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INTERVIEW/053: Antirep2010 - Thomas Wagner, Kultursoziologe und Autor (SB)


Interview mit Thomas Wagner am 9. Oktober 2010 in Hamburg


Thomas Wagner schreibt als Autor für diverse linke Publikationen und hat sich unter anderem mit dem Vordringen neuer rechter Ideologien auseinandergesetzt. Zuletzt hat er zusammen mit Jan Rehmann das Buch "Angriff der Leistungsträger? - Das Buch zur Sloterdijk-Debatte" herausgegeben. Am Rande des Internationalen Antirepressionskongresses 2010 an der Universität Hamburg beantwortete Thomas Wagner dem Schattenblick einige Fragen.

Thomas Wagner - © 2010 by Schattenblick

Thomas Wagner
© 2010 by Schattenblick
Schattenblick: Peter Sloterdijk hat sich seinen Artikeln "Die Revolution der gebenden Hand" (FAZ, 13. Juni 2009) und "Aufbruch der Leistungsträger" (Cicero, 12, 2009) zu einem Sprachrohr der Eliten aufgeschwungen. Kann man ihn eigentlich, wie Thilo Sarrazin, als Populisten bezeichnen?

Thomas Wagner: Sloterdijk ist nicht unbedingt ein Populist, sondern ein Autor, der gut schreiben kann und sich in erster Linie an ein intellektuelles Publikum richtet . Er ist dennoch in mehreren Punkten symptomatisch für eine Tendenz zur Formierung eines neuen Typs von Rechtsintellektuellen. Zum einen versucht man auf eine neue Art und Weise wieder, die These von der Universalität von Herrschaft - in einer Gesellschaft muß es oben und unten geben - mit neu designten Argumenten zu unterfüttern. Das ist eine These, die empirisch falsch ist, die man wiederlegen kann. Sloterdijk unterstellt hingegen eine Vertikalspannung von unten und oben, die es notwendig macht, sich durch Übung, durch Selbststeigerung nach oben hin zu orientieren und zu entwickeln. Eine seiner Kernthesen lautet: Du mußt dein Leben ändern. Man könnte es als ästhetisches Selbstzüchtungsprogramm bezeichnen.

SB: Kann man das in Verbindung bringen mit der generellen Offensive der Arbeitsgesellschaft unter dem Gebot der Selbstoptimierung?

TW: Ja, das würde ich sagen. Es paßt sehr gut zu dem neoliberalen Diktat, daß die Gesellschaft nur noch aus Individuen besteht, aus Subjekten, die sich freiwillig dem Diktat des Marktes unterwerfen und nach Selbstoptimierung streben. Auf der anderen Seite knüpft es an die Züchtungs- und Selbststeigerungsphantasien an, die wir aus den 20er und 30er Jahren und auch schon aus früheren Zeiten kennen. Dabei ging es darum, den Menschen an Geist und Seele zu steigern, um einen besseren, einen Übermenschen oder etwas ähnliches entstehen zu lassen. Das war ein wichtiger ideologischer Beitrag zu dem, was den Faschismus ausgemacht hat.

SB.: Hat Sloterdijk nicht schon vor über zehn Jahren mit der Einführung des Begriffs "Anthropotechniken" in seiner Rede "Regeln für den Menschenpark" in diese Richtung gearbeitet?

TW: Es gibt eine Kontinuität im Sloterdijkschen Denken, eine langsame, allmähliche Entwicklung hin zu einem Denken, das sich in den frühen 80er Jahren noch auf die Kritische Theorie stützte, um bei rechtsliberalen bis radikalliberalen und rechten Positionen, die er heute einnimmt, anzugelangen. Ideentrainer, wie er das nennt, hat er in den frühen Jahren mehr aus dem Bereich der kritischen Intelligenz, der kritischen Theorie rekrutiert. Heute sind es eher Vordenker des Faschismus, die er heranzieht. Arnold Gehlen wäre da zu nennen, Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger.

SB.: Thilo Sarrazin hat schon im Lettre-Interview im Oktober 2009 den Begriff der "Unproduktiven" verwendet, die aus Berlin zu verschwinden hätten. Das Postulat einer zum größeren Teil vererblichen Intelligenz wendete er pauschal auf Kollektive wie Türken oder Araber an, indem er behauptete, sie seien aufgrund ihrer Form von biologischer Reproduktion weniger intelligent. Inwiefern kann man da eine direkte Verbindung zur Eugenik der NS-Zeit herstellen?

TW: Die Debatte lief ja lange Zeit vor allen Dingen in die Richtung, daß man Sarrazin in erster Linie wegen dieser Affinität zur Eugenik kritisiert hat. Ich finde es jedoch wichtig, darauf aufmerksam zu machen, daß das, so glaube ich, nicht der Kernpunkt seiner Argumentation ist. Im Kern seiner Argumentation geht es um Sozialrassismus. Es geht nicht primär um die ethnische Zugehörigkeit, sondern primär darum, daß er die Zugehörigkeit zu einer Unterschicht oder das gesellschaftliche Urteil, in diese Gruppe sozusagen hineingeboren zu sein oder sich dort nicht herausentwickeln zu können, in Verbindung bringt mit dem Erbfaktor. Da spielt es ersteinmal keine so große Rolle, ob es sich um türkische oder jemenitische oder skandinavische Einwanderer handelt.

Das entscheidende Moment besteht meiner Ansicht nach darin, daß er sagt, daß die Klassengesellschaft, die Einteilung in obere und untere Klassen, im Grunde genommen eine Naturtatsache sei. Es wäre nichts, das man prinzipiell in irgendeiner Form ändern könnte. Auch die Sozialdemokratie hat sich längst von dem Gedanken verabschiedet, daß man an dieser Klassenstruktur etwas ändern könnte, beziehungsweise etwas ändern sollte. Ihr Angebot lautet Bildung im Sinne einer Chancengerechtigkeit. Die Sozialdemokratie vertritt, daß man die Klassengesellschaft im Grunde genommen gar nicht abschaffen kann und wir das im Grunde genommen auch gar nicht wollen. Aber es soll für einzelne Individuen möglich sein, den sozialen Aufstieg zu schaffen, und das will sie über Bildungsgerechtigkeit herstellen. Damit hat sie eine Plattform errichtet, auf der eine Radikalisierung der Vorstellung, daß gesellschaftliche Veränderung nicht möglich ist, in Gestalt solcher naturalistischen Festschreibungen, wie sie Sarrazin vornimmt, überhaupt möglich wird. Meiner Ansicht nach hat die Sozialdemokratie in Form der SPD großen Anteil daran, daß jemand wie Sarrazin überhaupt möglich ist. Und zwar nicht nur, weil sie ihm eine Karrierechance eröffnet hat, sondern in erster Linie aus ideologischen Gründen.

SB: Sarrazin hebt auf ein bürgerliches Aufbegehren gegen vermeintliche Redeverbote, gegen staatliche Indoktrination oder ideologische Indoktrination ab. Wie kann ein basisdemokratisches Verständnis, das Aufbegehren einer Bürgerbewegung von unten eigentlich in ein so rechtslastiges Feld geraten?

TW: Gegen die Bürgerbewegung an sich ist nichts zu sagen. Für mehr Demokratie, für mehr Teilhabe aller Staatsbürger einzutreten ist im Grunde genommen ein begrüßenswertes Moment. Es gibt allerdings eine Tendenz, die ich beobachte, daß sowohl dem herrschenden kapitalistischen System verschriebene Kräfte und Ideologen als auch Vordenker aus der extremen Rechten, also klassisch neofaschistisch NPD oder auch der Hardcore-Konservatismus, der sich im Umfeld der Jungen Freiheit tummelt, das Thema direkte Demokratie, Bürgerbewegung und Aufstand gegen die da oben, gegen das Establishment, gegen das Parteiensystem, gegen die Parteien überhaupt und die repräsentative Demokratie, die noch nicht demokratisch genug sei, benutzen wollen, um die repräsentative Demokratie zugunsten eines Systems auszuhebeln, das sich direktdemokratisch, plebiszitär legitimiert, aber im Grunde genommen auf das hinauslauft, was man als direkte Herrschaft des Kapitals mit plebiszitärer Unterstützung der Massen - so ähnlich hat es Georg Fülberth gestern ausgedrückt - bezeichnen könnte. Diese Tendenzen sehe ich.

Thomas Wagner - © 2010 by Schattenblick

Plädoyer für qualitative Demokratie ...
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Für die Linke bedeutet das, nicht nur nach mehr direkter Demokratie zu rufen oder gar nach einer Direktwahl des Staatsoberhauptes oder der Ministerpräsidenten, sondern die Momente des Demokratiegedankens zu betonen, um die es eigentlich gehen soll. Nämlich die Teilhabe möglichst vieler Menschen an der Gestaltung, an der Planung des Gemeinwesens. Das ist eine linke Definition von Demokratie. Eine rechte Vorstellung von Demokratie wäre, durch eine Wahl oder eine Abstimmung eine Regierung einzusetzen, die dann alles weitere regelt.

SB: Als müßte eine basisdemokratische Forderung immer in dem Kontext der jeweiligen Vergesellschaftungsweise gestellt werden?

TW: Genau. Man müßte begreifen, daß eine wirkliche Demokratie erst dann möglich ist, wenn die Bedingung einer Gesellschaft von gleichen gegeben ist. Also Freiheit - auch individuelle Freiheit - und Demokratie haben zur Voraussetzung, daß gleiche Bedingungen für alle vorhanden sind. Das wiederum setzt voraus, daß man eine Gesellschaft zumindest anstreben muß, in der Klassenunterschiede aufhören zu existieren.

SB: Wenn man die Entwicklung des Liberalismus heute betrachtet, scheint er sich als ein Vehikel zugunsten einer immer stärkeren Rechtstendenz in der Gesellschaft zu erweisen. Wäre seitens der Linken nicht eine noch zugespitztere Liberalismuskritik auch unter Hinsicht auf seine historischen Voraussetzungen erforderlich, um das Ganze überhaupt zu verstehen?

TW: Umgekehrt, würde ich sagen. Klüger wäre es aufzuzeigen, wie die Bedingungen beschaffen sind, anhand derer sich die Ideen, die der Liberalismus vor sich her trägt, realisieren lassen. Es gab einmal eine FDP in der Bundesrepublik, die hatte schon weite Schritte in dieser Richtung unternommen. In der sozialliberalen Zeit der FDP gab es zumindest bei den jungen Liberalen die Vorstellung, daß man eine weitgehende soziale und ökonomische Gleichheit - da ging es vor allem um die Zerstörung von Monopolen und ähnliches - benötigt, um so etwas wie individuelle Freiheit zu ermöglichen. Da waren sie schon auf dem richtigen Weg. Man sollte auf gar keinen Fall Begriffe wie Demokratie oder Freiheit diskreditieren, indem man sagt, daß es einfach nur ideologische Verschleierungen wären. Man sollte sie statt dessen aufgreifen, ernstnehmen, untersuchen, warum sie nicht realisiert werden und aufzeigen, wie die Bedingungen beschaffen sind, unter denen sie realisiert werden können.

Thomas Wagner mit SB-Redakteur - © 2010 by Schattenblick

Thomas Wagner mit SB-Redakteur
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SB: Sloterdijk hat das Kostenargument auf alte Menschen angewendet. Auf der einen Seite wird die Verfaßtheit des Menschen zunehmend erbbiologisch bewertet, während am anderen Ende aus liberaler Ecke heraus die aktive Sterbehilfe befürwortet wird. Wie schätzt du die Gefahr einer Verselbständigung dieser Art von Freiheit zum Tod oder zum sogenannten selbstbestimmten Sterben, die schlußendlich zu einer "Entsorgung" alter Menschen führen könnte, ein?

TW: Diese Gefahr halte ich durchaus für gegeben. Die Tendenz, alle Entwicklungen innerhalb des Gesundheitswesens unter rein ökonomischen Gesichtspunkten zu sehen, herrscht schon lange vor. Die Vorenthaltung von lebenserhaltenden oder lebenserleichternden Hilfsmitteln aus Kostengründen schreitet unabweislich voran. Ich glaube, daß einige andere Staaten wie Großbritannien uns da noch voraus sind. Aber die Gefahr sehe ich. Die Diskurse, die so etwas begünstigen, sind natürlich zu bekämpfen.

SB.: Die sogenannte Sarrazin-Debatte hat sich zunehmend verselbständigt, indem sein Buch als produktiver Beitrag zur sogenannten Integrationsdebatte anerkannt wird. Über den Begriff der Integration selbst wird dabei kaum mehr geredet. Wie würdest du das sehen: Könnte man Integration aus emanzipatorischer Sicht als eine Form der fremdbestimmten Anpassung bezeichnen, als Versuch, Menschen auf einen gesellschaftlichen Konsens zuzurichten, den sie nicht notwendigerweise repräsentieren müssen, um in dieser Gesellschaft zu funktionieren?

TW: Ich halte den Begriff Integration selber noch nicht für einseitig in eine bestimmte Richtung aufgeladen. Für mich wäre auch entscheidend, wie der gesellschaftliche Konsens beschaffen wäre, auf den hin integriert werden soll.

SB: Ich denke da zum Beispiel an den Vorwurf der sogenannten Parallelgesellschaften, also der Verdächtigung von Kollektiven, die nicht hundertprozentig zu durchleuchten sind, weil sie zum Beispiel eigene Sprachen und eigene Gebräuche haben, als potentiell terroristisch oder anderweitig störend oder kontraproduktiv.

TW: Wir beobachten natürlich seit Jahren, wie sich Parallelgesellschaften etablieren und zunehmend abschotten. Das sind allerdings Parallelgesellschaften, die nicht als anstößig empfunden werden, das ist die Parallelgesellschaft des Mainstream- Journalismus, in der bestimmte Regeln und Abschottungsmechanismen existieren. Solche Parallelgesellschaften gibt es und die sind gefährlich.

SB: Sloterdijk und Sarrazin respektive die neue Rechte erhält nur durch ihre mediale Verstärkung soviel Breitenwirkung. Sollte man von konkreten Interessen in den großen Verlagskonzernen ausgehen oder geht dies mehr auf eine Art von immanenter Affirmation zurück?

TW: Ich glaube, da kommt man nicht aus, ohne von einer Gemengelage zu sprechen. Diese Dinge sind natürlich nicht in irgendeiner Form wissenschaftlich erforscht. Man bewegt sich da schon im Spekulativen. Natürlich ist eine Figur wie Sloterdijk ohne medialen Verstärkungsprozeß und Interessen von Medien, sich mit ihm zu schmücken und seine Ideen weiterzuverbreiten, nicht möglich. Auf der anderen Seite ist er auch deswegen interessant, weil er gut schreiben kann und ein eigenständiger Formulierer, Fabulierer ist, der in seiner Entwicklung als Schriftsteller nicht dadurch aufgefallen ist, daß er im Auftrag von irgendjemandem bestimmte Thesen entwickelt hat. Die hat er schon selbst entwickelt. Wenn es solche originellen Schreiber nicht gäbe, dann hätten es die ideologischen Mächte schwerer, ihre Ansprüche durchzusetzen.

SB: Wie bewertest du die weitere gesellschaftliche Entwicklung vor dem Hintergrund des Vordringens neuer rechter Ideologien?

TW: Es besteht die Gefahr, daß sich aus diesen Bürgerbewegungen, mit denen ich nicht nur islamfeindliche Gruppen meine, sondern auch Freie Wählergemeinschaften und die bürgerlichen Massen, die zu recht auf die Straße gehen und demonstrieren, um so etwas wie Stuttgart 21 zu verhindern, etwas formiert, das die repräsentative Demokratie, also die durch Parteien und auch Gewerkschaften organisierte Interessenvertretung, aushebelt zugunsten einer doch weitgehend atomisierten Masse, die nur noch dazu dient, politische Führer zu legitimieren. Diese Entwicklung ist noch nicht sehr weit fortgeschritten und kann verhindert werden. Aber es gibt Bestrebungen, sie voranzutreiben. Wenn es keine Parteien und andere Organisationen mehr gibt, die die Interessen der unteren Klassen vertreten, dann sieht es ganz übel aus.

SB: Thomas Wagner, vielen Dank für dieses Gespräch.

Passage zwischen Hauptgebäude und Westflügel der Universität Hamburg - © 2010 by Schattenblick

Die Zukunft wirft lange Schatten ...
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21. Oktober 2010