrachtenden Perspektive überhaupt umgehen zu können? Könntest du zum Abschluß noch etwas zu dieser zugegebenermaßen eher philosophisch-abstrakten Frage sagen?

BB: Eine alte erkenntnistheoretische Debatte in der Philosophie betrifft das Verhältnis von Raum und Zeit, die immer auch eine politische oder ästhetische Dimension hatte und mit gewissen Präferenzen einhergegangen war. Eine Weile war es Mode, zu behaupten, daß die Zeit in der Philosophiegeschichte wichtiger war als der Raum. Henri Bergson wird gerne als Beispiel genannt. Für ihn war der Raum das Tote und das Leben fand nur in der Zeit statt. Ich hatte schon Adorno und Horkheimer erwähnt, die den Raum en passant als die absolute Entfremdung bezeichnet haben. Hegel hat in seinem Denken den territorialen Staat angeblich als Höhepunkt der Entwicklung gesehen. Ich sage angeblich, weil das eine sehr verkürzte Hegel-Interpretation ist. Das wurde von Marx kritisiert, für den die Revolution, also die Zeit, wichtiger war. Gerade an diesem Übergang vom räumlichen Denken merkt man gut, daß, sobald man sich über Raum und Zeit in dieser Abstraktion unterhält, eigentlich immer etwas anderes gemeint ist. Nämlich in dem Fall der territoriale Staat, der bei Hegel auf eine bestimmte Art verfaßt ist, versus Revolution, die bei Marx natürlich in der Zeit stattfindet. Aber beides sind natürlich gleichermaßen Raum- wie Zeit-Phänomene.

Der Versuch, hier auf einer sehr abstrakten Ebene herauszukommen, führte zur Raumzeit und damit zur Vorstellung, daß beides - auch wieder mit dem Griff in die Philosophiegeschichte, wo Raum und Zeit häufig gemeinsam diskutiert wurden - Formen reiner Anschauung sind und man weder über Raum noch Zeit, sondern über die Räumlichkeit und Zeitlichkeit sozialer Prozesse reden sollte. Hierzu gehört natürlich auch die Frage nach der Utopie und dem Möglichen. Sie wird zum Beispiel bei Harvey so diskutiert, welcher Gestalt die Räumlichkeit von Utopien eigentlich sein müßte, damit sie flexibel genug ist, um utopisch zu bleiben. Lefebvre hingegen betont immer wieder, daß jede räumliche Fixierung im Dienste von Kapital und Staat immer auch den Widerspruch des gelebten Raumes notwendig beinhaltet, den differentiellen Raum, weshalb der Raum selber die Überwindung und das utopische Moment der im Raum wiederum eingefrorenen sozialen Verhältnisse beinhaltet. Wenn man Raumzeit als die notwendige materielle Form von gesellschaftlichen Prozessen faßt, dann gibt es auch in bezug auf Politik Möglichkeitsräume - wobei Raum hier natürlich metaphorisch verwendet wird -, so daß das Mögliche und die Utopie in Raum und Zeit relevante Kategorien sein können, nicht zuletzt weil sich in der Vergangenheit gezeigt hat, daß bestimmte räumliche Formen, Zeit zu organisieren, obschon mit utopischem oder meinetwegen sozialistischem Anspruch angetreten, sehr schnell ins Repressive kippen konnten.

SB: Bernd, vielen Dank für das schöne Schlußwort zu diesem langen Gespräch.

Flyer der Veranstaltung im Hamburger Gängeviertel - Foto: 2012 by Schattenblick

Foto: 2012 by Schattenblick

Fußnote:
[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0132.html

20. Dezember 2012