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INTERVIEW/062: Mit Iris Hefets von der Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost (SB)


Interview mit Iris Hefets am 19. November 2010 im Landeshaus Kiel


Iris Hefets gehört dem Vorstand der "Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost" (EJJP Deutschland) an. Als in Deutschland lebende Israeli tritt sie für einen emanzipatorischen Umgang mit dem Verhältnis dieser beiden durch ihre Geschichte auf besondere Weise miteinander verknüpften Staaten ein. Frau Hefets beantwortete dem Schattenblick am Rande der von ihr moderierten Buchvorstellung "'Antisemit!' - Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument" von Moshe Zuckermann einige Fragen.

Iris Hefets - © 2010 by Schattenblick

Iris Hefets
© 2010 by Schattenblick
Schattenblick: Frau Hefets, Sie haben Israel vor acht Jahren aus politischen Gründen verlassen. Wie ist es dazu gekommen?

Iris Hefets: Ich empfand es für mich persönlich als unerträglich, wie perspektivlos sich die Lage in Israel entwickelte. So konnte ich meinen Kindern keine Zukunft anbieten, es sei denn, ich hätte sie überzeugt, z. B. nicht zur Armee zu gehen. Sie waren in dieser Hinsicht ohnehin bereits gespalten, doch Kinder in diesem Alter, mit 13 in der Pubertät und so weiter, wollen schon wie alle anderen sein. Ich war nicht in der Lage, das auszuhalten.

Das galt auch für mich in meinem Beruf als Pharmareferentin. Jeden Morgen, wenn ich ins Krankenhaus kam und dem Pförtner "guten Morgen" wünschte, entschied dieser darüber, ob er jetzt meinen Kofferraum checkt oder nicht, ob er mich untersucht oder nicht. Dieser "gute Morgen" ist eigentlich kein guter Morgen, und das gilt auch für den Subtext, nämlich die Frage, ob ich "guten Morgen" mit einem arabischen Akzent oder nicht ausspreche. Wenn ich es nicht tue, bedeutet das, daß der Pförtner mich nicht checken muß, da ich nicht verdächtig bin. Ich komme zum Teil aus einer arabischen Familie, meine Mutter kommt aus Marokko und mein Vater ist in Palästina geboren, beide sprechen Arabisch. Wenn ich also ohne arabischen Akzent grüße, dann sage ich damit eigentlich aus: Ich bin nicht Arabisch. Das bedeutet auch für mich persönlich eine Verfremdung oder Verleugnung meines Daseins, meiner Identität und Kontinuität in der Familie, zu der ich gehöre. Es bedeutet aber auch, daß ich in diesem rassistischen Spiel mitspiele. Das weiter mitzumachen war für mich unerträglich.

In der Firma, in der ich gearbeitet habe, war ich für onkologische Medikamente zuständig. In Jerusalem berichtete mir eine Ärztin von einer Patientin, die mit Chemotherapie behandelt wurde und laut ihrer Krankenkasse nicht mehr versichert war. Warum? Weil sie aus Jerusalem und damit auch aus Israel ausgebürgert wurde. Das geschieht im Rahmen dieses "Silent Transfer". Den Palästinensern, die vielleicht zwei Monate im Jahr in Ramallah waren, wird mitgeteilt, daß sie eigentlich keine Jerusalemer Bürger mehr seien. Sie müssen dann anhand der Telefonrechnungen der letzten zwanzig Jahre das Gegenteil beweisen. Wenn sie das nicht vorlegen können, dann werden sie aus dem Register gestrichen und haben keine Rechte mehr.

Nun wollte die Ärztin irgendeine Lösung finden. Was macht man mit dieser Patientin, deren Behandlung schon angefangen hat? Ich ließ das dann unter Compassionate Care laufen, was bedeutet, daß die Pharmafirma das Medikament kostenlos zur Verfügung stellt. Das machten wir ab und zu, wir machten das normalerweise aber nicht für Palästinenser. Ich mußte das meiner Chefin gegenüber anders darstellen, denn ich wußte, daß ich nicht damit durchkäme, wenn ich den Fall dieser Patientin so schilderte, wie er sich verhielt. Ich habe also gesagt, Doktor "Zimmermann" braucht ein Medikament für eine ihrer Patienten, das die Krankenkasse nicht bezahlt. Ich habe nicht gelogen, aber ich habe es natürlich so verpackt, daß es funktionieren könnte. Und eine Kollegin, die selbst Jüdin-Araberin ist, hat sich dagegen ausgesprochen. Dieser Alltagsrassismus, der heute noch mehr als vor acht Jahren präsent ist, war für mich schon unerträglich. Was für ein Mensch bin ich, wenn ich das mache?

SB: Haben Sie mit dem jüdisch-arabischen Hintergrund Ihrer Familie, wenn man das so sagen kann, entsprechende Erfahrungen gemacht?

IH: Ja, ich komme aus diesem Hintergrund und auch aus diesem Vordergrund, aber ich wurde nie benachteiligt, weil ich schon im Bewußtsein einer weißen Ashkenasi aufgewachsen bin. Mein Großvater väterlicherseits kam aus Rußland, Hefets ist ein Ashkenasi-Name. Ich wohnte in Beershewa im Süden Israels und war mir sicher, daß dort alle so sind wie ich. Als ich zur Armee ging, in der ich einer Eliteeinheit angehörte, habe ich die Tochter von diesem Archäologen und die Tochter von jenem Professor kennengelernt. Daß die Welt eigentlich anders ist, wußte ich nicht, denn es war nicht so wie in Zeiten des Internets. Ich selbst war nicht benachteiligt, mein Bruder aber schon. Er hat eine dunklere Hautfarbe und sieht arabisch aus. Es kommt darauf an, wie er auftritt. Wenn er unrasiert ist und ein Polizist ihn anhält, dann kommt er schlecht durch. Wenn er rasiert ist, eine Brille trägt und mit wohlgewählten Worten spricht, dann kommt er besser durch.

Iris Hefets, SB-Redakteur - © 2010 by Schattenblick

Iris Hefets, SB-Redakteur
© 2010 by Schattenblick

SB: Ich möchte noch einmal auf Ihren am 9. März 2010 in der taz veröffentlichten Artikel "Pilgerfahrt nach Auschwitz" [1] zu sprechen kommen, den Clemens Heni als einen "der antisemitischsten Artikel seit dem Ende des Nationalsozialismus" bezeichnet hat. Sie hatten darin den zivilreligiösen Charakter des Holocaustgedenkens und seine daraus resultierende Instrumentalisierung für Zwecke der israelischen Regierungspolitik kritisiert. Unter anderem schrieben sie , daß es sich "bei diesem Völkermord, so erschreckend er war, nicht um ein esoterisches Ereignis, sondern um ein modernes, gut dokumentiertes und recherchiertes Verbrechen, das Menschen an anderen Menschen verübt haben", handelt. "Unfassbar" sei es "also nicht auf einer nicht intellektuellen, sondern allenfalls emotionalen Ebene". Gerade Letzteres wird massiv angesprochen, wenn man sich mit den Schilderungen überlebender Opfer und der Dokumentation der Vernichtungsmaschinerie befaßt. Wie, meinen Sie, könnte ein politisch produktiver Umgang mit diesem doch erheblichen emotionalen Faktor bei der Aufarbeitung des industriellen Massenmords an den europäischen Juden aussehen?

IH: Fangen wir damit an, daß es nicht tabuisiert werden darf. Wenn wir es nicht anfassen, dann können wir damit nicht umgehen. Man könnte provokant sagen, daß man heute, nachdem es so lange tabuisiert wurde, auch viel aussprechen darf. Als Jüdin will ich den Antisemitismus, den es hier gibt, auch sehen. Ich habe durchaus Angst davor. Und auch die Mitglieder der jüdischen Gemeinde haben Angst davor. Der einzige Unterschied zwischen uns ist der, daß wir mit dieser Angst anders umgehen. Wenn sie sagen, daß sie ihn nicht sehen wollen, dann gibt es ihn nicht oder es gibt ihn nur in dieser rechte Ecke. Dann wissen wir, wo er angesiedelt ist, und das war es.

Ich glaube nicht, daß es Antisemitismus nur in der rechten Ecke gibt. Ich glaube schon, daß er in der Mitte der Gesellschaft existiert. Ich will ihn sehen, und nicht nur für mich selber, denn ich glaube, daß es auch im Interesse der nichtjüdischen deutschen Gesellschaft ist, damit umgehen zu können. Besonders vor dem Hintergrund der Islamophobiedebatte, wenn man es überhaupt Debatte nennen kann. Es geht eigentlich um die gleichen Stereotypien, die damals auf Juden übertragen wurden, etwa diese Verbindung von internationaler Vernetzung von Terror und die antisemitische Meinung, Juden betrieben eine Weltverschwörung gegen die Nicht-Juden. Weil sie Bärte haben, sehen wir ihre Mimik nicht, wissen wir nicht, was sie denken, wir haben keine Kontrolle über sie. Sie bedecken auch ihre Köpfe, ob nun mit der Kippa oder dem Kopftuch. Wir haben keine Kontrolle über ihre angeblich konspirativen Gedanken.

Solche Mechanismen spiegeln sich auch in dieser Debatte wieder, und ich glaube, es ist höchste Zeit, sich damit zu befassen. Auch, wenn es gefühlsmäßig schwierig ist, kann man die emotionale und kognitive Auseinandersetzung nicht richtig voneinander trennen. Es ist nicht so, daß die Leute, die die Einschätzungen Ilan Pappes, Hajo Meyers, Norman Finkelsteins, Felicia Langers und Moshe Zuckermanns nicht hören wollen, sich damit nicht emotional auseinandersetzten. Sie machen das auch emotional - sie verleugnen, sie verdrängen, sie leben mit dieser Angst, sie müssen viel Energie aufbringen, um diese Angst auf einem angemessenen, nicht zu hohem Niveau beizubehalten.

SB: Wo, meinen Sie, kommt diese Angst her?

IH: Unter den Juden, die hier leben, gibt es einen Kern von etwa 30.000 Personen, die zu der alten Gemeinde gehören oder aus Ost-Europa gekommen und nach dem Krieg hiergeblieben sind. Sie wurden unterdrückt. Sie haben ein Trauma erlitten, und die zweite Generation ist davon nicht frei. Ich kann schon verstehen, daß sie sagen: es ist uns zu heikel, es ist für uns schwer, wir haben zu viel Angst, wir wollen das nicht sehen. Aber es geht um ca. 30.000 Leute, die die Politik hierzulande nicht machen.

Viel Einfluß auf die Politik haben die nichtjüdischen Deutschen. Ich glaube, daß sie auf verschiedenen Ebenen Angst haben.

Es gibt diejenigen, die sich mit dem Thema befaßt haben und glauben, daß sie vom Antisemitismus der vorherigen Generationen geheilt sind. Da es sich nicht um eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Problem handelt, haben sie eine Art von Phobie. Sie wollen das nicht anfassen, weil sie Angst davor haben, daß sich der kleine Antisemit in ihrem Innersten zu Wort melden könnte. Sie fürchten, ihn nicht wirklich überwunden zu haben und am Ende wie ihre Großväter zu werden, obwohl sie sich so niemals sehen wollen.

Es gibt diejenigen, die sich in einem Prozeß befinden und verstehen, daß es sich um ein Prozeß handelt, der nie abgeschlossen werden kann. Sie setzten sich z.B. mit ihrer konkreten Familiengeschichte auseinander und wagen, auch die Realität in Israel zu sehen.

Die meisten haben keinen Schimmer, was in Israel läuft. Das ist ein abstrakter Ort für sie. Sie wollen gut sein, sie haben die Nase voll davon, mit den Verbrechen ihrer Väter konfrontiert zu werden. Sie wenden sich den Opfern zu und unterstützen alles, was sie machen, obwohl sie keine Ahnung haben, was dort läuft, aber es gibt ihnen ein gutes Gefühl.

Das Gemeinsame aller Nichtjuden, die keinen Prozeß eines Durcharbeitens angefangen haben, besteht darin, daß sie keine Verantwortung für ihre Verbrechen bzw. die ihrer Väter übernommen haben. Hätten sie das getan, dann wären sie zu dem Schluß gelangt, daß die Juden eigentlich keinen Staat für sich allein benötigen, denn sie könnten hierzulande sicher leben. Sie sagen nicht, wir haben die Schwulen verfolgt, deshalb brauchen die Schwulen einen Staat. Aber die Juden seien nicht sicher, sie brauchen schon einen Staat für sich, denn man kann nie wissen. Ihre Aufgabe besteht eigentlich darin zu gewährleisten, daß den Juden hierzulande nichts angetan wird und nicht darin, einen Käfig im Nahen Osten zu unterhalten.

SB: Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem Holocaust-Gedenken und anderen katastrophalen Entwicklungen wie dem Hunger in der Welt, aufgrund dessen jeden Tag mehrere Zehntausend Menschen auf - in unserer Wahrnehmung - völlig undramatische Weise sterben? Könnte man ersteres nicht vielleicht sogar nutzen, um Bewußtsein für derartige Tragödien zu schaffen?

IH: Ich habe zum Beispiel vor ein paar Wochen zwei Freundinnen aus Israel zu Besuch gehabt. Als sie vom Berliner Holocaust-Mahnmal zurückkamen, haben sie sich sehr geärgert. Sie erklärten es damit, daß da diese Steine stehen, und ein paar Meter entfernt davon steht der Bundestag, in dem entschieden wird, welche Menschen abgeschoben werden. Man ist Sklave dieser Erinnerungskultur. Sie ist nicht emanzipatorisch, sondern bindet einen an die Vergangenheit, ohne daß es Konsequenzen für die Gegenwart hätte. Ich kann keinen Selbstzweck in der Erinnerung erkennen. Wir haben auch unsere Familiengeschichte, und ich habe in der Schule meines Sohns gesagt, daß wir persönlich keinen "Zug der Erinnerung" und keine derartigen Veranstaltungen brauchen. Ich kenne viele, die sich das Vergessen gewünscht hätten. Das brauchen die Nichtjuden und es ist völlig okay, wenn sie es für sich machen. Das Problem ist, daß es manche gibt, die glauben, sie müßten die Juden dadurch zufrieden stellen, und dann verärgert sind, wenn es ihnen nicht gelingt.

Meiner Ansicht nach ist diese Erinnerungskultur ein Selbstzweck geworden. Wir sind so gut, wir sprechen darüber, wir erinnern, wir haben diese Steine und jene Steine, parallel dazu aber machen wir weiter. Wenn Juden in Israel wie im Falle Gazas Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen, wenn Deutsche oder Israelis oder wer auch immer in der Welt afrikanische Blutdiamanten kaufen und Waffen an diese Diktaturen verkaufen und gleichzeitig "nie wieder, nie wieder" rufen, dann finde ich das unglaubwürdig.

SB: Wird das Holocaustgedenken von der deutschen Politik nicht auch in einem legitimatorischen Sinne verwendet? So hat der frühere Außenminister Fischer die deutsche Beteiligung am Angriff der NATO auf Jugoslawien damit begründet, daß es darum gehe, ein zweites Auschwitz zu verhindern. Haben Sie den Eindruck, daß so etwas noch stattfindet?

IH: Wenn es um deutsche Interessen geht, dann scheint es schon benutzt zu werden. Ich glaube, daß die Bundesrepublik Interesse daran hat, an Israel U-Boote zu verkaufen. Die Arbeitslosigkeit muß verringert werden und die Waffenindustrie muß Aufträge erhalten. Natürlich geschieht dies mit der Behauptung, daß man verpflichtet sei, die Sicherheit Israels zu schützen. Ich glaube nicht, daß die Bundesrepublik dazu verpflichtet ist. Sie ist verpflichtet, die Sicherheit ihrer jüdischen und muslimischen Minderheiten hierzulande zu garantieren. Ich glaube, wenn die Deutschen andere ökonomische Interessen hätten, dann würden sie Israel von heute auf morgen verkaufen (lacht). Es ist in diesem Zusammenhang eine bloße Sprachfloskel, wenn es heißt, daß man eine Lehre aus dem Holocaust gezogen hätte.

SB: Sie könnten sich also vorstellen, daß ein Israel, das nicht mit dieser Koalition der Stärke namens NATO verbündet wäre, nicht so sehr unterstützt würde, wie es der Fall ist, daß das deutsche Verhältnis zu Israel ganz anders aussehen könnte?

IH: Ich glaube schon, aber es war auch schon anders. So hat Israel mit der Bundesrepublik unter Kanzler Konrad Adenauer 1952 ein Abkommen zur Wiedergutmachung abgeschlossen, obwohl ein Autor und Kommentator der NS-Rassegesetze, Hans Maria Globke, zu dieser Zeit zu den engsten und einflußreichsten Mitarbeitern des deutschen Regierungschefs zählte. Es war immer so. Wenn sie es gleichzeitig machen können, dann können sie alles machen. Die Nazis sind auf ihren Posten in den Gerichten, Schulen, Universitäten und so weiter geblieben, alles lief weiter, und parallel wurde Israel mit israelischer Unterstützung von der deutschen Seite dafür benutzt, daß Deutschland sich als Demokratie bezeichnen konnte. In Israel hieß es "das andere Deutschland". Es war keine Diktatur mehr und es gab keine Deutschen mehr. Es gab Nazis oder Demokraten, Diktatur oder Demokratie.

Iris Hefets - © 2010 by Schattenblick

Iris Hefets
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SB: Auf dem ersten Deutschen Israelkongress Ende Oktober hat die scheidende Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, erklärt, Israels Feinde rüsteten nicht nur mit Waffen auf, sondern beeinflußten das Bild der Menschen über Israel durch geschickte Öffentlichkeitsarbeit: Es sei "an der Zeit, in den Köpfen der Menschen Ursache und Wirkung im Nahen Osten wieder zurechtzurücken". Wie ist es Ihrer Ansicht nach um die Darstellung des Nahost-Konflikts in Deutschlands führenden Medien bestellt?

IH: Ich kann nur von meinen Erfahrungen berichten. Wir dringen in der Presse nicht so richtig durch. Wir mußten während des Angriffs auf Gaza Geld auftreiben, um eine Anzeige in der Zeitung zu schalten, weil die Artikel und Kommentare, die wir geschrieben haben, nicht veröffentlicht wurden. Der Zentralrat der Juden hingegen plaziert mit seinem Geld Anzeigen in der Zeitung. Es handelt sich um Steuergeld, das er vom Staat bekommt und das dafür nicht vorgesehen ist. Er wird in Deutschland als Religionsgemeinschaft und nicht als der lange Arm der israelischen Botschaft unterstützt.

Als der Libanonkrieg 2006 begann, befand ich mich am Genfer See im Urlaub. Dort habe ich die Herald Tribune, die Süddeutsche Zeitung und die Neue Zürcher Zeitung gelesen. Dabei habe ich festgestellt, daß es nicht an der deutschen Sprache liegt, daß über Israel nicht so kritisch berichtet wird. Wenn in der Süddeutschen Zeitung Palästinenser als Opfer dargestellt werden, dann muß es mit Kassamraketen auf Juden in Sderot anfangen. Ersteinmal ein Jude als Opfer, dann kommt der Palästinenser als Opfer und es endet wieder mit einem Juden als Opfer. Der Palästinenser wird als Opfer immer von vielen jüdischen Opfern eingerahmt. Für die Deutschen werden Juden zudem sehr einheitlich, fast stereotypisch dargestellt. Zudem wird auf andere Weise Einfluß geltende gemacht. Ich erhalte als Israeli zum Beispiel Einladungen: Willst Du als Student in Deutschland arbeiten? Wir bieten einen Kurs, eine Woche 4-Sterne-Hotel in München für 100 Euro. Da lernst du Psycholinguistik, Öffentlichkeitsarbeit, Fakten über Zionismus und so weiter. Sie bezahlen Studenten, die Talkbacks schreiben, die versuchen, Mails und Briefe zu schreiben, um Druck zu machen, so daß etwa Veranstaltungen abgesagt werden. Also es geht hauptsächlich um die Selbstzensur der Deutschen, die aber auch mit Israel vernetzt ist.

SB: Es gibt also Ihrer Ansicht nach eine durch Institutionen geförderte Meinungsmache?

IH: Und wie! Nehmen wir zum Beispiel den Axel Springer Verlag. Jeder Journalist, der dort arbeiten will, muß, auch wenn er über Skislalom schreibt, mit den Unternehmensrichtlinien unterzeichnen, daß er Israels Existenzrecht anerkennt. Freie Presse kann man das nicht nennen.

SB: In der Bundesrepublik greift eine islamfeindliche Stimmung um sich, deren sozialrassistischer Tenor unüberhörbar ist. Ist es möglich, daß die Araberfeindlichkeit in Israel auch sozial aufgeladen ist?

IH: Nicht in ihrer Wurzel, allenfalls in ihren Konsequenzen. Es ist klar, daß es einen Konflikt um Land zwischen jüdischen Israelis und Palästinensern gibt. Man sagt manchmal Araber, um auszublenden, daß es Palästinenser gibt. Ich sage deswegen explizit Palästinenser. Sie sind sozial benachteiligt, weil sie Palästinenser sind. Es gibt offizielle Berichte darüber, wie der Staat ihre Unterdrückung organisiert. Ich war Soldatin im Offiziersrang in einer Eliteeinheit der israelischen Armee, und meine Aufgabe bestand darin, Zionismus zu unterrichten. Ich habe damals begeistert mit den Soldaten darüber gesprochen, wie Galiläa judaisiert sein soll und was alles dafür gemacht werden muß, so daß wir dort immer eine jüdische Mehrheit behalten. Es war allen klar, daß es darum ging, mehr Macht zu haben, also um ethnische Kämpfe.

In Deutschland ist die politische Kultur anders, in Israel darf man alles sagen. Ein Sarrazin hätte in Israel eine Beförderung bekommen. Hier gibt es immerhin Normen, man fordert seinen Rücktritt, die Bundesbank richtet sich gegen ihn, seine Partei ist zerrissen, es gibt eine Debatte. Wenn ich mich in Israel in einer Angelegenheit an ein Büro wandte, obwohl die entsprechende Frist schon abgelaufen war, dann konnte es passieren, daß ich zu hören bekam: das ist okay, ich schiebe euch vor die Araber. Einfach so! Diese Sprache unter uns Juden ist ganz eindeutig. Es gibt keine Geheimnisse, man versucht nicht, es schön zu verpacken. Es ist gang und gäbe, es gehört zu den Normen. Hier gehört es noch nicht zu den Normen.

SB: Hat ihre Wandlung von einer loyalen Zionistin zur Kritikerin der israelischen Regierungspolitik schon während Ihrer Zeit bei den israelischen Streitkräften begonnen?

IH: Es geht nicht um eine Wandlung, sondern um einen langwierigen Prozeß. Ich ging zur israelischen Armee mit Begeisterung, da wir so sozialisiert wurden und glaubten, daß man sich dann dort richtig entwickeln kann und den Traumprinz findet. In Israel habe ich schon als Mädchen zu hören bekommen, daß die europäischen Männer Weicheier sind, da sie es nicht nötig haben, zur Armee zu gehen, weshalb sie eine wichtige Entwicklungsstufe verpassen und so das Zusammenschweißen mit anderen Gleichaltrigen nicht erleben können und das Wachstum, das unter extremen Situationen wie z.B. Krieg stattfindet, nicht fördern können. Ich habe daran geglaubt, da es so von meinen Eltern und Lehrern vermitteln wurde und ich bis zum 18. Lebensjahr nicht ins Ausland gereist bin. Es war nicht so, daß man ins Auto einsteigen konnte und in ein Land fahren konnte, wo man unentwickelten armeedienst-defizitären jungen Männern begegnete. Dafür mußte man erst viel Geld sparen, um dort hinfliegen zu können. Es geht um einen kontinuierlichen Prozeß.

Wenn Sie aber ein Wendepunkt suchen, was ich oft gefragt wurde, vielleicht weil die Anderen ein Zaubermittel suchen, um die Juden in Nahost zu erlösen..., dann war es meine Schwangerschaft: da war mein Körper klüger als jede Lehrerin. Als junge Mutter erlebte ich auch, wie die Politiker uns belogen haben, als Saddam Hussein Israel mit Scud-Raketen beschoß und sie nur Panik und Holocaust-Stimmung verbreiteten. Es war komisch: einerseits wurden die Diaspora-Juden als passive Opfer gesehen, die nur unsere Verachtung, die der angeblich "neuen Juden", verdienten, andererseits waren wir in mit Plastiktüten abgedichteten Räumen eingesperrt, um auf eine Rakete mit Massenvernichtungsstoff zu warten. Ist ja verrückt ... uns war es, wenn Sie so wollen, auch eine Parabel für das Leben in Israel. So eingesperrt will ich nicht sein, und jetzt wird dieses Ghetto vervollständigt, da Israel einen Zaun an der Grenze nach Ägypten baut.

SB: In jüngerer Zeit gab es Fälle, bei denen sich israelische Soldatinnen damit herausgetan haben, sich mit palästinensischen Gefangenen auf für diese erniedrigende Weise darzustellen. Würden Sie sagen, daß es eine allgemeine Erscheinung ist, oder stehen Frauen vielleicht unter besonderem Druck, sich auf diese Weise zu profilieren?

IH: Uns wurde dieser Wehrdienst als feministisch verkauft. Das ist ein Feminismus israelischer Art. Frauen sind wie Männer, und wenn die Männer militant sind, dann sind die Frauen auch militant. Im Endeffekt waren die Frauen während der Armeezeit aber mehr mit Kaffeekochen beschäftigt. Im Laufe der Zeit erhalten sie mehr Aufgaben, die ansonsten Männern vorbehalten sind, d.h. sie passen auf Palästinenser auf oder fangen Asylbewerber, die versuchen, durch den Sinai nach Israel zu kommen. Die Motivation, zur Armee zu gehen, läßt in Israel tendenziell nach. Heute gehen vor allem zwei Gruppen zu den Streitkräften. Die erste Gruppe tut dies aus ideologischen Gründen. Das sind Kibbuzniks und Siedler, und zur Zeit gibt es sehr viele Siedler auch an der Spitze der Armee. Die andere Gruppe tritt dem Militär aus sozialen Gründen bei. Wie in den USA kann man so seinen sozialen Einstieg schaffen. Unter ihnen befinden sich viele Äthiopier und viele Juden aus arabischen Ländern. Weil sie arabisch sprechen können, werden sie auch benutzt, um sich als Palästinenser zu tarnen. Plötzlich ist arabisch gewollt.

Im Rahmen dieser Entwicklung entsprechen auch Frauen den in sie gestellten Rollenerwartungen und werden dementsprechend glorifiziert. Ja, sie machen das wie Männer. Sie stehen als Minderheit in diesen Kampfeinheiten natürlich unter dem Druck zu zeigen, daß sie genauso gut sind wie Männer: "Yes we can"! Diese Soldatin, die mit dem alten gefesselten Palästinenser gezeigt wurde, das hat schon etwas Besonderes. Einerseits, weil es so banal war. Sie hat überhaupt nicht gewußt, das es eigentlich nicht okay ist, so etwas zu zeigen, weil es in Israel normal ist, alle machen das! Und sie hat es in Facebook gestellt, weil alle sich zeigen, okay!

Ich fand es besonders schlimm, weil dieser alte Mann wie die Vorfahren der Soldatin, die den marokkanischen Name Abergil trägt, aus einem arabischen Land stammt. Sie läßt sich mit einem Mann, der ihr Opa sein könnte, fotografieren. Seine Augen sind verbunden, das heißt sie sieht ihren Opa nicht. Sie sieht nicht, woher sie kommt, und schikaniert ihn. Das Bild mit dem jungen palästinensischer Gefangenen hat auch einen pornographische Aspekt, sie macht ihn an! Er hat verbundene Augen, seine Hände sind auf dem Rücken gefesselt, und sie wirkt wie eine Domina. Das spiegelt diese Sadomasoverhältnisse und diese pornographische Inhalte wieder, die wir in gewisser Weise auch in der Holocaust-Gedenkkultur antreffen, wie in den Stalag-Heften z.B. (pornographische Geschichten aus Stammlagern der Nazis). Als ich zum Beispiel in meinem Artikel geschrieben habe, daß zur postpubertären Biografie jedes israelischen Jungen Sex, Suff und eine Reise nach Auschwitz gehören, da habe ich das noch abgemildert. Die Jugendlichen, die nach Auschwitz gefahren werden, sehen fünf Konzentrationslager in sechs Tagen und am Ende landen sie in Theresienstadt. Danach besaufen sie sich in Prag, gehen zu Pornoshows und Peepshows und wie auch immer, also diese Kombination besteht. Das gehört zum Programm, obwohl es untersagt wird, doch die Lehrer sehen es nicht, und ab und zu kommt etwas in der Presse. Ich habe solche Bilder in Photoalben junger Israelis gesehen.

Ich glaube schon, daß dies im Rahmen der Militarisierung der Gesellschaft auch gesellschaftliche Wirkungen hat. In Israel gibt es keine Zivilgesellschaft. Jedes Kind - und fast alle haben Kinder - hat einen Vater, der, bis er fünfzig ist, zur Armee geht. Einen Monat im Jahr rückt er aus und schikaniert Palästinenser, kehrt heim und küßt seinen Sohn, als ob nichts gewesen wäre. Wenn die Mutter vorher nicht beim Militär gewesen wäre, dann hätte er, rein entwicklungspsychologisch gesprochen, auch einen Zugang zu einer Mutter gehabt, die von dieser Erfahrung nicht geprägt worden wäre. Das gibt es heute weniger und weniger, und das erzeugt eine Art Identitätsverwirrung. Die Männer sind Männer, die Frauen sind auch Männer. Dieser Wandel der Frauenrolle stellt in einem Israel, das hinsichtlich der Familie und des Nachwuchses sehr traditionsgebunden ist, schon ein Problem dar. Zudem werden die Frauen, und das ist das Hauptproblem der Frauen in den Streitkräften, von den männlichen Soldaten dort häufig sexuell mißbraucht. Das wissen auch die religiösen Juden, weshalb sie ihre Töchter nicht zur Armee schicken.

Iris Hefets, SB-Redakteur - © 2010 by Schattenblick

Iris Hefets, SB-Redakteur
© 2010 by Schattenblick

SB: Wie beurteilen Sie die gesamtgesellschaftliche Entwicklung von einer Zeit, in der Israel vornehmlich sozialistisch orientiert war - die Kibbuzbewegung, die starke Arbeitspartei, die egalitären Ideale - bis heute, da es mit seiner hochproduktiven Hightech-Industrie sehr kapitalistisch ausgerichtet ist? Wie hat sich das gesellschaftliche Klima verändert?

IH: Erstens muß ich das Bild eines sozialistischen Israels relativieren. Das stimmt schon, im Vergleich zu heute war es ein Paradies. Aber die Kibbuzimbewegung umfaßte immer nur drei Prozent der Bevölkerung. In Deutschland scheint das Bild vorzuherrschen, daß alle im Kibbuz waren. Und diese Kibbuzin waren nicht einmal untereinander sozialistisch, zudem haben sie etwa Leute aus Sderot als billige Arbeitskräfte benutzt. Jetzt erhalten die Menschen in Sderot als Opfer der Kassamraketen viel Beachtung, aber um ihr alltägliches Leben kümmert sich niemand. Jetzt werden sie benutzt, weil sich politisches Kapital aus ihnen schlagen läßt. Aber im Vergleich zu heute war Israel in der Tat ein Paradies.

Mit der Dominanz der "Sicherheitsprobleme" hat sich das verändert. Benjamin Netanjahu hat das Land hauptsächlich in seiner ersten Amtszeit privatisiert. Er hat ein Fulbright-Stipendiat absolviert, also unter besten Bedingungen in den USA studiert, durfte dort jedoch nicht bleiben. Das wird gemacht, um die Leute nach amerikanischen Werten zu disziplinieren und sie in alle Welt zu schicken, so daß sich überall Gewährsleute der USA befinden. Das heißt, Netanjahu unterhält viele Kontakte mit Republikanern, die in Israel investieren, und es gibt viele Personen, die davon profitieren, daß alles privatisiert ist. Als wir Israel verlassen haben, habe ich etwa 250 Euro Kindergeld bekommen. Heute bekäme ich nur noch 100 Euro, und der Betrag wächst mit weiteren Kindern nicht an, um zu verhindern, daß sich Araber und orthodoxe Juden nur für Geld vermehren. Sie machen Kinder nur für Geld, lautet die dahinterstehende Unterstellung.

Es gibt also kaum noch Gewerkschaften, alles wurde privatisiert, was für mich bedeutete, daß ich als Pharmareferentin einen Privatvertrag hatte, über den ich mit niemandem sprechen durfte. Keiner durfte wissen, wieviel ich verdiene, wir durften uns nicht organisieren. Die Gesellschaft wird atomisiert.

SB: Glauben Sie, daß die sozialen Widersprüche in Israel auch dadurch ausgeglichen werden, daß die jüdischen Israelis sich gegen Araber oder gegen Palästinenser definieren?

IH: Ja. Es gibt eine weiße Ashkenasi-Minderheit in Israel. Die Mehrheit der Bewohner Israels sind Araber: Juden, Christen und Muslime. Deshalb waren die neue Immigranten aus der ehemaligen Sowjet-Union gewollt, auch wenn mehr als ein Drittel von ihnen keine Juden sind. Sie sind aber Nicht-Araber und das ist der ausschlaggebende Punkt. Wenn sie sich verbündeten, dann hätten die Ashkenasi keine Chance. Das heißt, die arabischen Juden müssen von den arabischen Palästinensern getrennt gehalten werden. Deshalb hat Ben Gurion entschieden, daß der Staat alle Macht auf sich vereint, aber das Heiraten an die Rabbiner delegiert. So daß Juden nur unter ihresgleichen, Muslime nur unter ihresgleichen und Christen nur unter ihresgleichen heiraten können. Ich habe damals einen deutschen Christen geheiratet, und wir durften nicht in Israel heiraten.

SB: Sind interreligiöse Ehen verboten?

IH: Sie sind nicht verboten, sie sind unmöglich. Es gibt keinen standesamtlichen Ehevertrag.

SB: Man würde niemanden finden, der einen verheiratet.

IH: Nur die religiösen Institutionen haben die Macht, eine Ehe zu schließen, so daß sie vom Staat anerkannt wird, und ein Rabbi kann nicht einen Juden bzw. eine Jüdin mit einer Nichtjüdin bzw. einem Nichtjuden trauen... So werden die nationalen Aspekte des Konflikts als religiöse institutionalisiert, obwohl es kaum einen religiösen Konflikt zwischen Judentum und Islam gab. Im Gegenteil, Juden lebten unter Muslimen, aßen bei ihnen und umgekehrt, weil sie sich religiös nahe stehen. In Israel wurden sie aber stets getrennt. Dazu findet eine geplante und gut dokumentierte Diskriminierung von Juden, die nicht Aschkenasi sind, durch das aschkenasische Establishment in Israel statt, also von Juden aus dem Maghreb, dem Irak, Jemen, Indien, Äthiopien usw. Da sie in einem kolonialen System zwischen den Palästinensern und den aschkenasischen Juden positioniert wurden, mußten sie gegenüber den Herren ihre Loyalität beweisen. Dafür mußten sie ihre arabische Herkunft verleugnen, was heute dadurch geschieht, daß sie die Palästinenser hassen. Auf den Bildern nach Anschlägen sieht man sie als erstes "Tod den Arabern" schreien.

SB: Sie moderieren heute abend die Präsentation des Buches "'Antisemit!' - Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument" von Moshe Zuckermann. Wie beurteilen Sie die Aussichten eine emanzipatorischen, nicht für antagonistische Zwecke vereinnahmbaren Umgangs mit dem Problem des Rassismus und Antisemitismus?

IH: Ersteinmal bin ich eine optimistische Person, sonst wäre ich nicht hier. Momentan, und das war auch der Zweck meines Artikels, müssen wir dafür kämpfen, daß überhaupt darüber geredet wird. Es gibt zur Zeit keine Diskussion, es ist ein Tabu, an dem man nicht rühren soll. Ich glaube jedoch, daß es unterschwellig schon brodelt. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß deutsche Nichtjuden, wenn sie hören, daß ich eine kritische Position zu Israel vertrete, mir gegenüber sagen, daß es ja unmöglich sei, was die Israelis machen. Sie geben zu verstehen, daß sie es nicht sagen dürfen, es aber in der Tat unmöglich finden. Ich spreche von meinen Arbeitskollegen im Krankenhaus, also gehobene Mittelschicht. Sie sagen, nur ihr könnt offen Kritik an Israel üben. Das wissen auch die Leute in der israelischen Botschaft und die Machthaber in Deutschland, deswegen gehen sie gegen uns mit besonderer Härte vor. Ich glaube aber auch, daß es sich um ein Rückzugsgefecht handelt. Das liegt nicht daran, daß wir unseren Mund aufgemacht haben, sondern daran, daß Israel es zu extrem getrieben hat und es so nicht weiter geht. Die Leute wissen das, es ist aber verboten darüber zu reden. Das finde ich gefährlich, und deshalb versuche ich schon, einen Raum zu schaffen, in dem man darüber sprechen könnte.

In Deutschland lebt die größte palästinensische Gemeinde Europas. Die spürt man überhaupt nicht! Als ich das gehört habe, war ich sehr überrascht. So sind die Palästinenser in London sehr aktiv, obwohl sie eine viel kleinere Community sind. Ein Freund, der auch an dieser Aktion in der Synagoge beteiligt war und jetzt ein Auslandssemester in London macht, hat mir geschrieben, daß die Engländer sich über Juden überhaupt nicht aufregen. Am Anfang fand er das verletzend, aber jetzt hat er sich daran gewöhnt (lacht). Also ein Jude oder ein Israeli hat hierzulande schon die Möglichkeit, sich kritisch zu äußern, aber die Deutschen selber halten lieber ihren Mund und versuchen in den letzten Jahren, auch anderen Juden und Israelis den Mund zu verbieten. Ich glaube schon, daß es hier viele Leute gibt, die wissen, daß das eigentlich nicht in Ordnung ist und die sich so fühlen, als hätte man ihnen einen Maulkorb verpaßt. Das macht sie wütend, und ich habe Angst, daß das ins Gegenteil umschlagen könnte. Wie bei den Antideutschen, die hauptsächlich aus einer marxistisch-leninistischen Ecke kommen und ins andere Extrem umgeschlagen sind, indem sie jetzt proisraelisch und neoliberal argumentieren.

Ich wurde von Antisemitenjägern regelrecht denunziert. In Bremen war ich in einer Veranstaltung, in der Antideutsche alles mitschrieben. Dann haben sie mich gefragt, ob ich es gutheiße, daß jüdische Sportler nicht aus ihrer Umkleidekabine herauskommen können. Ich habe geantwortet, daß ich das nicht gutheiße und daß es nicht um jüdische, sondern israelische Sportler geht. Es geht um Institutionen, es gibt in dieser Mannschaft auch Nichtjuden wie Palästinenser oder Christen aus der ehemaligen Sowjetunion, wie auch immer, es geht eben nicht um diese Ethnie. Dann haben sie der jüdischen Gemeinde ein Fax geschickt und behauptet, ich hätte das bejaht, obwohl ich es verneint habe. Das Landgericht hat mir Recht gegeben, da Lala Süsskind, die Vorsitzende der Jüdische Gemeinde zu Berlin, die mit solchen Denunzianten und Freizeitspionen mit unseren Steuergeldern arbeitet, mir dieses angebliche Zitat zugeschrieben hat.

SB: Meinen Sie eine bestimmte Organisation, wenn Sie von "wir" sprechen?

IH: Es gibt zwei Gruppen, die hier eine Rolle spielen. Die erste ist die "Jüdische Stimme für gerechten Frieden im Nahen Osten", es gibt aber auch eine neue israelische Gruppe. Jetzt kommen mehr und mehr Israelis nach Berlin. Viele junge Israelis verlassen Israel, viele ziehen nach Berlin, das jetzt sehr angesagt ist, und die Masse zieht die Masse an. Anfangs kamen nur Schwule, weil Berlin so schwulenfreundlich ist. Mittlerweile ziehen Israelis, die die Lage in ihrem Land nicht ertragen können, auch aus politischen Gründen nach Berlin. Sie lernen Deutsch, engagieren sich auch politisch. Die Veranstaltung in der Synagoge [2] wurde von jungen Israelis bestritten, die jetzt hier leben. Im Vergleich zu den älteren deutschen Juden sind sie nicht unter dieser Unterdrückung aufgewachsen. Da entsteht langsam etwas Neues im Diskurs und dazu eine neue Exilkultur, wie ich hoffe.

SB: Frau Hefets, vielen Dank für dieses lange Gespräch.

Fußnoten:

[1] http://www.taz.de/1/debatte/kommentar/artikel/1/pilgerfahrt-nach-auschwitz/

[2] http://www.dw-world.de/dw/article/0,,5518195,00.html

20. Dezember 2010