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INTERVIEW/005: Sinn-Féin-Europaabgeordnete Mary Lou McDonald (SB)


Interview mit Mary Lou McDonald am 9. Januar 2009
im Sinn-Féin-Bezirksbüro im Dubliner Stadtviertel Cabra


In Deutschland ist die Partei Sinn Féin mit Gerry Adams und Martin McGuinness an ihrer Spitze als politischer Arm der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), die sich von 1969 bis 1994 einen blutigen Krieg mit der britischen Staatsmacht und deren Verbündeten bei der nordirischen Polizei und loyalistischen Paramilitärs lieferte, bekannt. Weniger bekannt ist die Tatsache, daß die Geschichte von Sinn Féin bis 1905 zurückreicht und daß auch diejenigen Parteien, welche die Politik in der Irischen Republik bis heute dominieren, ihr entstammen. Der Name Sinn Féin ("wir selbst") kommt aus dem Gälischen und soll den Wunsch nach kultureller, politischer und wirtschaftlicher Unabhängigkeit Irlands zum Ausdruck bringen.

Bei den ersten britischen Parlamentswahlen nach dem Ende des Ersten Weltkrieges gewannen im Dezember 1918 die Vertreter von Sinn Féin 73 von 105 Sitzen in Irland. Unter Verweis auf den Osteraufstand 1916 in Dublin, dessen Führer die Irische Republik ausgerufen hatten, weigerten sich die Sinn-Féin-Abgeordneten, ihre Sitze im britischen Unterhaus einzunehmen, beriefen statt dessen im Januar 1919 das erste irische Parlament seit mehr als 100 Jahren und begannen mit der Einrichtung eines von London unabhängigen Staatapparats. Daraufhin kam es zum Irischen Unabhängigkeitskrieg, der im Dezember 1921 mit dem Anglo-Irish Treaty zu Ende ging. Dieser sah die Einrichtung eines autonomen "Freistaates" vor, der aus 26 von 32 irischen Grafschaften bestand. Die sechs nordöstlichen Grafschaften, in denen königstreue Protestanten die Bevölkerungsmehrheit stellten, blieben als "Nordirland" Teil des Königreichs mit Großbritannien.

Die Annahme des Anglo-Irish Treaty, der die Teilung Irlands und die Anerkennung des britischen Monarchen als Staatsoberhaupt vorschrieb, war für einen Teil derjenigen, die als Irische Republikanische Armee am Kampf gegen die britischen Streitkräfte teilgenommen hatten, inakzeptabel, stellte er aus ihrer Sicht doch einen Verrat an den in der Unabhängigkeitserklärung enthaltenen Idealen eines einheitlichen, politisch freien, kulturell eigenständigen und sozial gerechten Irlands dar. Zwischen den Abkommensbefürwortern unter Michael Collins und -gegnern unter Eamon De Valera kam es zum Bürgerkrieg, der vom Juni 1922 bis April 1923 tobte und mit der Niederlage letzterer endete. Die Pro-Treaty-Kräfte waren die Vorläufer der heutigen konservativen Partei Fine Gael ("Clan der Iren"), während aus der Anti-Treaty-Fraktion später die ebenfalls konservativ-soziale Fianna Fáil ("Soldaten des Schicksals") hervorging. Diese beiden Parteien haben das politische Leben des irischen Staates, der 1948 formell Republik wurde und gleichzeitig aus dem britischen Commonwealth trat, dominiert. An allen Regierungen seit 1922 waren sie entweder abwechselnd als größte Partei mit kleineren Koalitionspartnern oder alleine beteiligt. Die einzige andere Partei, die durchgehend im Dubliner Parlament vertreten gewesen ist, stellt die Irish Labour Party dar, die sich einst als sozialistisch verstand, sich aber heutzutage sozialdemokratisch im modern europäischen Sinne gibt.

Als 1936 De Valera und seine Anhänger sich mit dem Anglo-Irish Treaty abfanden und als Fianna-Fáil-Fraktion ihren Platz im Parlament einnahmen, gerieten die Rumpf-Sinn-Féin zu einer unbedeutenden Splitterpartei und die IRA zu einem Haufen unverbesserlicher, aber immer älter werdender Kriegsveteranen. Dies änderte sich Ende der sechziger Jahre mit dem Ausbruch der "Troubles" in Nordirland. Diese entzündeten sich an der gewaltsamen Reaktion des protestantisch-unionistischen Machtapparats in Belfast auf das Aufkommen einer katholischen Bürgerrechtsbewegung, die von protestantischen Scharfmachern wie dem Reverend Ian Paisley zur nationalistischen "fünften Kolonne" der Republik im Süden und der "IRA" aufgebauscht wurde. Tatsächlich war es aber so, daß die IRA, als es 1969 zu ersten Pogromen protestantischer Mobs in katholischen Vierteln Belfasts kam, praktisch nicht mehr existierte. Die Entsendung britischer Truppen, welche die beiden Konfessionen auseinander halten sollten, ließ die Situation eskalieren. Für die Streitkräfte Londons war es unmöglich - selbst wenn sie es gewollt hätten - zwischen der einen Seite, die wie sie das Königreich verteidigen wollte, und der anderen, die die Wiedervereinigung der ganzen Insel als Republik forderte, unparteiisch zu bleiben. Alle rüsteten auf. Das Unheil nahm seinen Lauf.

Anfang der neunziger Jahre sahen die IRA und die britische Armee ein, daß sie den jeweils anderen niemals würden bezwingen können. Deshalb kündigte die IRA 1994 einen ersten Waffenstillstand an. Es kam zu Verhandlungen, an denen Sinn Féin, die sich seit den Hungerstreiks in den achtziger Jahren zur bedeutenden politischen Kraft in Nordirland entwickelt hatte, teilnahm. 1998 wurde das Karfreitagsabkommen abgeschlossen und der Bürgerkrieg formell beendet. Das Abkommen sah eine interkonfessionelle Regierung aus Katholiken und Protestanten für Nordirland vor. Die Republik gab ihren verfassungsmäßigen Anspruch auf die sechs nordöstlichen Grafschaften auf. Diese sollten sich dem Süden erst anschließen, wenn sich eine Mehrheit der Bevölkerung bei einer demokratischen Abstimmung dafür entschiede. In der Zwischenzeit soll ein Nord-Süd-Rat die Zusammenarbeit zwischen den Institutionen in Dublin und Belfast einleiten und somit eine Annäherung der beiden Teile der Insel ermöglichen. Jahrelang wurde jedoch die Umsetzung des Karfreitagsabkommens durch einen Streit um die IRA-Entwaffnung blockiert. 2006 erklärte die IRA den bewaffneten Kampf für beendet und ließ unter der Aufsicht internationaler Experten ihr geheimes Waffenarsenal vernichten. 2007 bekannte sich Sinn Féin erstmals zur Zusammenarbeit mit der nordirischen Polizei, woraufhin im selbem Jahr die Democratic Unionist Party (DUP) des vom Haßprediger zum älteren Staatsmann mutierten Paisley mit ihr eine Koalitionsregierung bildete, die bis heute im Amt ist.

Angespornt vom politischen Erfolg im Norden, baut Sinn Féin seit einigen Jahren im Süden ihre Basis kontinuierlich aus. In der Republik ist die Zahl der potentiellen Sinn-Féin-Wähler auch nicht gering. Es gibt viele Fianna-Fáil-Anhänger, die enttäuscht sind, daß ihre Partei zur Befehlsempfängerin der Großkonzerne, speziell der Bauindustrie, geworden ist, während vielen Labour-Wählern der Kurs der Parteispitze nicht links genug ist. Beiden Parteien versucht Sinn Féin die Wähler abspenstig zu machen. 2002 gelang es Sinn Féin, die Zahl ihrer Sitze im Dáil, dem Unterhaus des Parlaments in Dublin, von einem auf fünf zu erhöhen. Die Wahlen 2007 stellten sich aber für Sinn Féin als Rückschlag heraus. Statt, wie damals allgemein erwartet und prognostiziert, die Vertretung im Dáil zu verdoppeln und sich als potentielle Koalitionspartnerin zu empfehlen, ging die Zahl der von Sinn Féin errungenen Sitze von fünf auf vier zurück. Als Juniorpartner bildeten die Grünen mit sechs Sitzen mit Fianna Fáil eine Regierungskoalition.

Eine der empfindlichsten Niederlagen bei jener Wahl erlitt Sinn Féin im Bezirk Dublin Central, dem Revier des damaligen Taoiseach (Premierminister) und Fianna-Fáil-Vorsitzenden Bertie Ahern. Dort gelang es Mary Lou McDonald, dem neuen Shooting Star der Partei, nicht, einen der vier Dáil-Sitze zu gewinnen. 2002 hatte McDonald für eine Sensation gesorgt, als sie erstmals für Sinn Féin in der Republik - im Großraum Dublin - einen Sitz im Europäischen Parlament gewann. In Straßburg bzw. Brüssel gehört McDonald seitdem zusammen mit ihrer Sinn-Féin-Kollegin Bairbre de Brún, die Belfast vertritt, der Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordischen Grünen Linken (GUE/NGL) an.

Im Sommer 2008 hat Sinn Féin einen beachtlichen politischen Erfolg erzielt und zwar bei der Volksbefragung zum EU-Reformvertrag. Während das gesamte politische Establishment - Fianna Fáil, Fine Gael, Labour und die Grünen -, die Arbeitgeberverbände und die großen Gewerkschaften allesamt für ein Ja zu Lissabon eintraten, stellte sich Sinn Féin auf die Seite der außerparlamentarischen Opposition, bestehend hauptsächlich aus diversen Friedensorganisationen, linken Gruppierungen und der rechtslibertären Vereinigung Libertas, plädierte für ein Nein und gewann. Bei der einzigen Volksbefragung in einem EU-Land zum Thema Reformvertrag wurde die Neuauflage jener Verfassung, die drei Jahre zuvor in Frankreich und den Niederlanden gescheitert war, mit deutlicher Mehrheit abgelehnt. Weil die Befürworter eines immer straffer organisierten und damit angeblich konkurrenzfähigeren Europas das Nein der Iren nicht akzeptieren, sollen diese im kommenden Herbst erneut darüber abstimmen. Über dieses Thema und mehr hatte der Schattenblick am 9. Januar Gelegenheit, mit Mary Lou McDonald, die aller Voraussicht nach beim bevorstehenden Parteitag im Februar zur Sinn-Féin-Vizepräsidentin gewählt wird, persönlich zu sprechen.

Der Schattenblick-Redakteur und Mary Lou McDonald vor dem Sinn-Féin-Bezirksbüro in Cabra - © 2009 by Schattenblick



Der Schattenblick-Redakteur und Mary Lou McDonald vor dem Sinn-Féin-Bezirksbüro in Cabra
© 2009 by Schattenblick


Schattenblick: Frau McDonald, Sie sind seit einigen Jahren in der Dubliner, irischen und europäischen Politik aktiv. Könnten Sie uns etwas über Ihren politischen Hintergrund, Ihre Entwicklung und Ihre Motivation erzählen? Als ich für dieses Interview recherchierte, stieß ich darauf, daß Sie Mitglied von Fianna Fáil waren, bevor Sie Sinn Féin beitraten.

Mary Lou McDonald: Nun, wenn ich meine Motivation als politische Aktivistin oder als gewählte Volksvertreterin beschreiben müßte, würde ich sagen, daß es ganz einfach ist. Es geht um die Verwirklichung von fundamentaler und nachhaltiger sozialer Veränderung. Das ist mein Interesse, unabhängig davon, ob es sich um die Stadt Dublin, Irland als Ganzes oder in der Tat die europäische Ebene handelt.

Ich denke nicht, daß man mich als Berufspolitikerin im traditionellen Sinne bezeichnen könnte. Mein eigener Gang in die Politik verlief etwas unorthodox - oder vielleicht auch nicht -, aber als ich jung war, vor langer, langer Zeit, kam mir die Parteipolitik zu institutionalisiert, zu langweilig, zu langsam und wahrscheinlich zu sehr von Männern dominiert vor und deshalb interessierte sie mich auch nicht sonderlich. Als ich an der Universität studierte, interessierte ich mich folglich vielmehr für Kampagnen, bei denen es jeweils um ein einzelnes Thema ging, denn ich dachte, man befasse sich mit dem einen Thema und versuche, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Erst später kam ich zu dem Schluß, daß man sich, wenn man echte und fundamentale Veränderung erreichen will, mit dem parteipolitischen System, mit den vorherrschenden Machtstrukturen auseinandersetzen muß, wie mangelhaft auch immer sie sein mögen.

Ich stamme aus einer im weitesten Sinne traditionell republikanischen Familie und für eine kurze Zeit war ich eher zufällig aktiv bei Fianna Fáil, bis mir schnell mehr als klar wurde, daß ich eigentlich am falschen Ort war. Zweifelsohne gibt es sehr feine Leute, die Mitglieder von Fianna Fáil sind oder Fianna Fáil wählen, doch als politische Institution tritt sie nicht ernsthaft für republikanische Ziele und Ideale ein. Damit meine ich nicht einfach die Überwindung der Teilung Irlands, sondern auch die Verwirklichung der Proklamation von 1916 und des demokratischen Programms des ersten Dáil, mit anderen Worten die Verwirklichung der Gleichheit.

Ich kannte Mitglieder von Sinn Féin, hatte immer mehr mit Leuten aus der Partei zu tun und habe mich schließlich für den Beitritt entschieden. So einfach war es. Es war keine impulsive, sondern eine politisch motivierte Entscheidung, doch gleichzeitig hatte ich keinen Masterplan. Es war keine Sache des Kalküls. Häufig, wenn Kommentatoren über mich als politische Akteurin diskutieren, herrscht die Annahme vor, daß ich irgendein Sonderling innerhalb der Sinn-Féin-Partei bin. Tatsache ist jedoch, daß dies nicht stimmt. Sie ist meine politische Heimat. Sie vertritt die Politik, für die auch ich einstehe. Und es gibt viele andere in der Partei, die ähnliche politische Ansichten wie ich vertreten und die einen ähnlichen Hintergrund haben, was die Klassenzugehörigkeit betrifft.

SB: Solche Vorwürfe oder Vorbehalte stammen doch von Leuten, die Sinn Féin am liebsten zu einer politischen Existenz innerhalb des nordirischen Kontextes verdammen möchten und die sich davor fürchten, daß sie in der Republik an Boden gewinnt.

MLM: Stimmt genau. Zweifellos werden solche Vorbehalte von Personen erhoben, die sich mit der Teilung Irlands abgefunden haben. Häufig haben Politiker im Süden mit der Vorstellung einer sehr starken Sinn Féin nördlich der Grenze kein Problem, doch wenn die Politik Westbelfasts die gemütlichen Arrangements Süddublins zu tangieren droht, denn sehen sie die Dinge plötzlich ganz anders - keine Frage. Doch es gibt einen anderen Aspekt, bei dem es sich um eine stereotypische Annahme handelt, nämlich, daß republikanische Politik eine Sache von Männer und Machotypen ist und daß eine Frau dort nicht hineinpaßt und irgendwie stört.

SB: Nach dem Motto "Wo ist ihre Knarre?"

MLM: (lacht) Genau, nach dem Motto "Wo ist ihre Lederjacke?" und so weiter. Der andere Aspekt ist die Annahme, daß man eine stereotypische proletarische Herkunft aufweisen muß, um sich für die Arbeiterklasse und die Armen einsetzen zu können, was eine unglaublich engstirnige und unzutreffende Weltsicht ist, denn Leute, die an soziale Gleichheit glauben und die ein rigides Klassensystem ablehnen, kommen von überall her.

Als ich erstmals öffentliche Aufmerksamkeit erregte, habe ich meiner Meinung nach gegen das sorgfältig aufgebaute Klischee des typischen Sinn-Féiners verstoßen. Man wußte nicht so richtig, wie man mich einordnen sollte. Doch so liegen die Dinge nun mal. Als Partei müssen wir immer noch gegen das Vorurteil kämpfen, daß wir ausschließlich eine nordirische Partei sind, daß wir eine Nischen-Partei mit einer entsprechend beschränkten Sicht und begrenzten Zielen sind. Tatsache ist jedoch, daß wir eine Bewegung sind, und die Werte und die Sache, die wir vertreten, genau diejenigen sind, auf die dieser Staat anfänglich gegründet wurde und die der irischen Psyche unmittelbar entspringen. Wie Sie wissen, haben wir in der irischen Politik aus verschiedenen historischen Gründen nie diese klassische Links-Rechts-Aufteilung gehabt. Dafür haben wir in der Kultur und in der Psychologie einen sehr starken Hang zu aufrichtigen, republikanischen, irisch-republikanischen Werten, die per Definition linksgerichtet sind, und zwar vom Wesen her.

SB: Wobei die soziale Gerechtigkeit ihr Kern wäre?

MLM: Genau der Kern. Folglich wäre es völlig sinnlos, sich für ein Ende der Teilung Irlands und für eine nationale Demokratie zu engagieren, wenn das Endergebnis nicht eine vollkommen veränderte Gesellschaft sein sollte. Darum muß es doch gehen.

SB: Worauf James Connolly [Irlands größter Sozialist, der wegen seiner Führungsrolle beim Osteraufstand 1916 hingerichtet wurde] bereits vor dem Osteraufstand hingewiesen hat.

MLM: Ganz genau. Manchmal wird sogar unsere republikanische Glaubwürdigkeit in Frage gestellt, während einige Kommentatoren fragen, ob wir überhaupt links sind und uns als "Nationalistenhaufen" abtun. Wie Sie wissen, hat der Begriff des Nationalismus in vielen anderen europäischen Ländern aus jeweils spezifischen Gründen eine ganz andere Resonanz. In Irland dagegen rührt der Nationalismus aus etwas wie einem südamerikanischen Impuls her, bei dem es um Souveränität, Selbstbestimmung und soziale Gerechtigkeit geht. Also sind wir bei Sinn Féin Nationalisten im irischen Sinne, aber vor allem sind wir Republikaner und Mitglieder einer linken Partei. Wir sind keine Trotzkisten oder Marxisten oder was auch immer, aber wir sind eindeutig eine sehr linke Partei, in der ich mich politisch zu Hause fühle.

SB: Was waren Ihrer Meinung nach die Hauptgründe, warum die irischen Wähler im letzten Sommer den EU-Reformvertrag abgelehnt haben?

MLM: Es gab eine Reihe von Gründen. Ich glaube, es herrscht allgemein der Eindruck vor, daß das europäische Projekt von bestimmten Interessensgruppen, von den politischen Eliten, gekapert worden ist und sich, was die politische Verantwortlichkeit betrifft, von der Volksmeinung abgekoppelt hat. Zwar wird es nicht immer so artikuliert, aber das Gefühl ist weit verbreitet, daß die Sache den Menschen ernsthaft abhanden kommt, daß der einzelne Bürger, je mehr die Macht zentralisiert wird und je komplizierter die Strukturen werden, nicht mehr in der Lage ist, auf die Entscheidungen Einfluß zu nehmen, sie rückgängig zu machen oder den Kurs des Projektes zu ändern. Mit anderen Worten, es scheint, daß aus wirtschaftlicher Sicht und in bezug auf den freien Markt alles bereits in Stein gemeißelt ist und daß es keine Rolle spielt, was die allgemeine Bevölkerung darüber denkt, denn der Vertrag gibt die gesetzlichen Rahmenbedingungen vor und der Kurs Europas steht bereits fest.

SB: Von den Konzernen usw. auf der Lobbyistenebene vorgeschrieben?

MLM: Von den Konzernen, den Lobbyisten und den großen, mächtigen und weit entfernten Institutionen. Ich glaube, daß die einfachen Menschen in Irland sowie in anderen Ländern, mit denen ich gesprochen habe, begreifen, daß die Demokratie am besten funktioniert, wenn sie nahe bei einem liegt und man darauf Einfluß nehmen kann. Und es gibt tatsächlich ein großes Dilemma, wenn diese großen Institutionen, die mit den Lobbyisten und den großen Interessensgruppen im Bunde sind, am Lenkrad sitzen. Ich glaube, das ist das Problem, welches die irische Bevölkerung mit dem Vertrag von Lissabon hat.

SB: Sie hat also die Lage begriffen und dagegen reagiert.

MLM: Richtig. Und ein Teil davon ist, mit Bestimmtheit für Leute aus der Arbeiterschicht, daß sie einfach nicht einverstanden sind mit der Richtung, welche die Politik eingeschlagen hat. Sie wollen sich nicht mit einer Situation abfinden, in der der Markt der König ist, in der der Markt heilig ist und in der zu verschiedenen sozialen Rechten und grundlegenden Rechten Lippenbekenntnisse abgegeben werden, aber wenn es tatsächlich zu einem Konflikt zwischen den Gesetzen des Marktes und des Wettbewerbs auf der einen Seite und jenen sozialen Rechten auf der anderen kommt, daß der Markt und der Wettbewerb obsiegen. Die Menschen empfinden das als unsozial und verstehen genau, daß es ihnen schadet und sie verletzt.

SB: Für sie ist es eine Bedrohung.

MLM: Für sie ist es ganz klar eine Bedrohung, die sie, ihre Familien und ihre Nachbarn in Mitleidenschaft ziehen wird. Und wenn man den Ausgang der Volksbefragung in Irland im allgemeinen wie auch in der Stadt Dublin im besonderen analysiert, dann geht mehr als eindeutig daraus hervor, daß es die Menschen in den Arbeitervierteln waren, die zur Urne gingen und diesen Vertrag torpedierten. Sie kennen bestimmt, zumindest vom Hörensagen, die Siedlung Neilstown im [Dubliner] Stadtteil Clondawkin. Da wohnen zwar rechtschaffende, gutherzige Menschen, aber die Siedlung an sich ist arm und sozial sehr benachteiligt. Ausgerechnet dort gab es bei der Volksbefragung zu Lissabon eine Beteiligung von fast 60 Prozent. Das ist unerhört. Ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung berichten, wie schwierig es ist, selbst für eine Parlamentswahl eine solche Beteiligung zu erreichen. Von daher glaube ich nicht, daß die Leute unter Vorspiegelung falscher Tatsachen dazu gebracht wurden, mit Nein zu stimmen, oder daß sie nicht richtig wußten, was sie taten. Ich denke, daß die Menschen instinkmäßig begriffen hatten, was auf dem Spiel stand, und zwar aufgrund von Themen wie Arbeiterrechte, die Privatisierung des öffentlichen Dienstes und die Militarisierung der EU sowie Irlands Position als neutrales Land mittendrin. Es ging um konkrete Fragen. Also waren die Themen klar erkennbar, und die öffentliche Debatte im Verlauf der Kampagne um die Volksbefragung und sogar lange davor hat diese Tatsache widergespiegelt.

Eine seltsame - nun nicht ganz so seltsam, aber auf jeden Fall bedauerliche Sache, die nach der Zurückweisung des Lissaboner Vertrages passierte, ist, daß es bei Teilen der Medien und in einigen der politischen Parteien, Fine Gael und leider der Labour Party, einen Zwangsreflex gab, eine Legende zu kreieren, derzufolge das Nein, weil Leute aus der Arbeiterschicht in großer Zahl gegen den Vertrag gestimmt hatten, wenn auch nicht direkt auf den Rassismus, so doch zumindest auf eine Angst vor Menschen anderer Hautfarbe, anderer Kulturen und arbeitssuchenden Einwanderern zurückzuführen wäre. Doch die Wahrheit, welche selbst die von der Regierung und den großen Zeitungen durchgeführten Umfragen ergab, ist, daß das Rassenthema keinerlei Bedeutung hatte und keine Rolle spielte, was die Höhe der Nein-Stimmen betrifft.

SB: Das sind doch Diffamierungstaktiken, nicht wahr?

MLM: Zweifelsohne. Also wird man als Mitglied der Arbeiterschicht doppelt beleidigt - zunächst durch ein Abkommen, einen Gesetzestext, der den eigenen Interessen schadet, und dann, wenn man den Mut und den Grips hat, zur Urne zu gehen und dagegen zu votieren, wird man als Rassist gebrandmarkt. Das finde ich total widerlich.

Des weiteren war es auch kein anti-europäisches Votum. Wir sind eine Inselnation, also sind wir per Definition nach außen gerichtet. So sind wir halt. Das geht darauf zurück, daß wir in einem kleinen Land leben, das auch noch eine Insel ist. Es hat sich mehr als deutlich herausgestellt, daß die Leute pro-europäisch sind, daß sie sich selbst zwar natürlich als Iren, aber auch als Europäer begreifen. Gleichzeitig stellen sie die Frage, wie Europa aussehen soll und wem es gehört. Denn Europa - das sind wir; es ist nicht das Eigentum irgendwelcher Schwerreichen oder politischen Eliten.

SB: Vor diesem Hintergrund, was halten Sie von den sogenannten Zugeständnissen, die Irland gemacht werden sollen, damit der Vertrag von Lissabon beim zweiten Mal durchkommt? Sind sie überhaupt substantiell oder handelt es sich lediglich um Augenwischerei?

MLM: Zum jetzigen Zeitpunkt würde ich sagen, daß es nur Augenwischerei ist. Wie Sie vermutlich wissen, haben wir von der Regierung nichts vorgelegt bekommen. Die Regierung, die sich bisher mit PR und öffentlichen Stellungnahmen begnügt hat, behauptet, sie hätte dem Volk zugehört und wäre auf alle Themen eingegangen. Dafür gibt es keinen Beweis. Die Tatsachen zeigen etwas anderes, und zwar, daß die Regierung zunächst in Panik geraten ist, geschmollt und mehrere Monate lang nichts unternommen hat, um anschließend eine Blitztour zu einigen europäischen Hauptstädten hinzulegen und eine Art politische Choreographie zu präsentieren, welche die erfolgreiche Verabschiedung des EU-Reformvertrages garantieren soll. Ich habe bisher nichts gesehen, was mich glauben ließe, daß man sich mit den Themen im einzelnen eingehend befaßt hat, und ich nehme an, daß der Grund dafür ist, daß eine eingehende Behandlung derjenigen Kernthemen, die bei den Menschen Sorge auslösen, Veränderungen im Reformvertrag erforderlich machen würde. Daran käme man nicht vorbei.

SB: Inwiefern denken Sie als Europaabgeordnete, könnte eine erneute Zurückweisung des Lissabon-Vertrages durch die irischen Wähler der Katalysator hin zu einem Kurswechsel bei der EU im allgemeinen sein?

MLM: Lassen Sie mich es so ausdrücken: Wenn die Iren den Vertrag von Lissabon in seinem jetzigen Zustand nicht wieder ablehnen, dann tritt er in Kraft, und es wird munter weitergemacht wie eh und je. So stehen nun mal die Dinge. Wir in der Sinn Féin haben, nachdem die Iren gegen Lissabon gestimmt haben, klar gesagt, daß das Votum kein Anlaß zur düsteren Stimmung sein sollte, sondern erstens, daß man es als freien und offenen Ausdruck des demokratischen Volkswillens ansehen sollte, und zweitens, daß es, wäre die irische Regierung gewillt, Führungsstärke zu demonstrieren oder die Notwendigkeit von Veränderung zu begreifen, ihr die perfekte Gelegenheit böte, die Argumente aufzugreifen und ihnen Geltung zu verschaffen. Sie hat sich jedoch entschieden, dies nicht zu tun.

SB: Gibt es aus den Treffen und Gesprächen mit ihren Kollegen in Straßburg Anlaß zur Annahme, daß es im Falle eines erneuten irischen Neins zu Lissabon eine andere Reaktion geben wird?

MLM: Nun, Tatsache ist, daß der größte Teil des politischen Establishments hinter dem Lissaboner Vertrag steht. Sie wollen ihn. Deshalb werden sie sich widersetzen und von jedem Trick und jeder Finte Gebrauch machen, um dafür zu sorgen, daß er in Kraft tritt. Das ist die politische Realität. Doch ihr gegenüber steht eine andere Realität, die lautet, daß der Reformvertrag juristisch nicht in Kraft treten kann, bis jeder Mitgliedsstaat ihn abgesegnet hat. In diesem Widerspruch liegt eine politische Dynamik. Aber was wir dringend brauchen, um Veränderung herbeizuführen, sind Regierungen oder angesehene Persönlichkeiten, die bereit sind, Position zu beziehen und Führungsstärke zu demonstrieren.

SB: Nun, dazu wird die irische Wählerschaft bei der nächsten Volksbefragung erneut aufgerufen.

MLM. Stimmt. Aber eine Sache muß ich klarstellen: Sinn Féin nimmt in diesem Streit keine ausschließlich negative Position ein. Das ist auch etwas, was wir der irischen Regierung wiederholt erklärt haben. Nach der Volksbefragung haben wir ein sehr detailliertes Papier ausgearbeitet und es der Regierung vorgelegt. Es beinhaltete nicht nur eine Liste der Problemfelder, sondern auch konkrete Vorschläge, wie sie angegangen werden könnten, bis hin zu Ausformulierungen, von denen wir meinten, daß sie sie übernehmen und sich für sie einsetzen könnten. Damals haben wir ihnen gesagt 'Verstehen Sie dies: Gehen Sie auf die Sorgen der Menschen ein, werden wir Sie unterstützen'.

SB: Doch wenn ich mich richtig entsinne, hat Sinn Féin keine Antwort auf jene Vorschläge bekommen.

MLM. Nein, wir haben nichts mehr gehört. Wir wollten uns mit der Regierung treffen, um die Problemfelder zu diskutieren, aber sie hat sich geweigert. Ich glaube, daß diese Vorgehensweise von ihr sehr kurzsichtig und sehr engstirnig war. Doch ich meine, daß sie ein erster Ausdruck ihrer politischen Haltung war. Es ging ihr darum, die Niederlage einfach wegzustecken, sich zu reorganisieren und neu aufzustellen, sich nicht mit den Sorgen der Menschen auseinanderzusetzen oder das demokratische Urteil zu akzeptieren, sondern zu versuchen, ein Szenario herbeizuführen, mittels dessen sie das irische Volk zu einer Meinungsänderung oder einer anderen Entscheidung bewegen könnte. Als Europäer finde ich das sehr beunruhigend, denn wie ich Ihnen vorhin sagte, beschleicht die Menschen - meiner Meinung nach zurecht - das Gefühl, daß das europäische Projekt sie längst hinter sich gelassen hat. Gerade durch die Reaktion der irischen Regierung auf das Nein-Votum wird dieser Verdacht bestätigt.

SB: Nicht allein durch die Reaktion der irischen Regierung, sondern auch die der Regierungen in den wichtigsten europäischen Hauptstädten?

MLM: So ist es. In Irland haben wir diese negative Reaktion schon einmal nach dem ersten Nein zum Vertrag von Nizza erlebt. Dasselbe haben die Franzosen und die Niederländer erlebt, als sie Nein zur EU-Verfassung sagten. Also müßte das bei jedem verantwortungsbewußten Menschen, der sich europäische Solidarität und kollektives Handeln wünscht und der sich von Europa eine positive Kraft erhofft, tiefste Sorge auslösen. Tatsache ist, daß die Völker das Sagen haben müssen, sollte sich Europa als haltbar und effektiv erweisen. Ich denke, das wäre eine demokratische Grundbedingung.

SB: Als Mitglied von Sinn Féin, die für die Wiedervereinigung Irlands eintritt, die Mitgliedschaft in irgendwelchen Militärallianzen ablehnt und sich der Wiederbelebung der gälischen Sprache verpflichtet sieht, wie würden Sie auf die Ängste von Leuten wie dem Ex-Taoiseach Garret Fitzgerald antworten, wonach ein zweites Nein zu Lissabon diese Insel vom europäischen Festland isolieren und sie dadurch einer größeren kulturellen und wirtschaftlichen Herrschaft der USA und Großbritannien ausliefern würde?

MLM: Nun, ich würde dieses Argument ganz klar bestreiten. Vielleicht sind diese Sorgen Dr. Fitzgeralds echt und tiefsitzend, aber ich halte sie für fehl am Platze. Ich denke, daß Irland nur isoliert werden kann, wenn wir unsere eigene Isolierung zulassen. Mit anderen Worten, wenn man nicht bereit ist, sich zwar nicht auf konfrontative, aber auf sehr selbstbewußte Weise zu behaupten, dann kann man natürlich ignoriert werden. Dr. Fitzgerald weiß genau wie jeder andere, daß man nicht aus der Europäischen Union hinausgeworfen werden kann. Das kann einfach nicht geschehen. Genau wie jeder anderer weiß er auch, daß wir sehr stark involviert sind, was unsere Teilnahme an der europäischen Währungsunion und so weiter betrifft, und daß wir uns über die Jahrzehnte als engagierte Partner im europäischen Projekt erwiesen haben.

Ich würde zudem auf etwas hinweisen, das dauernd in diesem Land wie auch im Ausland behauptet wird, nämlich daß wir eine Debatte über die Zukunft Europas wünschen. Nun, wenn wir es ernst meinen mit jener Debatte, dann können wir eine Situation nicht akzeptieren, in der bestimmte Gruppen jedesmal, wenn sich diese Debatte aufdrängt, sie mit düsteren Warnungen vor irgendwelchen drohenden Untergangszenarien abzuwürgen versuchen. Entweder wir wollen diese Debatte oder wir wollen sie nicht. Doch wenn wir sagen, wir wollen die Debatte, dann soll sie stattfinden und die Menschen sollen das letzte Wort haben. Und es ist ja so, daß die Themen, die hier in Irland im Verlauf der Lissabon-Kampagne hochgekommen sind, ihre Relevanz in jedem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union haben - jedenfalls so weit ich es beurteilen kann.

SB: Das wissen die Menschen in diesen Ländern auch.

MLM: Davon gehe ich auch aus. Ich weiß, daß es Leute in Deutschland gibt, die zum Beispiel über die Militarisierung der EU zutiefst beunruhigt sind. Ich weiß, daß es Leute in Frankreich, in Spanien, in Portugal und überall gibt, die über die Stellung der Arbeiterrechte, diese Art von Sicherheitsagenda auf der europäischen Ebene und so weiter besorgt sind. Nehmen wir kein Blatt vor den Mund: als Europäer stehen wir alle vor der internationalen Finanzkrise, vor dem Super-GAU im Bankensystem und jeder von uns, der nur halbwegs bei Trost ist, müßte schnell zu dem Schluß kommen, daß stetige, dauerhafte Deregulierung der Märkte bis zum Nullpunkt gefährlich ist und sehr ernsthafte Konsequenzen nach sich zieht, insbesondere für einfache Leute wie wir, die nur unser Leben als gute Bürger zusammen mit unseren Nachbarn, unseren Gemeinden und unseren europäischen Freunden führen wollen. Wir werden noch mehr solcher Kommentare wie den von Dr. Fitzgerald, dessen Meinung ich respektiere, aber ganz gewiß nicht teile, hören.

SB: Für Sinn Féin, die inzwischen seit einigen Jahren die größte nationalistische Partei in Nordirland stellt, waren die Parlamentswahlen 2007 in der Republik Irland eine herbe Enttäuschung, denn der erwartete Durchbruch südlich der Grenze blieb aus. Inwieweit hat der Erfolg der Anti-Lissabon-Kampagne, an der Sinn Féin als einzige im Dáil [dem Unterhaus in Dublin] vertretene Fraktion aktiv und an vorderster Front teilnahm, das Ansehen ihrer Partei bei der Wählerschaft in den 26 Grafschaften verbessert?

MLM: Der Ausgang der Wahlen von 2007 hat uns schwer getroffen. Er geschah aus vielerlei Gründen und hat uns als politische Organisation auf den Prüfstand gestellt. Alles scheint glatt zu laufen, wenn ein Erfolg auf den nächsten folgt. Doch die wahre Prüfung kommt, wenn man ausrutscht und Schläge einstecken muß. In der Politik genauso wie im Leben muß man wissen, wie man gewinnt, aber gleichzeitig muß man in der Lage sein, Rückschläge wegzustecken und trotzdem weiterzumachen. Ich denke, daß wir als politische Partei Sinn Féin auf unsere Mitglieder an der Basis stolz sein können. Angesichts der Offensive der Medien nach der enttäuschenden Wahl wäre es sehr einfach gewesen, sich vom Ergebnis demoralisieren zu lassen und der Partei den Rücken zu kehren. Aber dies ist nicht geschehen, und ich denke, daß man das den Republikanern besonders im Süden hoch anrechnen muß.

Die Anti-Lissabon-Kampagne hat uns in vielerlei Hinsicht nach vorne gebracht. Ich denke, sie hat den Leuten ganz klar gezeigt, daß Sinn Féin keine Eintagsfliege ist, daß wir keine Ein-Thema-Partei sind, daß wir eine tatsächlich breitangelegte gesellschaftliche Analyse haben, daß wir kompetente Leute haben und daß wir keine politischen Analphabeten sind, wie es manche Kommentatoren während der Kampagne auf eine sehr herablassende Art von uns behauptet hatten. Wie Sie wissen, gab es im Nein-Lager auch andere Leute und Gruppen, folglich kann Sinn Féin den Sieg nicht allein für sich verbuchen. Dennoch steht fest, daß sich unsere Argumente durchsetzten und daß am Ende des Tages das irische Volk das, was wir von uns gaben, am überzeugendsten fand. Das kommt daher, daß das irische Volk, unabhängig von irgendwelchen äußeren Kräften, die Entwicklungen beobachtet und sich eine eigene Meinung darüber gebildet hat. Die Menschen sind intelligent und kommen zu ihren eigenen Schlußfolgerungen.

Ob und inwieweit sich der Erfolg der Anti-Lissabon-Kampagne in besseren Wahlergebnissen für Sinn Féin niederschlagen wird - um darüber ein Urteil fällen, ist es meines Erachtens noch zu früh. Es stehen in diesem Sommer in Irland Wahlen an, sowohl auf der Kommunalebene als auch zum EU-Parlament, das wird dann für uns die nächste Prüfung sein. Davon unabhängig befleißigen wir uns, die Dinge mittel- bis langfristig zu sehen, denn sich Glaubwürdigkeit zu verschaffen, die Argumente zu entwickeln, das Vertrauen der Leute zu gewinnen, ihnen echt zur Seite zu stehen, sie zu überzeugen und sie zu mobilisieren, das läßt sich alles nur langfristig erreichen. Das schafft man nicht über Nacht. Es wäre was anderes, würden wir einfach mit der derzeitigen Regierung darüber streiten, wie man dies oder jenes bewältigte, oder uns mit ihr über irgendwelche Details in die Haare bekämen, wie es die anderen Oppositionsparteien tun. Doch darum geht es uns nicht. Wir treten für einen ganz anderen Kurs ein, und das schafft man nicht über Nacht.

Mary Lou McDonald auf der Gaza-Demonstration am 3. Januar vor dem Sitz des irischen Parlaments im Leinster House in Dublins Kildare Street - © 2009 by Schattenblick

Mary Lou McDonald auf der Gaza-Demonstration am 3. Januar vor dem Sitz des irischen
Parlaments im Leinster House in Dublins Kildare Street
© 2009 by Schattenblick


SB: Wie sehen Ihre eigenen politischen Pläne für die Zukunft aus, angesichts der bevorstehenden Europawahlen und der Möglichkeit von Parlamentswahlen in Irland, die aktuellen Spekulationen zufolge innerhalb der nächsten 12 Monate ausgeschrieben werden könnten? Inwieweit hat der Tod des parteiunabhängigen Dáil-Abgeordneten Tony Gregory und die Möglichkeit einer Nachwahl in Dublin Central Ihren eigenen Wahlkreis, Ihre Pläne verändert?

MLM: Nun, ich werde bei den Europawahlen im Sommer kandidieren. Dublin hat einen Sitz verloren. Der Wahlbezirk schickt künftig nicht mehr vier, sondern nur noch drei Abgeordnete nach Straßburg. Das macht die Aufgabe sehr, sehr schwierig. Ich unterschätze sie für keine Millisekunde. Mein Job besteht darin, zusammen mit meinen Kollegen auf der kommunalen Ebene den Stimmenanteil von Sinn Féin und die Forderung nach Wandel zu maximieren und den Leuten - auch wenn es banal klingen mag, ist es von mir ernsthaft gemeint - ein Vehikel zu geben, mittels dessen sie nicht nur ihrer Wut und ihrem Wunsch nach Veränderung Ausdruck verleihen, sondern auch noch ihre Fähigkeit, die Dinge selbst zu beeinflussen, erweitern können. So gesehen liegt für uns eine Menge Arbeit an.

Was die Möglichkeit von vorzeitigen Parlamentswahlen betrifft, da gibt es Spekulationen, denn die Regierung ist durcheinander, ist steuerlos und scheint keinen Plan zu haben. Und weil sich die Wirtschaft in sehr großen Schwierigkeiten befindet, werden die Spekulationen über Neuwahlen nicht abreißen. Nach meinem eigenen Dafürhalten wird es die Regierung mit dem Gang zur Urne nicht eilig haben, denn für sie wäre es nicht von Vorteil. Doch es kann jederzeit zu Ereignissen kommen, welche die Lage verändern. Aus persönlicher Sicht genieße ich es und freue mich darüber, meine Stadt im Namen von Sinn Féin im europäischen Parlament vertreten zu dürfen. Ich denke, wir haben dort gute Arbeit geleistet. Es gibt vieles, was ich dort noch gern erreichen möchte, aber ich würde es niemals ausschließen, für den Dáil erneut zu kandidieren.

SB: Nehmen wir zum Beispiel an, daß die Regierung entscheiden würde, die Nachwahl in Dublin Central auf das gleiche Datum wie das der Kommunal- und Europawahlen zu setzen. In einer solchen Situation könnten Sie sich vorstellen, statt für das EU-Parlament zu kandidieren, sich für die Wahl in Dublin Central erneut aufzustellen?

MLM: Darüber haben wir noch nicht diskutiert und ehrlich gesagt, habe ich mir auch keine Meinung darüber gebildet.

SB: Die Frage drängt sich aber auf.

MLM: Sicherlich tut sie das, aber man darf nicht vergessen, daß Tony - Gott sei ihm gnädig - erst vor wenigen Tagen begraben wurde. Auf jeden Fall läge die Entscheidung nicht allein bei mir, die Partei hätte auch ein Wörtchen mitzureden. Doch so weit es mich betrifft, ist mein Blick auf die Europawahl im Juni gerichtet. Sie hat meine volle Aufmerksamkeit.

SB: Zu Ehren von Tony Gregory habe ich eine ganz andere Frage. Ein großes Problem insbesondere der nördlichen Innenstadt Dublins und der irischen Gesellschaft im allgemeinen stellt der illegale Drogenhandel und die Gewalt und das Leid, die er mit sich bringt, dar. Angesichts der Tatsache, daß mehr als 30 Jahre Prohibitionspolitik so katastrophal gewesen sind und im Grunde die Probleme nur verschlimmert haben, wäre da nicht die Zeit gekommen, den persönlichen Konsum von stimmungsverändernden Substanzen zu entkriminalisieren, um dadurch die riesigen Gewinne, die den illegalen Handel und das damit einhergehende Verbrechen generieren, zu eliminieren?

MLM: Ich kann der Logik dieses Argumentes folgen. Es ist etwas, das wir als Partei mindestens einmal im Jahr diskutieren, denn es gibt unterschiedliche Ansichten darüber, ob dieser Ansatz nicht der richtige wäre. Alles in allem herrscht bei uns die Meinung vor, daß das Argument, die Entkriminalisierung von Drogen der Klasse A, B oder C wäre die Lösung dieser besonderen Gesellschaftsepidemie, einfach zu simpel ist und eine Reihe verschiedener Annahmen impliziert. Die eine Annahme lautet, daß man durch die Entkriminalisierung einer Substanz den Schwarzmarkthandel zum Erliegen bringt. Das ist nicht zwingend der Fall, wie man am Beispiel der Zigaretten, mindestens in dieser Stadt, beobachten kann. Es gibt noch einen weiteren Aspekt. In diesem Land haben wir niemals eine ordentlich mit Ressourcen ausgestattete Rundumstrategie hinsichtlich Angebot und Nachfrage im Drogenhandel, Schäden und Rehabilitation sowie der ganzen Palette an Problemen, die gelöst werden müßten, gehabt. Nun, vorausgesetzt, man hätte eine solche Strategie und bereits alle Mittel erschöpft, dann wäre es logisch und legitim, Maßnahmen, wie die, die Sie beschrieben haben, in Betracht zu ziehen.

Doch ich glaube, eine solche Maßnahme in Betracht zu ziehen, ohne daß eine umfassend ausgestattete, gut durchdachte und implementierte Strategie und all die anderen Elemente vorhanden sind, könnte sich ganz verheerend auswirken. Ich glaube nicht, daß man dafür die nötige öffentliche Unterstützung bekäme. Und ich denke, daß man damit - unabhängig davon, wie gut gemeint oder logisch konsequent der Ansatz ist - gerade in Gebieten wie der nördlichen Innenstadt Dublins, in denen Heroin, das übrigens schon wieder groß im Kommen ist, gewütet hat, Öl ins Feuer gießen könnte. Nichtsdestotrotz ist das etwas, das man sich überlegen könnte. Ich denke, daß man am Ende des Tages Maßnahmen anwendet, die etwas bringen.

Derzeit besteht unsere Priorität darin sicherzustellen, daß die Regierung die Gelder für die örtlichen und regionalen Drogen-Task-Forces nicht einfrieren oder zurückfahren kann, wie sie es derzeit vorschlägt. In dem Zusammenhang war es irgendwie eine Ironie, in den letzten Tagen all die Loblieder auf Tony Gregory zu vernehmen, der in dieser Stadt zu den führenden Verfechtern einer umfassenden Drogen-Bekämpfungsstrategie gehörte, während gleichzeitig die Politik der Regierung darauf hinausläuft, die ehrgeizigen Ziele, die Tony und viele Leute in seinem Umfeld hatten, zu torpedieren. Das ist sozusagen der momentane Stand. Die anderen Debatten innerhalb unserer Partei finden immer wieder statt, und die Leute gehen das Problem auf verschiedenen Wegen an, doch derzeit würde Sinn Féin eine solche Maßnahme nicht unterstützen.

SB: Wäre Sinn Féin nach den nächsten Parlamentswahlen in der Regierung, wäre sie bereit, der Nutzung des Flughafens Shannon für den Transport von US-Kriegsmaterial und -Militärangehörigen ein Ende zu setzen?

MLM: Ja, keine Frage.

SB: Bei Ihrer neuerlichen Rede vor dem Portal des Dáil anläßlich der Demonstration gegen die derzeitige israelische Aggression in Gaza haben Sie die Aussetzung des EUROMED-Abkommens und eine Beendigung der Vorzugsbehandlung Israels durch die EU gefordert. Wie würden Sie die Unterstützung der EU für Israel mit der der USA vergleichen? Ist es vielleicht nicht so, daß die einen den guten Cop und die anderen den bösen Cop spielen?

MLM: So würde die EU die Dinge gerne sehen, aber ich bin nicht überzeugt, daß das der Fall ist. Ich denke, daß es beide bad cops sind. Als die EU die Gelder für den Gaza-Streifen strich, hatte man keine Bedenken und keinerlei Vermittlerposition einzunehmen versucht. Mit der Hamas wollte man nichts zu tun haben, Punkt, aus. Es gab keine Ausweichmanöver. Die Entscheidung stand fest. Ich glaube, daß es sich um eine völlig irrige und absolut kontraproduktive Entscheidung gehandelt hat, die vor allem dem palästinensischen Volk gegenüber sehr ungerecht war. Doch wie immer man die Entscheidung bewertet, sind wir alle darin einig, daß sie eindeutig, daß sie glasklar ausfiel.

Vergleichen wir das mit der heutigen Situation. Ich meine, das Ausmaß an zivilen Verlusten ist nicht zu fassen. Gerade letzte Nacht erfuhren wir von vier Kindern, die inmitten von Leichen, auch denen ihrer Mütter, gefunden wurden. Diese Kinder hungerten, denn sie hatten seit fünf Tagen nichts gegessen. Ich meine einfach, daß kein zivilisierter Staat so etwas so schamlos anrichten darf, ohne daß man irgendwelche Konsequenzen zieht. Und die Medien erzählen einem, von wegen, die auf der einen Seite haben dies und die auf der anderen Seite haben jenes gemacht. Das ist doch Humbug. Die israelischen Handlungen gehören verurteilt. Nicht Israel gehört verurteilt, sondern diese israelischen Handlungen - das muß man ganz klar auseinanderhalten. Um ein echter Freund Israels, der ganzen Region und der ganzen Welt zu sein - schließlich wirkt sich diese toxische Situation im Nahen Osten überall aus -, meine ich, daß es im Interesse Europas und sogar seine Pflicht ist, eine klare Position in dieser Angelegenheit zu beziehen. Ein Teil davon müßte die Aussetzung des EUROMED-Abkommens sein, während ein anderer Teil darin bestehen müßte, die Aufwertungen der Beziehungen zu Israel zu unterlassen.

Nur wenige Wochen, bevor diese Greueltaten begannen, lag dem Parlament in Straßburg ein Vorschlag vor, einer Aufwertung der Beziehungen zu Israel zuzustimmen. Unter der Führung von Francis Wurtz hat unsere Fraktion GUE/NGL eine Resolution eingebracht, mit der entschieden wurde, den Vorschlag von der Tagesordnung zu streichen, was großartig war. Es war zwar nur ein kleiner Schritt, hatte aber Bedeutung. Trotzdem ist klar, daß dieser Vorschlag wieder auf der Tagesordnung stehen wird. Was bringen wir damit zum Ausdruck? Daß die Musterdemokraten, die Meister der Menschenrechte usw., usw., trotz dieser absoluten Barbarei, dieses Abschlachtens, unsere Beziehungen zu der schuldigen Partei aufbessern wollen? Ohne Zweifel, wenn man ehrlich sein will, könnte man die palästinensische Führung kritisieren. Man könnte sicherlich die Hamas kritisieren. Also geht es nicht darum, eine der Streitparteien in Schutz zu nehmen, sondern es geht in der Tat darum, das Prinzip zu verteidigen, daß man nicht einfach Hunderte über Hunderte von Menschen auf diese Weise abschlachten und völlig straffrei davonkommen kann.

Ich meine, schauen Sie sich das Ausmaß der Operation, die Anzahl der israelischen Kampfjets und die Häufigkeit, mit der sie Bomben abwerfen, an. Es ist absolut schockierend. Es ist fast apokalyptisch. Es gibt Momente im Leben aller Männer und Frauen für absolute Ehrlichkeit, und dieses hier ist einer, denn das, was passiert, ist falsch und muß verurteilt werden. Und wenn die Israelis damit ein Problem haben, dann ist es halt so. Solch eine Verurteilung wäre kein Angriff auf sie, sondern einfach eine Klarstellung der Tatsachen. Ich weiß, daß es nächste Woche in Straßburg eine Debatte zum Thema Gaza geben wird. Ich glaube nicht, daß es zu einer Resolution kommen wird, und ich bin darüber etwas enttäuscht, doch alles in allem ist man vielleicht besser bedient mit keiner Resolution als mit einer, die halbherzig und nicht eindeutig ist, wie ich es beschrieben habe.

SB: Im Parlament von Straßburg hat man sich mit der Frage der Beziehungen zwischen der EU und der Kaukasus-Region einschließlich Georgien befaßt. Wie ist Ihre Meinung hinsichtlich des Verdachts, der am häufigsten in Moskau, aber auch von vielen politischen Beobachtern im Westen geäußert wird, daß die Erweiterung des Einflusses der EU und der NATO auf die Ukraine, auf den Kaukasus und auf Zentralasien auf die Schwächung Rußlands zielt?

MLM: Zu Beginn muß ich Ihnen sagen, daß dies ein Thema ist, das mich interessiert, aber daß ich dafür keine Expertin bin.

SB: Aber Sie gehören einem der zuständigen Unterausschüsse an?

MLM: Nun, ich gehöre der einen Delegation an. Ich bin auf diesem Gebiet leider nicht so aktiv gewesen, wie ich es gern gewesen wäre, wären die Umstände zu Hause anders gewesen. Doch lassen Sie mich folgendes sagen: Ich glaube, daß die NATO auf der Suche nach einer Rolle für sich ist. Es ist doch offensichtlich, daß sie ihre Reichweite zu erweitern sucht. Zwangsläufig hat das Folgen. Unabhängig davon, ob es sich um eine ausgedachte Strategie zur Schwächung Rußlands handelt oder nicht, es hat Implikationen hinsichtlich Rußlands Beziehungen nicht nur mit seinen unmittelbaren Nachbarn, sondern mit der Welt als Ganzer.

Ich denke, es hat etwas Scheinheiliges an sich, die Art, wie man in Europa über diese Themen diskutiert hat. Es reduzierte sich auf 'Georgien gut, Rußland schlecht', mit diesen abtrünnigen Staaten Abchasien und Südossetien irgendwo dazwischen, ohne daß jemand genau hinguckte und die Frage stellte, was eigentlich hier vorging. Gleichzeitig sollen wir glauben, daß die Vereinigten Staaten, die NATO und die EU aus reiner Menschenliebe der Ukraine und Georgien die Hand der Freundschaft reichen. Ich halte das für eine sehr verkürzte Analyse. Es ist doch klar, daß in der Reorganisation der Weltordnung große politische Spiele im Gange sind, und die wirklich bedauerliche Sache ist, daß, während auf der hohen politischen Ebene manipuliert wird, es die einfachen Leute unten sind, welche die Konsequenzen zu tragen haben.

In Europa war die Debatte über den Krieg in Georgien sehr einseitig. Selbst in Irland wurde es als eindeutige Sache von gut und böse dargestellt. Selbstverständlich muß man das Recht eines jeden Volkes auf Selbstbestimmung, darauf, die Lenker ihrer eigenen Zukunft zu sein und so weiter, respektieren. Doch wir dürfen uns nicht vormachen, daß es stets eine recht einfache oder eindeutige Sache ist. Besonders wenn die Großmächte Rußland, die NATO und die EU alle auf dem Spielfeld sind, kann es sehr, sehr kompliziert werden. Darum hoffe ich, daß wir als Europäer in nächster Zeit das sehr enge Verhältnis zwischen den NATO-Streitkräften und der europäischen Verteidigungskapazität genauer anschauen. Das ganze Thema der Interoperabilität muß auf den Prüfstand. Ich denke, wir steuern einer großen Katastrophe zu, wenn die EU weiterhin den Flankenschutz für die NATO spielt. Das unterminiert völlig jeden Anspruch, den wir erheben, eine unabhängige Entität zu sein oder ein anderes Wertesystem zu haben. Wir können uns nicht damit begnügen, ein Anhängsel der NATO, der kleine Bruder des großen Bruders zu sein.

SB: Selbst wenn die EU der große Bruder und die USA der kleine wären - ich erinnere an Erklärungen vor einigen Jahren, wonach die EU die führende wirtschaftliche Weltmacht werden sollte -, wäre das auch keine Verbesserung?

MLM. Keineswegs, ich stimme ihnen vollkommen zu. Manche Leute, selbst welche von links, vertreten den Standpunkt, daß einer der Vorteile einer integrierteren EU mit einer robusten Militärkapazität darin bestünde, daß man eine Gegenmacht zur Hypermacht USA bildete. Doch all das setzt voraus erstens, daß die Europäer dies vorhaben und zweitens, daß wir in der Tat eine eigenständige Agenda und eine eigenständige Herangehensweise haben. Persönlich glaube ich nicht, daß die europäische Führungselite den Mumm hat, ein Gegengewicht zu bilden. Ich denke, sie wollen einfach der Kotflügel Amerikas sein. Hinzu kommt, daß ich immer weniger davon überzeugt bin, daß wir wirklich eine andere, erkennbar europäische Herangehensweise darstellen. Das ist der Grund, warum die Neutralität für das irische Volk, was unser eigenes Selbstverständnis, unseren Platz in der Welt und unsere Außenpolitik betrifft, solch ein großes Thema ist und eine so wichtige Rolle in der Lissabon-Debatte gespielt hat. Es ging nicht um die Wehrpflicht in einer EU-Armee. Zu keinem Zeitpunkt. Die einzigen Leute, die das Thema Wehrpflicht aufbrachten, waren auf der Seite der Regierung - und das nur als Ablenkungsmanöver. Beim Thema Neutralität ging es darum, wer wir sind und ob wir uns einer zunehmend militarisierten EU anschließen wollen.

SB: Als die gälischsprachige Zeitung Lá Nua, die in Belfast angesiedelt war, vor Weihnachten den Betrieb einstellte, wurden Vorwürfe laut, daß Sinn Féin nicht genug getan hätte, um sie zu unterstützen. Wie sehen Sie die Chancen, daß Sinn Féin Druck auf Foras na Gaeilge [Behörde zur Förderung der gälischen Sprache] ausüben könnte, damit diese wieder eine landesweite gälischsprachige Tageszeitung subventioniert, selbst wenn diese nur noch im Internet erscheinen sollte?

MLM: Diese Kritik hat es gegeben, da haben Sie vollkommen recht. Und um allen gegenüber fair zu sein, möglicherweise war ein Teil der Kritik berechtigt. Fakt ist, daß die Zeitung geschlossen wurde, was für niemand gut ist und nicht das Ergebnis darstellt, das wir wollten. Was man aber verstehen muß ist, daß im Aufsichtsgremium einer Behörde wie Foras na Gaeilge Sinn Féin nicht das alleinige Sagen hat. Also hat man es mit einem ziemlichen politischen Tauziehen selbst bei einem Thema, das so eindeutig gelagert ist wie dieses, eines, das für mich sonnenklar ist, zu tun. Es gibt andere, die es sicherlich anders sehen. Bei diesem besonderen Thema weiß ich, daß sich Sinn-Féin-Präsident Gerry Adams sehr damit befaßt hat und der Frage nachgegangen ist, ob wir mehr hätten tun können. Auf jedem Fall müssen wir jetzt alles tun, nicht nur was diese Zeitung, sondern auch was die Umsetzung einer gesamtirischen Strategie für die gälische Sprache betrifft.

SB: Die Regierung hofft, demnächst den sogenannten Plan 2028 vorlegen zu können, nicht wahr?

MLM: Ja. Wir müssen dafür sorgen, daß er dem Zweck dient, denn, wie Sie wissen, hat es in bezug auf die gälische Sprache bisher verschiedene Teilansätze gegeben, von denen manche nur Symbolcharakter hatten, während andere zu autoritär ausgerichtet waren. Also wird es wichtig sein, den richtigen Ton zu treffen. Ein Stück von hier die Straße hoch gibt es eine tolle Gaeilscoil [Schule, in der alle Fächer durch Gälisch unterrichtet werden]. Meine Kleine geht dort zur Schule. Seit dreizehn Jahren müssen sie sich dort mit Fertighäusern begnügen, weshalb wir uns für den Bau eines richtigen Schulgebäudes stark machen.

SB: (ironisch) Sie sind offenbar Vertreterin einer kulturellen Elite. Sie wollen einfach nicht, daß Ihre Kinder eine Schule besuchen, in der sie mit Einwandererkindern in Kontakt kommen könnten...

MLM: (lacht) Kulturelle Elite? In Cabra? Hören Sie doch auf.

SB: (ironisch) Gerade in diesen Tagen wird das alles in der Pat-Kenny-Radiosendung bei RTÉ 1 genauestens erklärt...

MLM: Ich weiß. Das ist doch verrückt. Solche Vorwürfe sind haltlos. Zwar kann ich nicht für alle Eltern sprechen, die ihre Kinder auf eine Gaeilscoil schicken, doch für mich selbst und meinen Mann schon. Für uns war es wichtig, daß unsere Tochter Iseult und unser Sohn Gerard eine Gaeilscoil besuchen, und zwar auch zum Teil aus Gründen des sozialen Zusammenhalts. Dies hier ist ein Arbeiterviertel, und die Kinder in der Schule, nun, einige der Eltern kommen aus der Mittelschicht, die meisten aus der Arbeiterschicht und einige sind halt arbeitslos. Eine solche Mischung ist doch das, was man sich und seinen Kindern wünschen müßte. Das Hauptmotiv bei allen Eltern ist jedoch das Interesse an der Sprache und der Wunsch, ihre Kinder am Reichtum der Sprache und der Kultur teilhaben zu lassen.

SB: Also wird Sinn Féin jeglichen Druck, den sie aufbieten kann, einsetzen, damit es bald wieder eine gälischsprachige Tageszeitung gibt?

MLM: Da können Sie sicher sein.

SB: Vielen Dank, Frau McDonald, für das Gespräch.

Das General Post Office (GPO) in Dublins O'Connell Street - © 2009 by Schattenblick

Das General Post Office (GPO) in Dublins O'Connell Street, vor deren Säulen am Ostermontag 1916,
gleich nach der Besetzung des Gebäudes, Pádraig Pearse die irische Unabhängigkeitserklärung feierlich verlas
© 2009 by Schattenblick


Für die Übersetzung aus dem Englischen zeichnet der Schattenblick verantwortlich.

30. Januar 2009