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INTERVIEW/035: Sicherheitsstaatlichkeit in der EU - Bürgerrechtsaktivist Ben Hayes, Statewatch (SB)


Interview mit Ben Hayes, Statewatch, in Berlin-Kreuzberg am 21. November 2009


Der Bürgerrechtsaktivist und Wissenschaftler Ben Hayes untersucht seit langem die Sicherheitsarchitektur der Europäischen Union. Seit 1996 arbeitet er für die Bürgerrechtsorganisation Statewatch und ist dort Direktor des Statewatch European Monitoring and Documenting Centre on Justice and Home Affairs in the EU (SEMDOC). Der 30jährige Engländer hat Geographie an der London Metropolitan University studiert und machte seinen Doktor an der nordirischen Universität von Derry über Innen- und Justizpolitik der EU. Hayes hat in den letzten Jahren mehrere Berichte über die Ausweitung innenpolitischer Kompetenzen sowohl auf der Ebene der Mitgliedstaaten als auch auf der der EU verfaßt, nicht zuletzt das von Statewatch und dem niederländischen Transnational Institute (TNI) Ende September im Internet veröffentlichte "NeoConOpticon: The EU Security-Industrial Complex". Neben seinen Aufgaben bei Statewatch und dem Amsterdamer TNI findet Hayes noch Zeit, für das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin zu arbeiten. Bei der Eröffnung des neuen ECCHR-Büros in Berlin-Tempelhof am 21. November beantwortete Hayes dem Schattenblick einige Fragen.

Ben Hayes
© 2009 by Schattenblick

Schattenblick: Das Vereinigte Königreich scheint der fortgeschrittenste Sicherheitsstaat der Europäischen Union zu sein. Meinst Du, daß Britannien innerhalb der EU eine Pionierrolle im Bereich der Sicherheitstaatlichkeit einnimmt, der andere Mitgliedstaaten folgen?

BH: Ja. Einer der Gründe dafür liegt darin, daß die Regierung des Vereinigten Königreichs die EU benutzt, um ihre eigenen Überwachungsbestrebungen voranzubringen. Viele der die Privatsphäre verletzenden Überwachungspraktiken, die in den letzten Jahren von der EU beschlossen wurden, hat ursprünglich das Vereinigte Königreich vorgeschlagen. Die EU-Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung 2006 zum Beispiel ist zustandegekommen, weil die Labour-Regierung unter Führung Tony Blairs ein Datensicherungssystem im Vereinigten Königreich einführen wollte, es dafür aber keine Rechtsgrundlage gab und die Gesetzesvorlage im Oberhaus scheiterte. Nun wurde in Brüssel eine Richtlinie eingebracht und durch den EU-Entscheidungsprozeß getrieben. Das Verfahren hat insgesamt vier Jahre gedauert, aber im Nachhall der Bombenanschläge in London im Juli 2005 wurde die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung angenommen. Dann ist die britische Regierung wieder vor das Parlament in London getreten und hat gesagt: "Nun müßt ihr das verabschieden, weil es EU-Gesetz ist. Daran können wir leider nichts ändern."

Bei Statewatch nennen wir ein solches Verfahren nach dem Vorbild der Geldwäsche "Politikwäsche". Man bringt ein politisches Verfahren, das keine Chance hat, im inländischen legislativen Kontext angenommen zu werden, in ein intergouvernementales Entscheidungsgremium ein, wo es keine tiefgreifenden Überprüfungsprozeduren oder Rechenschaftspflichten gibt, läßt es verabschieden und präsentiert es dem nationalen Parlament als vollendete Tatsache in Form einer EU-Richtlinie, die von den einzelnen Mitgliedstaaten angenommen werden muß.

Es ist schwer zu sagen, warum das Vereinigte Königreich zu einer solchen Überwachungsgesellschaft geworden ist. Man fragt mich das häufig. Ich glaube, daß es zum Teil damit zu tun hat, daß wir schon sehr früh die Videovollüberwachung (CCTV) eingeführt haben. 1991 waren wir der erste europäische Staat mit flächendeckender Videoüberwachung. Damit hat sich im öffentlichen Bewußtsein die Vorstellung festgesetzt, CCTV sei ein legitimes Mittel zur Verbrechensbekämpfung. Das Versäumnis der britischen Zivilgesellschaft, das zu verhindern, hat in gewissem Sinn weiteren Gesetzesinitiativen im Bereich der Überwachung den Weg geebnet.

SB: Ein großer Teil dieser modernen Überwachungstechnologie ist in den 70er und 80er Jahren während der Troubles in Nordirland, in Städten wie Belfast und Derry, entwickelt und getestet worden, bevor man sie zu einem späteren Zeitpunkt ins britische Kernland zurückexportiert und anschließend im übrigen Europa eingeführt hat.

BH: Da hast Du recht. Es hat ganz sicher mit den Troubles angefangen. Ein weiterer wichtiger Schritt in diese Richtung war der Bergarbeiterstreik 1984/1985, gegen den die konservative Regierung von Margaret Thatcher die zu dem Zeitpunkt größte Überwachungsoperation gestartet hat, die je im Kernland des Vereinigten Königreichs stattgefunden hat. Die Bemühungen, IRA-Bombenangriffe auf wirtschaftliche Ziele im Kernland Britannien zu bekämpfen - beispielsweise der sogenannte "Stahlring" um die City von London in den 1990er Jahren - waren auf dem Weg, den Einsatz von Überwachungstechnologie rechtsgültig zu machen, schon ein großer Schritt.

SB: Meinst Du, daß es eine Verbindung zwischen der liberalen Rechtstradition Britanniens - die nicht einmal eine geschriebene Verfassung kennt - wie der Vereinigten Staaten und der drastischen Zunahme von Sicherheitsgesetzen in dem Sinne, daß beide Länder versuchen, die Freiheit durch immer mehr Repression gesetzlich zu regulieren, gibt? Ein gutes Beispiel für dieses Phänomen ist die enorme Anzahl der Gefängnisinsassen in den USA, die pro Kopf die höchste der Welt ist. Kannst Du Dir vorstellen, daß der spezifische Charakter der angloamerikanischen Rechtstradition für die drakonischen Maßnahmen im Bereich der Sicherheitspolitik verantwortlich ist?

BH: Ich bin nicht sicher, ob eine spezifisch angloamerikanische Tradition damit zu tun hat. Ich glaube, daß ein Teil des Problems in Britannien darin begründet ist, daß unsere Geheimdienste nie angemessen für die vielen Skandale zur Rechenschaft gezogen worden sind, die sie verursacht haben. Wir haben nie so etwas wie Watergate oder die Iran-Contra-Affäre gehabt, wie es in den USA der Fall war. Wir haben unseren Sicherheits- und Geheimdienstapparat - ungeachtet der düsteren Vorgänge in Nordirland, in Britannien oder im Ausland - nie irgendeiner wirklichen Kontrolle unterzogen oder ernsthaft über seine Rechtmäßigkeit diskutiert. Was auch immer es mit der angloamerikanischen Rechtstradition auf sich haben mag, es ist unbestreitbar, daß die Sicherheitsdienste des Vereinigten Königreichs und der USA seit dem Zweiten Weltkrieg Hand in Hand zusammenarbeiten. Ich könnte mir vorstellen, daß es damit etwas zu tun hat.

SB: Wie bewertest Du das Verhältnis zwischen dem Einsatz des britischen Sicherheitsapparats im Inneren und Londons Außenpolitik zum Beispiel anhand der Tatsache, daß das Vereinigte Königreich dasjenige EU-Mitglied ist, das in den letzten Jahren an mehr Kriegen beteiligt war als jeder andere EU-Staat?

BH: Das ist die Frage nach der Henne oder dem Ei. Wir führen weltweit Krieg, und einige dieser Kriege sind nach Britannien zurückgekehrt, um uns heimzusuchen. Es hat bei uns im Zuge der Troubles in Nordirland Terroranschläge, wenn man sie so nennen will, gegeben, zudem hatten die Anschläge des 11. Septembers offenkundig eine sehr große Wirkung. Aber ja, es ist klar, daß zwischen unserer aggressiven Militärpolitik im Ausland und der Unruhe im Inneren, zu der sie im Vereinigten Königreich geführt hat, und wiederum den Maßnahmen, die ergriffen wurden, um auf diese Bürgerunruhen zu reagieren, eine deutliche Verbindung besteht. Bei uns sind Antiterrorgesetze länger als in jedem anderen Land Europas in Kraft.

Als Konsequenz aus den Troubles in Nordirland hat es bei uns eigentlich durchgängig von 1972 bis ins Jahr 2000 eine zeitlich befristete Antiterrorgesetzgebung gegeben. Die Antiterrorgesetze wurden als so außergewöhnlich angesehen, daß sie jedes Jahr erneut vom Parlament bestätigt werden mußten. Ironischerweise wurde erst nach dem 1998 geschlossenen Karfreitagsabkommen, das den Konflikt in Nordirland grundlegend beilegte, das erste permanente Antiterrorgesetz des Vereinigten Königreichs verabschiedet. Der Terrorism Act 2000 hat im Kern ein Vierteljahrhundert Notstandsgesetzgebung auf Dauer festgelegt und der Regierung des Vereinigten Königreichs die Befugnis gegeben, jede terroristische Handlung wo auch immer auf der Welt zu verfolgen und zu untersuchen. Schon über ein Jahr vor dem 11. September hat die Blair-Regierung das Konzept des Terrorismus instrumentalisiert, um ein dauerhaftes Sicherheitsregime zu schaffen.

Ich habe den Eindruck, daß der Begriff Sicherheit allmählich die Rolle des Terrorismusbegriffs, die dieser vor fünf oder sechs Jahren im politisch-bürokratischen Diskurs hatte, übernimmt. Davor brauchten sie in der Regel die terroristische Bedrohung als Rechtfertigung für die Einführung polizeistaatlicher Methoden. Da wir eine Zeitlang keinen ernsthaften Terroranschlag in Europa oder in den USA gehabt haben, kommt es mir zusehends so vor, als solle das Konzept der Sicherheit auf die gleiche Weise zur Rechtfertigung neuer Gesetze dienen, wie es nach dem 11. September mit dem Terrorismus geschah.

Im Zuge dessen wird das Konzept der Sicherheit selbst einem Wandel unterzogen. In den skandinavischen Ländern beispielsweise hat man unter Sicherheit nicht automatisch staatliche Kontrolle verstanden, sondern eher die soziale Abfederung durch den Wohlfahrtsstaat. Wenn man das Wort Sicherheit benutzte, bezog man sich auf Arbeit, Gesundheitsversorgung, Wohlfahrt etc. Jetzt wird der Begriff der Sicherheit in der gesamten EU auf diejenigen Bereiche angewendet, für die die Polizei oder andere exekutive Staatsorgane zuständig sind. Da Barack Obama und die Demokraten in Washington an die Macht zurückgekehrt sind und es in der letzten Zeit keinen größeren Terroranschlag im Westen gegeben hat, fangen viele Leute an zu fragen, ob die drakonischen Antiterrormaßnahmen der letzten Jahre nicht ein wenig übertrieben waren. Vor diese Situation gestellt haben die Bürokraten und Politiker ihr Motto geändert und sprechen jetzt von "Sicherheit" anstatt von "Terrorismus".

SB: Aus welchem Grund legt Statewatch den Schwerpunkt auf die EU-Sicherheitspolitik?

BH: Wir haben es weitgehend unserem Direktor, Tony Bunyan, zu verdanken, daß Statewatch die Europäische Union schon recht früh als einen der Hauptakteure im Bereich der Überwachung, Grenzsicherung, Migrationskontrolle, Sicherheitspolitik etc. ausgemacht hat. 1991 hat er den Bericht "Towards an Authoritarian European State" geschrieben und veröffentlicht. Darin legte er die Implikationen des Maastricht-Vertrages dar, durch den die EU erstmals Bedeutung auf dem Feld der Repression erhalten hat, und sagte voraus, in welche Richtung diese Entwicklung verlaufen würde. Unglücklicherweise war er seiner Zeit vielleicht zu sehr voraus. Die meisten Leute haben die EU als irrelevant mißachtet und nicht erkannt, daß sie eine potentielle Bedrohung für die bürgerlichen Freiheitsrechte darstellt.

Nach dem 11. September 2001 jedoch rückte die Sicherheit auf einen zentralen Platz unter den politischen Zielen der EU vor. Diese Situation hält bis heute an. Im Bereich der Sicherheitsgesetzgebung ist die EU meines Erachtens nach heute ein wichtigerer Akteur als jeder einzelne Mitgliedstaat. Auf einen der Gründe dafür habe ich schon hingewiesen: Aufgrund des Mangels an demokratischer Kontrolle, Medienaufmerksamkeit etc. sind die Bürokraten und Politiker in Brüssel in der Lage, Gesetze durchzubringen, die sie auf nationaler Ebene nicht verabschiedet bekämen. Ein Teil des Problems liegt darin, daß das Europäische Parlament in Strasbourg häufig nicht das Mandat gehabt hat, diese Fragen zu prüfen. Sie wurden aus der Debatte ausgeschlossen, was zum Ergebnis hatte, daß viele der entscheidenden Richtlinien in kürzester Zeit beschlossen wurden.

SB: Worin siehst Du die größere Bedeutung der EU - in der Etablierung neuer Repressionstechnologien oder als Instanz zur Einführung weitreichender Gesetze?

Ben Hayes
© 2009 by Schattenblick

BH: Ich bin der Meinung, daß die Bedeutung der EU darin liegt, daß sie ein Forum von Staaten bildet, auf dem man Abmachungen unter minimalster öffentlicher Überprüfung treffen kann. Es sind keine gewählten Politiker, die dabei die Hauptrolle spielen. Natürlich treffen sich die Justizminister alle zwei Monate und beschließen neue Gesetze, aber die Initiative dazu entsteht meiner Meinung nach nicht in der nationalen politischen Arena. Sie ist ein Produkt der intergouvernementalen Kontakte von "Securocrats", also eigens für diesen Zweck eingesetzte Ministerialbeamte und Lobbyisten. Sie treffen sich in Brüssel mit ihren Kollegen aus anderen Staaten, beraten in äußerst intransparenter Form über diese Angelegenheiten, treffen Übereinkünfte und bringen sie dann wieder auf der nationalen Ebene ein. Diese Situation ist für Innenministerien, die ständig nach Machtzuwachs und neuen Gesetzen in unterschiedlichen Bereichen streben, geradezu ideal.

Der Bereich der Sicherheitstechnologie ist erst in jüngerer Zeit dazugekommen und wird eher von wirtschaftlichen Interessen gespeist. Das European Security Research Program (ERSP), auf das ich in meinem Bericht "NeoConOpticon" detailliert eingehe, beruht auf zwei Überlegungen: Die erste betrifft die Bedeutung, die der Sicherheitstechnologie für die Überwachung, Grenzkontrolle, Verbrechensbekämpfung etc. zukommt. Die zweite Überlegung bezieht sich ganz ausdrücklich auf die Tatsache, daß Sicherheit ein Milliarden-Dollar-Geschäft geworden ist. Es ist quasi der neue internationale Waffenhandel. Wenn die EU-Mitgliedstaaten nicht die Entwicklung eines wettbewerbsfähigen Industriesektors für Heimatschutz subventionieren, dann werden sie China, Israel und den USA, deren Unternehmen diesen Markt bereits dominieren, mit großem Abstand unterlegen sein. Dieser Sektor ist größer als Hollywood oder das Musikgeschäft. Die weltweite Heimatschutzindustrie hat bereits jetzt einen Umfang von 160 Milliarden Dollar jährlich. Und sie wird noch größer werden. Waffenproduzenten sprechen über die Heimatschutzindustrie wie über das neue Wettrüsten. Sie dominieren den Sektor bereits, denn sie haben in jeden Bereich der Sicherheitstechnologie diversifiziert, den man sich ausmalen kann, vom Schutz gefährdeter Infrastruktur über die Grenzkontrolle bis hin zur Satellitenüberwachung und zum Data Mining.

Dabei geht es zwar zum Teil um Sicherheit, in der Hauptsache jedoch sorgt dieser globalen Markt dafür, daß die europäischen Unternehmen dort ihre Chancen wahrnehmen. Ich bin viele Male in Brüssel gewesen und habe über dieses Thema mit Menschen diskutiert, die in der EU-Kommission arbeiten. Ihre Argumente kann man letztlich auf die Aussage reduzieren: "Entweder wir geben unseren Unternehmen die Möglichkeit, uns mit dieser Technologie zu versorgen, oder wir müssen diese von den Chinesen oder den Amerikanern kaufen."

SB: Wie beurteilst Du die Beziehungen der EU zu den USA in diesem Zusammenhang? Wird dort ein Wettstreit ausgefochten, oder arbeitet man eher zusammen?

BH: In den neunziger Jahren hat in der europäischen Rüstungsindustrie eine massive Konsolidierung stattgefunden. Auf Initiative mehrerer Mitgliedstaaten hin haben sich nationale Waffenproduzenten zusammengeschlossen, was zur Entstehung riesiger Unternehmen wie dem europäischen Luft- und Raumfahrtkonzern EADS (European Aeronautic Defence and Space Company) geführt hat. Die EU hat es sich zur Aufgabe gemacht, für das Wohlergehen dieser Industriegiganten zu sorgen. Dazu wird das Argument propagiert: "Wenn dir etwas an den Arbeitsplätzen in Europa liegt, dann mußt du EADS unterstützen, du mußt Thales unterstützen, du mußt Finmeccanica unterstützen." Das sind multinationale Unternehmen, die in der ganzen Welt operieren, aber ihren Hauptsitz in der EU haben. Der EU ist ausgesprochen daran gelegen, daß sie weiter wachsen und in der Lage sind, mit den großen US-amerikanischen, israelischen und chinesischen Unternehmen zu konkurrieren.

SB: Gleichzeitig haben die EU und die USA, insbesondere seit dem 11. September, eine Reihe problematischer Sicherheitsabkommen unterzeichnet, beispielsweise beim Austausch von Bank- und Passagierdaten oder der Zusammenarbeit in Strafsachen, die eine massive Verletzung der Privatsphäre und anderer Rechte nach sich ziehen. Wie beurteilst Du diese Entwicklung?

BH: Das Projekt, einen gemeinsamen Rechtsraum der EU zu schaffen - sie nennen es den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts -, in dem jedes Mitgliedsland Personen aus den anderen EU-Staaten auf Grundlage der eigenen Gesetze strafrechtlich verfolgen kann, wurde in den frühen neunziger Jahren in Angriff genommen. Es war, was den Europäischen Haftbefehl, gegenseitige Rechtshilfeverträge, den Austausch von Informationen, die Zusammenstellung umfangreicher Polizei- und Einwanderungsdatenbanken etc. betrifft, im Jahr 2000 weitestgehend vollendet. Der Europäische Haftbefehl wurde erst nach dem 11. September formell angenommen, aber man hat viele Jahre über ihn debattiert.

Die Beteiligung der Heimatschutzindustrie an dieser Entwicklung ist etwas jüngeren Datums. Traditionellerweise wurde die Forderung nach einer europäischen Sicherheitspolitik von den größeren EU-Mitgliedstaaten wie Deutschland, Frankreich und Britannien erhoben, die, aus welchem Grund auch immer, die EU-weite Gesetzgebung und eine größere Zusammenarbeit und Harmonisierung vorangetrieben haben. Jetzt scheinen die einzelnen Mitgliedstaaten nicht mehr auf weitere EU-Sicherheitsgesetze zu drängen. Sie haben in Bereichen wie den Überwachungstechniken und der polizeilichen Zusammenarbeit bereits alle Befugnisse, die sie benötigen. Das Nachlassen politischer Initiativen auf der Ebene der Mitgliedstaaten hat die EU-Kommission dazu veranlaßt, nach neuen Impulsen im Sicherheitsbereich zu fragen. Die Personen, die jetzt solche Ideen liefern, sind die Manager der führenden Waffen-, Heimatschutz- und IT-Unternehmen. Sie schlagen jetzt vor: "Wir können eure unterschiedlichen Datenquellen dazu nutzen, sie miteinander zu vernetzen und daraus die künftigen Sicherheitsbedrohungen zu prognostizieren."

Es wäre zum Lachen, wenn es nicht so ernst wäre. Ich glaube wirklich, daß die EU als Staatenbund keine Ideen mehr hat. In 15 Jahren der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit wurde Gesetz auf Gesetz angenommen. Die Forderung, daß wir eine integrierte europäische Sicherheitsarchitektur brauchen, kommt nicht von Britannien oder Deutschland, sondern vielmehr von Firmen wie EADS, Finmecanicca, Thales, BAE Systems, die viel Geld für die Erforschung und Entwicklung integrierter Sicherheitssysteme investiert haben. Ihre Brüsseler Büros bombardieren jetzt die Kommission und den Europäischen Rat mit ihren Dossiers, also ihrem PR-Material.

SB: In den letzten Jahren haben die "Securocrats" in Britannien einige schwerwiegende Rückschläge erlitten. Am herausragendsten waren die tödlichen Schüsse einer Antiterror-Eliteeinheit auf den brasilianischen Elektriker Charles de Menezes 2005 in einer Londoner U-Bahn-Station, der Tod von Ian Tomlinson durch einen unprovozierten Polizeiangriff am Rande der G-20-Proteste im letzten April in London und die Massenverhaftungen von 114 Umweltaktivisten in Nottingham einige Tage später. Sie sollten daran gehindert werden, gegen das Kohlekraftwerk in Ratcliffe-on-Soar zu demonstrieren. Vorfälle wie diese haben viele Menschen dazu veranlaßt, die Gründe zu hinterfragen, mit der die wachsenden Polzeibefugnisse legitimiert werden. Wird dieser Rückschlag anhaltende Wirkung zeigen?

BH: Ich kann nicht für die öffentliche Meinung in Britannien sprechen, aber mit wem auch immer ich rede - sogar einschließlich des Vaters meiner Freundin, der ernsthaft meint, daß Margaret Thatcher das Beste war, das dem Land je passiert ist -, sind Menschen jeder politischen Couleur sehr besorgt über den Verlust der traditionellen liberalen Freiheitsrechte. Sie sind wirklich davon überzeugt, daß der Staat zu weit gegangen ist und sich zuviel Macht angeeignet hat. Unglücklicherweise übersetzen sich diese Bedenken nicht in eine Art organisierten Widerstand, der greifbare Wirkung auf der politischen Ebene zeigte. Ich denke, es gibt schon Bewegung, aber man muß befürchten, daß morgen eine weitere Bombe hochgeht und zwei Jahre fortschrittlicher Diskussionen darüber, daß die Macht des Staates zu weit geht und durch mehr Regulierung der Polizei und der Sicherheitsdienste in die Schranken gewiesen werden muß, dahin sind.

Meiner Meinung nach sind wir nur eine Bombe weit entfernt von der nächsten Runde der Terrorhysterie und allem, was damit einhergeht. Bei Statewatch machen wir Scherze über die Vorstellung, daß sich irgendwo im Innenministerium ein Regal mit der ganzen künftigen Gesetzgebung befindet. Im Moment sammelt sich Staub darauf an, aber sobald es eine politische Gelegenheit gibt, wird sie vom Regal genommen und im Parlament debattiert. Unglücklicherweise ist eine solche Vorstellung nicht so unwahrscheinlich, wie man auf den ersten Blick meinen könnte, was einfach zeigt, wie bedrückend die aktuelle Situation ist, in der wir uns befinden.

SB: Was hältst Du vom Stockholm-Programm der EU, über das in den nächsten Wochen entschieden werden soll?

BH: Einer der bedenklichsten Aspekte des Stockholm-Programms betrifft tatsächlich die Verwendung der Sprache. Wenn man mit der Sicherheitspolitik der EU nicht vertraut ist und die Dokumente zum Stockholm-Vertrag liest, in denen viel von Datenschutz, Menschenrechten, Regulierung der Polizeidienste, Rechenschaftspflichten und so weiter die Rede ist, wird man nicht wirklich verstehen, was das alles bedeutet. Die EU-Bürokraten haben eine ganz neue Sprache geschaffen, die nicht klar erklärt, was sie planen und tun werden, sondern dies nur andeutet. Sie sagen also Dinge wie: "Wir brauchen eine größere Zusammenarbeit zur Bekämpfung der illegalen Zuwanderung" oder "Unsere Polizeikräfte müssen in der Lage sein, besser miteinander zu kommunizieren" oder "Wir brauchen Regelungen, auf deren Grundlage wir Daten austauschen können." Für sich gesehen ist keiner dieser Vorschläge allzusehr zu beanstanden. Aber die Gesetze, auf denen solche Vorstöße basieren, werden, daran habe ich keinen Zweifel, extreme Eingriffe ermöglichen und potentiell sehr gefährlich sein.

Das Problem mit vielen Dokumenten der Europäischen Union - das beste Beispiel ist natürlich der Lissabon-Vertrag - besteht darin, daß ihrem vordergründigen Wortlaut viele Absichten zu entnehmen sind, mit denen die meisten Menschen übereinstimmen können: "Natürlich sollte es mehr Sicherheit geben und dazu eine bessere Zusammenarbeit zwischen den französischen und deutschen und britischen Polizeikräften. Was ist daran falsch?" Ich würde jedoch vorschlagen, daß die Menschen sich einmal den Aktionsplan ansehen, der aus Stockholm resultiert. Er erstreckt sich über einen Fünfjahreszeitraum und betrifft die praktische Umsetzung des Stockholm-Programms. Dann muß man die gesetzlichen Maßnahmen untersuchen, die aus dem Aktionsplan hervorgehen. Ich halte das Stockholm-Programm für extrem gefährlich. Aber wir hatten ein wirkliches Problem damit, politisches Bewußtsein für diese Gefahr zu schaffen, weil die Leute es lesen und sagen: "Wo liegt das Problem? Mit 75 Prozent stimme ich überein. Okay, das mit der Überwachung und dem Datenschutz ist vielleicht ein bißchen problematisch, aber alles in allem ist es eine positive Sache."

Auf der anderen Seite müssen wir fair sein und feststellen, daß der Lissabon-Vertrag - zumindest auf dem Papier - den Bereich der Justiz und der Innenpolitik demokratischer machen sollte. Er schafft das Drei-Säulen-Modell ab; er unterstellt einen großen Teil des Sicherheitsbereichs dem Mandat des Europäischen Parlaments etc. Theoretisch ist er fortschrittlich in dem Sinne, daß er eine Verbesserung gegenüber dem bewirkt, was wir erreicht haben.

Aber zum einen ist das, was wir erreicht haben, bereits so schlecht, daß weit mehr Veränderungen erforderlich wären, als einfach nur dem Europäischen Parlament ein Mitentscheidungsrecht einzuräumen, um die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren. Zum anderen möchte ich darauf hinweisen, daß etwa 21 von 27 Regierungen in der Europäischen Union entweder mitte-rechts oder rechts sind, was sich in der Besetzung des Europäischen Parlaments widerspiegelt. Wenn es also darum geht, Entscheidungen über Fragen der Immigration und Polizeibefugnisse zu treffen, wird sich die Tatsache, daß die politische Führung der Europäischen Union nach rechts gerückt ist, in der Politik niederschlagen, die in Brüssel und Strasbourg beschlossen wird.

SB: Welche Rolle spielt Deiner Ansicht nach die Menschenrechtsarbeit im Verhältnis zu sozialen Bewegungen und der Aufgabe, ein breites Bewußtsein über die Gefahren zu schaffen, die von expandierender Sicherheitsstaatlichkeit ausgehen?

BH: Menschenrechte sind hervorragend dafür geeignet, die ungeheuerlichsten und furchtbarsten Arten des Machtmißbrauchs anzugreifen: Folter, Verschleppung und dergleichen. Die Menschenrechte für sich gesehen beziehen sich nicht auf die Staatsmacht; sie beziehen sich nicht auf Polizeimethoden. So kann ein extrem autoritäres Grenzkontrollregime, das Elend über Flüchtlinge bringt, die versuchen, nach Europa hineinzugelangen oder über Migranten, die bereits in Europa sind, dennoch in voller Übereinstimmung mit den Menschenrechten stehen. Es kann drakonische Polizeimaßnahmen bei Demonstrationen geben, aber solange niemand getötet wird, kommen die Menschenrechte nicht in gleichem Maße zur Anwendung.

Ich würde also sagen, daß Menschenrechte zur Verteidigung der untersten Ebene extrem wichtig sind, da sie das Bollwerk schaffen, das verhindert, daß man zu weit in eine autoritäre Richtung rutscht. Gleichzeitig haben die Menschenrechte wenig oder gar nicht vermocht, das massive Eindringen des Staates in das Privatleben zu verhindern. Das ist ein Problem. Individuelle Menschenrechte sind bestens dazu geeignet, Personen zu helfen, die brutal zusammengeschlagen oder gefoltert oder deren Verwandte getötet wurden. Wenn man aber über bürgerliche Freiheiten, soziale Gerechtigkeit und derartige Fragen spricht, meine ich, müssen wir uns darüber im klaren sein, daß die Menschenrechte eine ziemlich eingeschränkte Rolle spielen und daß an dieser Stelle der politische Druck von seiten der Menschen gefordert ist. Ohne einen solchen Druck werden die Menschenrechte weiterhin einen Minimalstandard bieten, der sich mit den schlimmsten Fällen befaßt. Aber sie können nicht die täglichen Angriffe auf die bürgerlichen Freiheiten und das Recht auf Privatsphäre verhindern, die wir die in den letzten zehn Jahren erlebt haben.

SB: Ben Hayes, vielen Dank für das Gespräch.

Die Studie "NeoConOpticon: The EU Security-Industrial Complex" ist abzurufen unter http://www.statewatch.org/analyses/neoconopticon-report.pdf

© 2009 by Schattenblick

22. Dezember 2009