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INTERVIEW/109: Kongreß Kurdischer Aufbruch - Achin Vanaik zur Innen- und Außenpolitik Indiens (SB)


Interview mit Achin Vanaik am 4. Februar in Hamburg


Auf der Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern - Alternative Konzepte und der kurdische Aufbruch" an der Hamburger Universität hielt Achin Vanaik, emeritierter Professor für internationale Beziehungen und Geopolitik an der Universität von Delhi, im Rahmen der Session "Kapitalismus als Zivilisationskrise" am 4. Februar einen aufschlußreichen und fundierten Vortrag mit dem Titel "Plünderungswerkzeuge des Kapitalismus: Industrialismus und Nationalstaat".[1] Gleich im Anschluß an besagte Session stellte sich Vanaik, der vielleicht profilierteste Atomwaffengegner Indiens, dem Schattenblick für ein ausführliches Interview zur Verfügung.

Achin Vanaik trägt am Stehpult vor - Foto: © 2012 by Schattenblick

Achin Vanaik
Foto: © 2012 by Schattenblick
Schattenblick: Prof. Vanaik, seit dem Auftakt der New Economic Policy (NEP) Indiens im Jahre 1991, die mit neoliberalen "Reformen" und einer Öffnung des indischen Marktes für ausländische Waren einherging, ist Selbstmord unter verarmten Bauern bei Ihnen zum Massenphänomen geworden, während die verschiedenen regionalen Aufstände gegen die Zentralregierung in Neu-Delhi an Heftigkeit zugenommen haben. Darf man diese beiden Entwicklungen als direkte Folgen des neoliberalen Schwenks Indiens in der Wirtschaftspolitik verstehen?

Achin Vanaik: In einem gewissen Grad ja. Die im Rahmen der New Economic Policy ergriffenen Reformen haben zu einer drastischen Zunahme der gesellschaftlichen Ungleichheit in Bezug auf Einkommen und Wohlstand auf drei Ebenen geführt; erstens, zwischen Stadt und Land; zweitens, zwischen den verschiedenen Regionen und Bundesstaaten; und drittens, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Was das von Ihnen erwähnte Phänomen der bäuerlichen Selbstmorde betrifft, so ist es in den letzten Jahren im landwirtschaftlichen Sektor zu einer Ungleichentwicklung gekommen. Diejenigen Bauern und agroindustriellen Unternehmen in Indien, die für den Export produzieren, haben von der Öffnung zum Weltmarkt profitiert. Sie sind zudem beim Kampf um Anteile am Weltmarkt auf der nationalen und bundesstaatlichen Ebene gefördert worden. Anders sieht es bei den Kleinbauern und kleineren Unternehmen aus, die traditionell für den einheimischen Markt produzieren. Sie sind in starkem Maße von Importkonkurrenz aus dem Ausland, sinkenden Preisen und wegfallenden Subventionen betroffen. Viele Bauern bei uns, nicht nur Subsistenzlandwirte, sondern auch die der darüber liegenden Stufe, haben sich angesichts dieser für sie negativen Entwicklung verschuldet und stehen mit dem Rücken an der Wand. Nicht wenige bringen sich deshalb um.

Die Aufstände der Maoisten, Naxaliten und anderer Gruppen reichen viel weiter zurück, wenngleich die Auswirkungen der NEP wie die Verelendung breiter Massen der Bevölkerung, die Privatisierung von Land bzw. dessen Beschlagnahmung für größere Infrastrukturprojekte, für eine Zuspitzung gesorgt hat. Jene Aufstände haben ihren Ursprung in einer Besonderheit der indischen Gesellschaft. Zwar ist die Republik Indien seit ihrer Gründung eine parlamentarische Demokratie und hat niemals wie in Pakistan eine Militärdiktatur erlebt. Nichtsdestotrotz erleiden vor allem die armen Menschen auf dem Land durch die Großgrundbesitzer und ihre Handlanger sowie die Behördenvertreter sehr viel Gewalt. Man hat also auf der Makroebene eine stabile Liberaldemokratie, während gleichzeitig auf der mittleren und unteren Ebene die Dinge wenig demokratisch ablaufen und die einfachen Menschen tagtäglich schikaniert und vielfach zu Opfern behördlicher Willkür und Gewalt werden. Deshalb kam es bei der radikalen indischen Linken zu dieser Spaltung von Marxisten-Leninisten und Maoisten. Während erstere immer mehr in den Parlamentarismus abgedriftet sind, haben sich letztere, weil sie den Ärmsten in den unterentwickelten Regionen nahestehen, für den bewaffneten Kampf entschieden. Dieser Ansatz ist zwar weder strategisch noch langfristig durchdacht, stößt gleichwohl bei den Betroffenen auf dem Land und in den Slums am Rande der Großstädte auf nicht geringe Zustimmung.

Indien ist in der Hinsicht einzigartig, weil es neben kleineren radikallinken Gruppierungen zwei große kommunistische Parteien gibt, eine marxistisch-leninistische und eine maoistische, die seit jeher eine wichtige Rolle im politischen Leben spielen, in einigen Bundesstaaten die Regierung gestellt haben und sich auch mehr als zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Wechsel der Volksrepublik China hin zum Kapitalismus nach wie vor behaupten. Überall, wo man sonst auf der Welt hinschaut, ausgenommen Südafrika mit der SACP, haben die Parteien der Dritten Internationalen massiv an Zustimmung verloren, während die Maoisten nur noch in Indien, Nepal, auf den Philippinen und in Peru - mit der Sendero Luminoso - etwas zu melden haben.

SB: Während sich Indiens marxistisch-leninistische Linke immer mehr mit der kapitalistischen Ordnung zu arrangieren und mit ihrer Rolle als parlamentarische Kraft abzufinden scheint, hält der Kampf der Maoisten gegen den Staat ununterbrochen an. Doch die Chancen, daß sie die Macht in Indien jemals übernehmen könnten, wie es zuletzt ihre Gesinnungsgenossen in Nepal geschafft haben, tendieren gegen Null. Stellten sie eine ernsthafte Bedrohung der staatlichen Ordnung dar, würde Neu-Delhi vermutlich mit ihnen so verfahren, wie es zuletzt die Regierung und Militärs in Sri Lanka mit den Tamil Tigers getan haben.

AV: Die marxistisch-leninistische Linke in Indien verdient diese Bezeichnung nicht. Auch wenn sie sich noch nicht so nennen, sind sie inzwischen Sozialdemokraten und keine klassischen Kommunisten mehr, die lediglich für eine Abmilderung des bestehenden kapitalistischen Systems eintreten. Allenfalls in der Außenpolitik stehen sie etwas mehr links von der europäischen Sozialdemokratie. Doch genauso wie sie ist die marxistisch-leninistische Linke in Indien in den letzten Jahren nach rechts abgedriftet.

Was die Maoisten betrifft, so dürfte für sie die Niederlage der LTTE als mahnendes Beispiel stehen, zumal die Behörden auf Sri Lanka dabei auch die Unterstützung Indiens erhalten haben. Die Niederschlagung des bewaffneten Kampfes der Befreiungstiger von Tamil Eelam ist von nicht geringer Bedeutung. Schließlich handelte es sich bei ihnen um die einzige Befreiungsbewegung in der Dritten Welt, die über eine eigene Luftwaffe und Marine verfügte. Und dennoch mußte sie sich der Übermacht des Staates Sri Lankas und dessen ausländischen Unterstützern wie Indien und den USA geschlagen geben. Also ist die Vorstellung, die Maoisten in Indien könnten den Staat in die Knie zwingen und/oder ihn übernehmen, vollkommen illusorisch. Obwohl der bewaffnete Kampf strategisch wenig Sinn macht, bekommen die Maoisten viel Zuspruch. Dies hängt mit der alltäglichen, institutionalisierten Gewalt des indischen Staates gegenüber seinen ärmsten Bürgern zusammen. Die Maoisten stellen sich ihm wie eine Art Bürgerwehr entgegen, was viele Menschen nachvollziehbar finden. Allerdings haben die militärischen Erfordernisse des bewaffneten Kampfes bei den Maoisten zur Bildung autoritär-hierarchischer Strukturen und zu einer Rücksichtslosigkeit geführt, die wenig mit Mitbestimmung und Basisdemokratie zu tun haben. Auf Dauer wird man damit die Unterstützung der eigenen Basis verlieren. Zwar haben sich die Maoisten in den letzten zwanzig, dreißig Jahren im Kampf gegen die staatlichen Behörden gut behauptet, doch ein Erfolg ihrer Strategie, die ländlichen Gegenden zu erobern und die großen Städte zu umzingeln, ist nicht in Sicht. Die nächsten zehn Jahre werden entscheidend sein im Konflikt zwischen dem indischen Staat und den maoistischen Rebellen.

SB: Was meinen Sie damit?

AV: Vor kurzem hat die indische Militärführung offen erklärt, sie sehe ihre Aufgabe in der Verteidigung des Staates vor äußeren Feinden und nicht in der Niederschlagung aufständischer Bürger im Inland. Demnach wäre das eine Aufgabe für die Polizei und die örtlichen Sicherheitskräfte. Nichtsdestotrotz bildet das Militär solche Kräfte aus und stationiert Truppeneinheiten und paramilitärische Verbände in den im Aufstand befindlichen Regionen nach dem Motto, man werde in den Konflikt nicht eingreifen, aber sollten die Soldaten angegriffen werden, müßten sie sich selbstverständlich verteidigen. Also werden die regulären Streitkräfte zunehmend in den Konflikt verwickelt, während man gleichzeitig das Gegenteil behauptet.

SB: Für die indische Armee ist dies eine Gelegenheit, Erfahrungen darin zu sammeln, was man heute einen "Krieg niedriger Intensität" nennt, inklusive des Einsatzes neuer Technologien wie Drohnen, nicht wahr?

AV: So kann man es sehen. Der Erfolg der Maoisten in Nepal hängt mit den spezifischen Gegebenheiten dort zusammen und wird sich auf Indien nicht übertragen lassen. Dafür ist Indien viel zu groß. In Nepal waren die Kommunisten auch in zwei Strömungen gespalten. Doch während sich der Streit in Indien um das Verhältnis der Kommunisten zur Kongreß-Partei drehte, entzündete er sich in Nepal am Bruch zwischen der Sowjetunion und der Volksrepublik China. Die Maoisten orientierten sich ganz klar am chinesischen Modell. Interessanterweise haben sie sich recht früh am parlamentarischen Geschäft beteiligt, kehrten jedoch Mitte der neunziger Jahre zum bewaffneten Kampf zurück. Damit schienen sie völlig gegen den Strom der Geschichte zu schwimmen, doch der Erfolg sollte ihnen recht geben. Nach zehn Jahren harter Kämpfe hatten die Maoisten weite Teile des Landes unter ihre Kontrolle gebracht, konnten aber die Städte nicht erobern. 2006 entschieden sie sich für eine Rückkehr zur parlamentarischen Politik, um die Gelegenheit zur Abschaffung der Monarchie, die inzwischen sehr unbeliebt geworden war, zu ergreifen - was auch gelang. Nach dem Sieg der Maoisten bei den Wahlen 2008 wurde in Nepal die Republik ausgerufen und der König mußte abdanken.

Ich denke, die Maoisten in Nepal haben ihre Karten gut ausgespielt und den geeigneten Zeitpunkt zur Beendigung des bewaffneten Kampfes erkannt. Während sie auf dem Höhepunkt ihres Erfolges standen, waren die königlichen Streitkräfte im Gange, sich personell und technisch erheblich aufzurüsten. Im Verlauf des Bürgerkrieges war die Anzahl der Soldaten von ursprünglich 15.000 bis 20.000 auf rund 100.000 gestiegen. Die Maoisten haben begriffen, daß sie von einer Fortsetzung des Krieges vermutlich nicht profitieren, sondern eher an Boden verlieren würden. Durch den Wiedereinstieg in die Politik haben sie eine 200 Jahre alte Dynastie im einzigen hinduistischen Königreich der Welt zu Fall gebracht. Im Grunde genommen haben sie den Diskurs in Nepal vollkommen verändert und dort dem Säkularismus und Republikanismus zum Durchbruch verholfen. 2008 haben sie sogar die Parlamentswahlen gewonnen, 2011 jedoch die Regierungsgewalt an eine von der marxistisch-leninistischen Linke geführte Koalition wieder verloren, sind aber nach wie vor in Nepal eine bestimmende politische Kraft.

SB: Zu den Quellen innerindischer Spannungen gehört die Animosität zwischen Moslems und Hindus. Erwarten Sie für die kommenden Jahre eher eine Annäherung oder eine weitere Entzweiung dieser beiden größten religiösen Gemeinden in Indien und inwieweit hängt diese Entwicklung vom Kaschmirstreit und dem Stand der bilateralen Beziehungen zwischen Indien und Pakistan ab?

AV: Die Lage ist sehr kompliziert und es wäre zu einfach, von einer generellen Feindschaft zwischen Hindus und Moslems in Indien zu sprechen. Aus der synkretistischen Natur der indischen Gesellschaft ergibt sich, daß sich Moslems und Hindus in einem Teil des Landes häufig näherstehen und miteinander viel mehr gemeinsam haben, zum Beispiel in der Übung religiöser Rituale, als mit ihren jeweiligen Glaubensbrüdern und -schwestern in einer anderen Region oder einem anderen Bundesstaat. Nichtsdestotrotz hat der hinduistische Kommunalismus seinen Ausdruck in einem indischen Nationalismus gefunden, wofür politisch die konservative, auf der Bundesebene derzeit oppositionelle Bharatiya Janatha Party (BJP) steht. Interessanterweise ist unter den Moslems in Indien seit der Unabhängigkeit von Großbritannien 1947 keine einheitliche, landesweite politische Bewegung entstanden. Der muslimische Kommunalismus schlägt sich politisch lediglich auf der lokalen und der regionalen Ebene nieder. Parallel dazu ist zu beobachten, daß in den Gegenden oder Regionen mit einem muslimischen Kommunalismus häufig in Reaktion darauf ein hinduistischer Kommunalismus entsteht. Das Gegenteil ist aber nicht der Fall. An Orten, wo sich der hinduistische Kommunalismus bemerkbar macht, suchen die Moslems meistens die Nähe zu den größeren säkularen Parteien, allen voran zum Kongreß. Darüber hinaus haben sich die indischen Moslems und ihre politischen Vertreter lange Zeit nicht für das Thema Kaschmir interessiert. Das hat sich erst in den letzten Jahren verändert. Wie alle Inder traten auch die Moslems dafür ein, daß Kaschmir ein Teil Indiens bleiben sollte und lehnten eine Unabhängigkeit der Provinz ab. Um nicht in den Verdacht eines fehlenden Patriotismus zu geraten, hat kein muslimischer Politiker in Indien jemals vorgeschlagen, daß das mehrheitlich von Muslimen bewohnte Kaschmir ein Teil Pakistans werden sollte.

Achin Vanaik im Porträt - Foto: © 2012 by Schattenblick

Foto: © 2012 by Schattenblick Die Rezeption der Ausrufung des westlichen Antiterrorkrieges und das Aufbauschen einer globalen islamischen Gefahr hat in Indien in den vergangenen Jahren das Verhältnis der beiden größten Glaubensrichtungen des Landes zueinander erheblich belastet. Dies und das häufige Aufkommen von religiösen Krawallen hat in den letzten Jahren bei den indischen Moslems das Gefühl, unter Belagerung zu stehen, verstärkt. Zwei Phänomene haben in diesem Zusammenhang zur Solidarisierung und Entstehung eines landesweiten Zugehörigkeitsgefühls unter den indischen Moslems geführt. Das erste ist der anhaltende juristische und geschichtliche Streit um das Gelände in Ayodha, wo 1992 aufgebrachte Hindus die Babri-Moschee, die vor Jahrhunderten von den Moghulen am angeblichen Geburtsort des Hindugottes Ram errichtet worden war, abgerissen haben. Das zweite ist die Häufigkeit und das Ausmaß religiös motivierter Krawalle, bei denen in den vergangenen Jahren nach offiziellen Angaben die Mehrzahl der Opfer - irgendwo zwischen 80 und 85 Prozent - Moslems gewesen sind. Hinzu kommen natürlich die Beteiligung indischer Moslems an einer Reihe von Bombenanschlägen und das Schüren anti-muslimischer Ressentiments durch BJP-Demagogen wie Narendra Modi, dem Premierminister des Bundesstaates Gujarat.

SB: Wie beurteilen Sie die Chancen eines Rapprochements zwischen Indien und Pakistan einschließlich einer Beilegung des Streits um Kaschmir?

AV: Das wird noch eine Weile auf sich warten lassen, befürchte ich. Ein Grund für den Stillstand in der Diskussion über Kaschmir besteht darin, daß Neu-Delhi und Islamabad darauf pochen, den Streit als bilaterale Staatsangelegenheit zu behandeln. Keine der beiden Seiten nimmt dabei die geringste Rücksicht auf die Wünsche der Bevölkerung vor Ort. Sie wird nicht nach ihrer Meinung gefragt, vermutlich weil die Mehrheit weder zu Indien noch zu Pakistan gehören will, sondern ein unabhängiges Kaschmir bevorzugt. Indien und Pakistan sind sich in ihrer Ablehnung einer Selbstbestimmung für die Kaschmiris einig. Deswegen haben sie bisher jede Teilnahme lokaler politischer Vertreter aus dem indischen und pakistanischen Teil Kaschmirs an den Gesprächen blockiert. Diese Engstirnigkeit macht sie blind für eine Lösung, die unterhalb der Unabhängigkeit Kaschmirs liegen und eine gelockerte Reisefreiheit und verstärkte Möglichkeiten des Handels, der Zusammenarbeit und des kulturellen Austausches über die Line of Control (die De-Facto-Staatsgrenze - Anm. d. SB-Red.) hinweg beinhalten könnte.

Unter den größten indischen Parteien wäre der Kongreß vermutlich zur Gewährung weitreichender Autonomie bereit, solange das indische Kaschmir Teil der Republik Indien bleibt. Die BJP dagegen lehnt jedes Zugeständnis ab. Dessen ungeachtet läßt sich das Streben der Kaschmiris nach Selbstbestimmung und Freiheit genauso wenig wie das der Palästinenser weiter unter den Teppich kehren. Das Problem wird solange akut bleiben, bis eine angemessene Lösung gefunden worden ist. Wie lange es dauert, bis man eine gefunden hat, hängt von Faktoren ab, die außerhalb von Kaschmir liegen, nämlich von den Beziehungen zwischen Indien und Pakistan und den geopolitischen Entwicklungen in Südasien als Ganzes ab.

SB: In den letzten Jahren hat sich Indien parallel zu den neoliberalen Wirtschaftsreformen von seiner traditionellen Position als führendes Mitglied der Organisation der Blockfreien Staaten distanziert und ist zu einem informellen Verbündeten der USA geworden, was im bilateralen Atomabkommen und der verstärkten militärischen Zusammenarbeit beider Staaten, einschließlich des zunehmenden Kaufs amerikanischer Waffensysteme durch die indischen Streitkräfte, gemeinsamer Marinemanöver im Indischen Ozean und des Engagements indischer Unternehmen bei Wiederaufbauprojekten in Afghanistan seinen Ausdruck gefunden hat. Sehen wir hier die frühen Ansätze eines indischen Imperialismus? Besteht die Gefahr, daß sich Indien, um von den Spannungen und Konflikten im eigenen Land abzulenken, zu Militärabenteuern im Ausland veranlaßt sehen könnte?

AV: Die Gefahr sehe ich nicht. Indien ist ein großes Land mit starken topographischen Unterschieden und vielen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, was Ethnie, Kaste und Religion betrifft, so daß sich diese gegenseitig neutralisieren und dadurch keine ernsthafte Bedrohung der staatlichen Ordnung oder Einheit entstehen kann. Und weil die unterschiedlichen Partikularinteressen wie zum Beispiel die Frauenrechtsbewegung, die Umweltbewegung und die Maoisten, deren Anhänger in Indien zahlenmäßig jeweils in die Millionen gehen, schwer bis gar nicht zueinander finden oder zusammenarbeiten, können die Hüter des Nationalstaats sie in ihrem Sinne steuern und die Verfechter der neoliberalen Wirtschaftspolitik die eigene Klientel der wachsenden bürgerlichen Mitte bedienen. Deswegen kann sich Indiens Elite und Bürgertum seit Jahrzehnten die "bevölkerungsreichste Demokratie der Welt" leisten. Indien ist zudem mit dem Himalaya im Norden und dem Indischen Ozean im Osten, Süden und Westen geographisch sehr gut abgesichert. In Neu-Delhi muß man sich nicht wie in Islamabad Gedanken wegen fehlender "strategischer Tiefe" machen, weswegen Pakistan stets die Kontrolle über Afghanistan anstrebt, um sich einen potentiellen Rückzugsraum freizuhalten. Von daher besteht für Indien nicht wie bei anderen Staaten die Notwendigkeit, aus innenpolitischen Gründen außenpolitisch aktiv zu werden. Die Motive für die verstärkten außenpolitischen Aktivitäten Indiens speisen sich aus dem ständigen Vergleich mit China nach dem Motto: "Wir sind auch eine aufstrebende Supermacht mit einer jahrtausendealten Zivilisation und weit mehr als einer Milliarde Menschen; Indiens Stimme muß mehr Gewicht in der Welt erhalten". Ich sehe darin Hybris und einen unsicheren Nationalismus.

SB: Der Begriff, den Sie für Indiens neue Außenpolitik und strategische Partnerschaft mit den USA gefunden haben, lautet "bandwaggoning". Demnach hänge sich Indien an die USA ran, springe Neu-Delhi auf den von Washington gesteuerten Zug und lasse sich für dessen Pläne, allen voran bei der "Eindämmung" Chinas, einspannen. Im Mittelpunkt der neuen Achse zwischen Washington und Neu-Delhi steht das Abkommen über die Zusammenarbeit im Bereich der Atomtechnologie, das US-Präsident George W. Bush und Premierminister Manmohan Singh vor vier Jahren unterzeichnet haben. Hat sich der Kurswechsel Indiens weg von seiner langjährigen Neutralitätspolitik gelohnt?

AV: Ich denke, für beide Seiten sind die Erwartungen nur zum Teil in Erfüllung gegangen. Beiden ist die strategische Partnerschaft enorm wichtig - sowohl politisch als auch militärisch. Die USA - zusammen mit Israel - sind dabei, der wichtigste Rüstungslieferant Indiens, das traditionell die meisten seiner Waffen aus Rußland bzw. der Sowjetunion bezogen hatte, zu werden. Gleichzeitig gibt es beim Pentagon Vorbehalte, die modernste Wehrtechnik der USA an Indien auszuliefern. Das ist eventuell auch der Grund, warum sich Neu-Delhi kürzlich entschieden hat, für 11 Milliarden Dollar 126 französische Kampfjets des Typs Rafale anstelle das F-16 aus den USA für die indische Luftwaffe zu kaufen. Über die Niederlage bei dieser Preisausschreibung waren F-16-Hersteller General Dynamics und die Regierung Barack Obamas alles andere als glücklich. Dessen ungeachtet schreitet die militärische Zusammenarbeit der beiden Streitkräfte mit Riesenschritten voran. Dazu gehören gemeinsame Marinemanöver im Indischen Ozean und die Ausbildung amerikanischer Spezialstreitkräfte in der dünnen Luft und unter den schwierigen Wetterverhältnissen des Himalaya. Die USA sind zudem am Ausbau eines großen neuen Stützpunktes der indischen Marine auf den Andamaninseln beteiligt. Ähnlich wie Südkorea, Japan, Indonesien und Australien - und im kleineren Ausmaß natürlich die Philippinen, Malaysia, Singapur und Thailand sowie eventuell Birma und Vietnam - kommt Indien in der neuen Asien-Politik der Obama-Regierung eine wichtige Rolle zu.

SB: Inwieweit ist Neu-Delhi ihrer Meinung nach zur Beteiligung an der Containment-Strategie der USA gegenüber China bereit?

AV: Zum Verständnis dieser Problematik rede ich häufig von den vier Dreiecken. Zum ersten Dreieck gehören Indien, Pakistan und die USA. Letztere stehen an der Spitze und werden von den beiden südasiatischen Rivalen umworben, schlagen sich jedoch niemals gänzlich auf die Seite des einen oder des anderen und können diese dadurch in ihrer Bittstellerposition halten. Indien ist für die USA geopolitisch und als Absatzmarkt von großem Interesse. Bei Pakistan spielen die wirtschaftlichen Interessen eine geringere Rolle, dafür ist die geographische Position des Landes mit Zugang zu Zentralasien und zur öl- und gasreichen Region um das Kaspische Meer entscheidend.

Das zweite Dreieck besteht aus China, Indien und den USA. Hier geben die USA wieder den Ton an. China und Indien verhalten sich reaktiv. Sollten die USA einen aggressiveren Kurs gegenüber China einschlagen, dann werden die Beziehungen Indiens zur Volksrepublik wegen der neuen strategischen Partnerschaft zwischen Neu-Delhi und Washington zwangsläufig darunter leiden. Indien und China versuchen seit Jahren ohne Erfolg ihren Streit über den Grenzverlauf zwischen beiden Staaten beizulegen. Ich erwarte hier für die kommenden Jahre keinen Durchbruch, denn die Beziehungen zwischen beiden Ländern hängen im wesentlichen von ihrem jeweiligen Verhältnis zu den USA ab.

Das dritte Dreieck bilden die USA, China und Japan. Hier besteht für die Amerikaner das Hauptanliegen darin, eine allzu große Annäherung oder ein strategisches Übereinkommen zwischen den beiden größten Militär- und Wirtschaftsmächten Asiens zu verhindern. Solange das Mißtrauen zwischen Peking und Tokio anhält, kann Washington Zehntausende Soldaten in Südkorea und Japan stationieren und sich als Beschützer Taiwans aufspielen. Hierzu gehören die Pläne der USA, Japan, Südkorea und Taiwan in das Raketenabwehrsystem des Pentagons zu integrieren, und die Bemühungen Washingtons, sich als Schiedsrichter am Streit der Anrainerstaaten des Südchinesischen Meers um die dort vermuteten Öl- und Gasvorkommen zu beteiligen.

Das vierte Dreieck besteht aus Indien, Pakistan und China. Zwischen Indien und China ist das Thema Tibet nicht unproblematisch. Es gibt vielfach Befürchtungen, daß es infolge des Klimawandels zum Streit Indiens jeweils mit China und Pakistan um das Schmelzwasser der Himalaya-Gletscher, welches die Quellen der größten Flüsse Asiens bildet, kommen könnte. Bisher hat sich jedoch das Abkommen zwischen Islamabad und Neu-Delhi um die Verteilung des Wassers aus dem Fluß Indus bewährt. Da kooperieren beide Länder gut miteinander. In Indien - und nicht nur dort - macht man sich Gedanken wegen möglicher negativer Auswirkungen der verschiedenen Wasserkraftprojekte der Chinesen auf dem tibetischen Plateau. Das könnte zum Auslöser künftiger Streitigkeiten werden.

Das Verhältnis zwischen China und Pakistan wird von übergeordneten Interessen beider Seiten bestimmt. Beim zweiten Indisch-Pakistanischen Krieg 1965 hat die Volksrepublik Pakistan lediglich moralisch mit öffentlichen Solidaritätsbekundungen, aber nicht materiell etwa durch Rüstungslieferungen, unterstützt. Bezeichnenderweise schickte Chou En-lai 1971 beim Bangladesch-Krieg, als Pakistan zerstückelt wurde und den Ostteil seines Territoriums verlor, einen sehr aufschlußreichen Brief an den damaligen pakistanischen Präsidenten Agha Muhammed Yahya Khan. Darin hieß es: "Wie immer können Sie sich auf unsere Unterstützung verlassen." Gerade die Formulierung "wie immer" sagte alles. Wohl wissend, was sechs Jahre zuvor passiert war, hat Chou Khan damit ganz klar zu verstehen gegeben, daß China keinen Finger krümmen würde, um Pakistan aus der Bredouille zu helfen. Während der Krise hat Henry Kissinger bekanntlich Peking besucht, um Mao Zedong dazu zu bringen, durch den Einsatz der chinesischen Streitkräfte eine zweite Front zu eröffnen, um Pakistans Truppen in heutigen Bangladesch zu entlasten. Damals standen die USA - neben China - auf der Seite Pakistans, während die Sowjetunion Indien unterstützte. Doch die Chinesen ließen sich von den Amerikanern nicht in den Krieg hineinziehen.

Zehn Jahre nach dem Bangladesch-Krieg wurde Indira Ghandi, die damalige indische Premierministerin, nach Moskau eingeladen, um den Sieg Indiens über Pakistan zu feiern. Seinerzeit setzte der Kreml Neu-Delhi unter enormem Druck, dem auf Initiative der Sowjetunion gegründeten, gegen China gerichteten Asian Security Collective beizutreten. Obwohl Indien damals ein informeller Verbündeter der Sowjetunion war, kam Gandhi der Einladung des Kremls nicht nach und Neu-Delhi schloß sich dem Asiatischen Sicherheitskollektiv nicht an. Damit haben die Inder ganz klar zu erkennen gegeben, daß sie sich von fremden Mächten nicht in eine feindliche Position gegenüber China hineinmanövrieren lassen würden. Damals wollten weder China noch Indien nach der Pfeife der USA respektive der Sowjetunion tanzen und haben jeweils bezogen auf den anderen entsprechend vorsichtig gehandelt.

Hinsichtlich der jetzigen Haltung Indiens gegenüber der Volksrepublik gibt es innerhalb der außenpolitischen Elite des Landes drei Gruppen. Eine Minderheit vertritt den Standpunkt, daß die Rivalität zwischen Indien und China vorprogrammiert sei und man sich deshalb mit entsprechenden Rüstungsprogrammen auf alle Eventualitäten vorbereiten sollte. Die zweite, noch kleinere Minderheit beurteilt die Entwicklung anders, sieht keinen zwangsläufigen Konkurrenzkampf und verweist darauf, daß beide Länder - mit Ausnahme des kurzen Grenzkrieges 1962 - seit Jahrtausenden friedlich nebeneinander koexistieren. Die Mehrheitsgruppe weiß einfach nicht so richtig, wie das aufstrebende Indien mit dem großen Nachbarn umgehen soll. Bei Pakistan weiß man in Indien immer, woran man ist. In den Beziehungen zwischen Islamabad und Neu-Delhi wechseln sich Phasen der Krise und der tiefsten Feindschaft mit denen der Entspannung und der gegenseitigen Bemühung um Freundschaft ab. Bei China ist alles indifferenter. Ist die Volksrepublik für Indien eine große Bedrohung oder vielleicht ein künftiger Partner bei der Bewältigung globaler Krisen? Man weiß es einfach nicht. Im Grunde genommen warten China, Indien und Rußland die Entwicklung im Nahen Osten und Zentralasien - Stichwort Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien und der Iran - ab. Setzen sich die USA und die NATO überall durch, werden Peking, Neu-Delhi und Moskau um die Nähe zu Washington buhlen. Verlieren die USA dagegen strategisch an Boden in der Region, so werden sich alle drei Mächte noch stärker als bisher für eine multipolare Weltordnung stark machen.

SB: Achin Vanaik, wir bedanken uns herzlich für dieses Interview.

Fußnote:

1. Bericht zum Vortrag Vanaiks:

http://schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0095.html

Interviewer und Interviewter im Gespräch vertieft - Foto: © 2012 by Schattenblick

SB-Redakteur und Achin Vanaik
Foto: © 2012 by Schattenblick

(Fortsetzung folgt)

21. Februar 2012