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BERICHT/313: Newroz Hannover - Verteidigung Afrins ... (SB)


Millionen Menschen feiern am 21. März Newroz als Beginn des Neuen Jahres und des Frühlings. Das kurdische Volk begeht Newroz gemäß der Legende, nach welcher der Schmied Kawa den Tyrannen Dehaq besiegte und so jahrhundertelanger Unterdrückung ein Ende bereitete, als Fest des Friedens, der Freiheit und der Demokratie [1].


Im Zuge ihres völkerrechtswidrigen Angriffskriegs sind die türkischen Streitkräfte und dschihadistischen Söldner der "Freien Syrischen Armee" (FSA) in das Zentrum der Stadt Afrin eingerückt. Die türkische Armee hatte in den zurückliegenden Tagen ihre Luft- und Artillerieangriffe auf die belagerte Stadt verstärkt und dabei auch ein Krankenhaus getroffen, in dem mindestens 16 Menschen starben und zahlreiche weitere verletzt wurden. Nach Informationen der Nachrichtenagentur ANF wurden zudem bei einem Luftangriff auf einen Autokonvoi mit Flüchtlingen Hunderte Menschen getötet. Wie der Kovorsitzende des Kantonalrates von Afrin, Asman Scheik Isa, mitgeteilt hat, sei ein Großteil der Bevölkerung in die benachbarte Scheba-Region evakuiert worden. Die stellvertretende Vorsitzende der Hilfsorganisation Kurdischer Roter Halbmond, Cemile Heme, berichtete gegenüber dem ZDF von einem Massenexodus, dem sich fast alle rund 900.000 Einwohner des Kantons angeschlossen hätten. [2] Bis zu 200.000 Menschen sind in den vergangenen Tagen aus der Stadt Afrin in Richtung Süden geflohen, halten sich aber immer noch innerhalb der Provinzgrenzen auf. Zehntausende Menschen schlafen irgendwo entlang der Straßen, in Scheunen und unter Bäumen, berichteten Flüchtlinge. Es seien schreckliche Verhältnisse, und die Menschen befänden sich weiterhin in dem umkämpftem Gebiet. [3]


Fronttransparent zu Efrin - Foto: © 2018 by Schattenblick

Foto: © 2018 by Schattenblick

Die kurdischen Volks- und Frauenverteidigungskräfte YPG und YPJ hatten ihre Kampfstellungen verlassen, um weitere Opfer unter der Zivilbevölkerung und die Zerstörung der Stadt zu vermeiden. Sie sind eigenen Angaben zufolge jedoch nach wie vor in Afrin präsent und setzen den Widerstand gegen die Besatzer fort. Nach den Worten Othman Sheikh Issas sei die Schlacht noch nicht geschlagen. Kurdische Einheiten bekämpften den türkischen Feind und seine Söldner wo immer es gehe, bis ganz Afrin wieder befreit sei und die Familien in ihre Häuser zurückkehren könnten. [4]

Söldner der "Freien Syrischen Armee" zogen marodierend und plündernd durch die Straßen, raubten Wohnhäuser und Geschäfte aus und verluden ihre Kriegsbeute wie Kisten mit Lebensmitteln, Decken, Motorräder und sogar Ziegen auf ihre Pick-ups, mit Traktoren wurden Autos aus der Stadt hinausgeschleppt. [5] Cahit Basar von der Kurdischen Gemeinde in Deutschland berichtete im Gespräch mit dem Deutschlandfunk [6] von öffentlichen Hinrichtungen, Folterungen und anderen Drangsalierungen. Mit Planierraupen stürzten islamistische Kämpfer unter dem Ruf "Allah ist groß" die Statue des kurdischen Nationalhelden Kawa von ihrem Sockel, der in der 4.000 Jahre alten Newroz-Mythologie als Befreier von der Tyrannei gilt. Dieser gezielte Übergriff unterstreicht, daß die Angreifer die kurdische Bevölkerung töten oder vertreiben wie auch ihre Kultur und Geschichte auslöschen wollen. Was in Afrin geschieht, sobald es dauerhaft unter türkische Kontrolle fällt, ist aus anderen syrischen Orten bekannt, die von der Türkei besetzt wurden. In den Schulen unterrichten schwarz verschleierte Frauen türkische Kultur und Sprache, Ankara kontrolliert die lokale Verwaltung und Polizei.


Karikatur mit Trump und Putin am Lautsprecherwagen - Foto: © 2018 by Schattenblick

Auf dem Rücken der KurdInnen ...
Foto: © 2018 by Schattenblick

Besonders hart trifft es einmal mehr ezidische Menschen, die aufgrund ihrer Religion massiv vom IS verfolgt und massakriert wurden. Dem Schattenblick berichteten ezidische AktivistInnen in Hannover, daß ihre Glaubensgemeinschaft auch im nordirakischen Shingal nicht sicher leben könne. Dort sei es ähnlich gefährlich für sie wie in Afrin, wo 24 Dörfer mit ezidischer Bevölkerung unter anderem mit deutschen Waffen beschossen und bombardiert wurden. Es gebe keinen Strom, kein Telefon und kein Wasser mehr, niemand wisse, was aus den Menschen geworden ist. "Unser ezidischer Glaube wird mit NATO-Waffen zusammengeschossen", so eine Aktivistin, die die Frage, ob sie denn durch die Bundesrepublik unterstützt würden, verneinte. Auch im demokratischen Deutschland seien sie nicht sicher, sondern würden als Kurden und Eziden doppelt verfolgt.


Kurdische Demonstrantinnen auf dem Schützenplatz - Foto: © 2018 by Schattenblick

Foto: © 2018 by Schattenblick

Recep Tayyip Erdogan macht kein Geheimnis aus seinem Vorhaben: "Zuerst säubern wir Afrin, dann Manbidsch und die Gebiete östlich des Euphrats, bis zu unserer Grenze mit dem Irak." Er will die kurdischen Gebiete in der fast 800 Kilometer langen syrischen Grenzregion vollständig zerschlagen. Die Türkei plant nach eigenen Angaben, in der Region nichtkurdische Flüchtlinge anzusiedeln, die vor dem Bürgerkrieg aus Syrien geflohen waren. "Wir können nicht auf Dauer 3,5 Millionen Syrer behalten", erklärte Erdogan vergangene Woche. Allein in die Provinz Afrin sollen bis zu 500.000 arabische Muslime gebracht werden.

Die YPG/YPJ haben den IS erfolgreich bekämpft und im Kriegsland Syrien eine der wenigen sicheren Regionen geschaffen, in die zahlreiche Menschen keineswegs nur kurdischer Herkunft geflüchtet sind. In den nordsyrischen Kantonen wurde eine Selbstverwaltung aufgebaut, deren demokratische und säkulare Strukturen, in denen die Gleichberechtigung der Frauen von zentraler Bedeutung ist, ein gesellschaftliches Vorbild und Modell für diese Weltregion sein könnten. Der Haß der Dschihadisten und des türkischen Regimes, aber auch deren klammheimliche bis offene Unterstützung seitens der beteiligten Weltmächte zeugt von einer gemeinsamen Stoßrichtung, diesen emanzipatorischen und konföderalen Gesellschaftsentwurf auszurotten.


DIDF-Transparent 'Keine deutsche Hilfe für türkische Kriegspläne!' - Foto: © 2018 by Schattenblick

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Die Bundesrepublik spielt in diesem Zusammenhang eine besonders schändliche Rolle, da sie ihren historischen Verbindungen mit der Türkei allemal den Vorzug gegenüber den im Munde geführten Menschenrechten gibt. Die kurdische Bewegung wird mit deutschen Waffen bekämpft, im Schulterschluß der Geheimdienste ausspioniert, mit hiesigen Gesetzen, Verurteilungen und Inhaftierungen verfolgt.

Größte Sorge deutscher Regierungspolitik ist denn auch nicht das Schicksal der Kurdinnen und Kurden in Afrin, die sich gegen türkische Armee und dschihadistischen Banden verteidigen, sondern die Frage, ob sich Teile der kurdischen Gemeinschaft hier in Deutschland radikalisieren. So warnt der Parlamentarische Staatssekretär im Innenministerium Maier davor, sie könnten sich mit "linksextremistischen Gruppen" zusammentun. Vierhändig spielt es sich eben auf der Klaviatur des Terrorverdikts gleich doppelt so gut, wenn Erdogan die YPG/YPJ als "Terroristen" bezichtigt, die er vernichten werde, während sich die kurdische Bewegung hierzulande mit der Forderung konfrontiert sieht, der auf der deutschen Terrorliste geführten PKK abzuschwören und die radikale Linke zu meiden.


Transparent 'Von Hamburg bis nach Afrin gegen jede Kriminalisierung von Widerstand' - Foto: © 2018 by Schattenblick

Foto: © 2018 by Schattenblick


Die kurdische Freiheitsbewegung von Verboten umstellt

Am Samstag waren in Hannover rund 20.000 Kurdinnen und Kurden sowie deutsche und türkische Linke zusammengekommen, um das Neujahrsfest (Newroz) zu feiern und ein Zeichen gegen den Angriff auf Afrin zu setzen. Eisige Temperaturen und ein schneidend kalter Wind hielten die Menschen nicht davon ab, sich an zwei Demonstrationszügen durch die Innenstadt zu beteiligen und im Anschluß daran mehrere Stunden lang auf dem zentralen Opernplatz vor der großen Bühne auszuharren, auf der unablässig Redebeiträge und Musikdarbietungen wechselten. Auch das behördlicherseits erlassene Verbot, Speisen und Getränke anzubieten, konnte das Engagement der Menschenmenge nicht mindern, mit immer wieder aufbrandenden Sprechchören und einem rot-gelb-grünen Fahnenmeer buchstäblich Flagge zu zeigen.


Menschenmenge in zwei Richtungen - Fotos: © 2018 by Schattenblick Menschenmenge in zwei Richtungen - Fotos: © 2018 by Schattenblick

Erster Stopp am Landeskriminalamt kurz nach Beginn der Demo
Fotos: © 2018 by Schattenblick


Demozug und Verwaltungsgebäude - Foto: © 2018 by Schattenblick

Demo vor Landesinnenministerium
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Wie sehr die Maßregelung politischer Gruppen inzwischen Sache der Polizei ist, zeigte sich beim Demonstrationszug, der sich am Schützenplatz formierte. Zwar war die Verbotsverfügung des Bundesinnenministeriums, die auch die Fahnen mit den Symbolen der kurdischen, im Kanton und der Stadt Afrin kämpfenden Selbstverteidigungskräfte YPG und YPJ betrifft, anläßlich der Demonstration aufgehoben worden. Zugleich durften aber weder Bilder von Abdullah Öcalan noch von den im Januar 2013 von einem türkischen Geheimagenten in Paris ermordeten Aktivistinnen Sakine Cansiz, Fidan Dogan und Leyla Saylemez gezeigt werden. Dementsprechend wurden Parolen mit Bezug zu diesen Personen oder zur verbotenen PKK zum Anlaß genommen, den Demonstrationszug zu stoppen und solange warten zu lassen, bis die Demoleitung die entsprechenden Zensurforderungen durchgesetzt hatte. Dabei wurde stets gedroht, bei Nichtbefolgung der Auflagen auch das Verbot der YPG- und YPJ-Fahnen zu reaktivieren.

Demozug und Bankenturm - Fotos: © 2018 by Schattenblick Demozug und Bankenturm - Fotos: © 2018 by Schattenblick Demozug und Bankenturm - Fotos: © 2018 by Schattenblick

Vorbei am Neuen Rathaus vorwärts in Richtung NORD/LB
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Drei Transparente - Fotos: © 2018 by Schattenblick Drei Transparente - Fotos: © 2018 by Schattenblick Drei Transparente - Fotos: © 2018 by Schattenblick

Solidaritätsgrüße türkischer KommunistInnen
Fotos: © 2018 by Schattenblick


Wasserwerfer und Polizeiketten - Fotos: © 2018 by Schattenblick Wasserwerfer und Polizeiketten - Fotos: © 2018 by Schattenblick Wasserwerfer und Polizeiketten - Fotos: © 2018 by Schattenblick

Demostopp am Aegidientorplatz
Fotos: © 2018 by Schattenblick

Diese Auflagen führten dazu, daß der Demonstrationszug zweimal für längere Zeit gestoppt wurde, was angesichts der bitteren Kälte und des Zornes der Menschen über die türkische Aggression in Afrin eine besondere Belastungsprobe darstellte. Zweifellos war es für die OrdnerInnen der Dachorganisation NAV-DEM schwierig, insbesondere die Jugendlichen, denen auf deutschem Boden das Diktat der Kurdenfeindlichkeit Erdogans aufgedrückt wurde, daran zu hindern, mit den verbotenen Fahnen und Parolen Anlaß für Polizeiinterventionen zu geben. Am Aegidientorplatz, wo die Demo, von der keinerlei Gewalttätigkeiten ausgingen, fast eine Stunde lang aufgehalten wurde, fuhren denn auch drei Wasserwerfer auf und richteten ihre Wasserkanonen drohend auf die von mehreren Ketten Polizei aufgehaltene Menschenmenge. Im Hintergrund formierten sich weitere Zugriffskräfte, so daß niemand wissen konnte, ob die Demo nicht plötzlich von allen Seiten angegriffen würde. Man kann sich vorstellen, was ein Wasserwerfereinsatz bei Minusgraden und eiskaltem Wind bedeutet hätte. Da die Polizei stets auf offensive Weise Druck machte, ist es der Besonnenheit der DemonstrantInnen zu verdanken, daß es dazu nicht kam.


Polizei vor Oper, Demo mit Pyrotechnik - Fotos: © 2018 by Schattenblick Polizei vor Oper, Demo mit Pyrotechnik - Fotos: © 2018 by Schattenblick

Düsterer Empfang für farbenfrohe Demo am Opernplatz
Fotos: © 2018 by Schattenblick

Auf dem rundum von Polizeiwagen umstellten Opernplatz, wo das eigentliche Newroz-Fest stattfinden sollte, sofern den Menschen in Anbetracht der bedrängten Lage ihrer Freunde und Verwandten in Afrin überhaupt zum Feiern zumute war, setzte sich diese Symbole und Parolen kriminalisierende Form der Repression fort. Mehrmals mußten die VeranstalterInnen die Menschen auffordern, Öcalan-Bilder wieder herunterzunehmen. Ein Angriff der Polizei auf ein von zahlreichen Familien mit Kindern besuchtes Fest und eine dichtgedrängte Menge von rund 20.000 Menschen, die keine Flucht- und Ausweichmöglichkeiten gehabt hätten, wäre für viele lebensgefährlich gewesen. Zwar folgten die Menschen dem wiederholten Auruf des Versammlungsleiters, eine Eskalation mit unabsehbaren Folgen zu vermeiden, doch werden sie sich dabei nicht viel anders als in der Türkei gefühlt haben.

Sollte es Polizei und Verwaltung der niedersächsischen Landeshauptstadt darum gegangen sein, den Ball der kurdischen Frage flach zu halten, so schossen die Behörden mit ihren Versuchen, das zentrale Newrozfest zu verbieten, zu behindern oder auszulagern, gewissermaßen ein Eigentor. Im Zuge des zähen Ringens zwischen den OrganisatorInnen und ihrem amtlichen Gegenpart wechselten die Veranstaltungsorte und zeitlichen Abläufe mehrfach, was in Nachrichtensendungen und Verkehrsmeldungen zur Information der motorisiert anreisenden und konsumfreudigen Bevölkerung ständig aktualisiert wurde. Wer bis dahin noch nichts von der Newroz-Kundgebung gehört haben mochte, wurde nun sozusagen mit der Nase darauf gestoßen, daß diese im Innenstadtbereich stattfand, weshalb mit Behinderungen zu rechnen sei.

Im Umgang mit polizeilicher Drangsalierung erfahren, wußten sich die zum Newrozfest zusammengekommenen Menschen mit teils unkonventionellen Manövern zu helfen, die auf uniformierter Seite phasenweise Verwirrung zu stiften schienen. So machte sich überraschend eine größere Menschenmenge vom Opernplatz auf, um entlang der angrenzenden Einkaufstraße dem Demonstrationszug entgegenzugehen, der zwischenzeitlich wegen Mitführens verbotener Symbole aufgehalten worden war. Trupps von Polizisten eilten im Lauf- und Gleichschritt hin und her, um ein geschlossenes Vorgehen zu simulieren, das längst abhanden gekommen, aber auch gar nicht erforderlich war. Die beiden Züge trafen zusammen, begrüßten einander freudig und verschmolzen, worauf es auf der genehmigten Route weiterging.


Plakat mit Erdogan, der eine Friedenstaube verschlingt - Foto: © 2018 by Schattenblick

Foto: © 2018 by Schattenblick


Bühne mit Chor - Foto: © 2018 by Schattenblick

Newroz auf dem Opernplatz
Foto: © 2018 by Schattenblick


Solidarität aus sozialdemokratischem Munde

Als alle wieder auf dem Opernplatz eingetroffen waren und sich vor der großen Bühne versammelten, lösten Redebeiträge die musikalischen Darbietungen ab, die bis dahin die rasch wachsende Menschenmenge unterhalten hatten. Die ehemalige niedersächsische Landesministerin Heidi Merk begrüßte die Kurdinnen und Kurden, für deren freie Betätigung in Deutschland sie sich einsetze. Sie hätten gegen den IS auch für unsere Freiheit gekämpft und würden nun von der Türkei abermals unter Druck gesetzt. Dazu dürfe Europa nicht länger schweigen, die deutschen Waffenlieferungen müßten eingestellt werden. Sie schäme sich dafür, daß ein ehemaliger deutscher Außenminister die Kurdinnen und Kurden bis zuletzt verschachert habe.


Auf der Bühne - Foto: © 2018 by Schattenblick

Herbert Schmalstieg und Heidi Merk solidarisch
Foto: © 2018 by Schattenblick

Der frühere langjährige Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg bezeichnete Hannover als eine Stadt der Toleranz und des Friedens, in deren Zentrum selbstverständlich das Newroz-Fest gefeiert werden dürfe. Er brachte Grüße der Kurdischen Gemeinde Deutschlands, deren Beiratsprecher er ist. Er habe nicht verstanden, daß die Polizei dieses Fest verboten hat. Aber er sei stolz darauf, daß es in Deutschland Gerichte gibt, die frei und unabhängig entscheiden und die Kundgebung genehmigt haben: "Das ist anders in der Türkei. Dort sind die Gerichte gleichgeschaltet, dort hat nur einer etwas zu sagen, der das Land auf den Weg in die Diktatur geführt hat. Erdogan bestimmt dort alles, und wer nicht seiner Meinung ist, wird entlassen oder kommt ins Gefängnis." Er fordere die Freilassung aller politischen Gefangenen in der Türkei, darunter auch die seines Freundes Selahattin Demirtas und seiner Kollegin Gültan Kisanak. Die Weltgemeinschaft dürfe nicht länger zusehen, wie ein NATO-Staat einen völkerrechtswidrigen Überfall auf Syrien unternimmt und die Menschen in Afrin vernichtet. Was hat die Türkei noch in der NATO zu suchen? Sie dürfe angesichts dieser Situation auch nicht Mitglied der EU werden. Schmalstieg schloß seinen Beitrag mit der Forderung nach einem uneingeschränkten Selbstbestimmungsrecht der Kurdinnen und Kurden.


Performance vor der Bühne - Fotos: © 2018 by Schattenblick Performance vor der Bühne - Fotos: © 2018 by Schattenblick

Totenklage symbolisch
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Performance vor der Bühne - Foto: © 2018 by Schattenblick

Anklage gegen Erdogan
Foto: © 2018 by Schattenblick


"Erdogan Terrorist!" - Linkspartei bezieht Position

Was unter Sozialdemokraten offenbar nur einer älteren Generation eine Herzensangelegenheit ist, scheint für die Linkspartei uneingeschränkt zu gelten. So wurde eine Grußbotschaft der Hamburger Linken verlesen, die der Bundeskanzlerin vorwirft, ihre schützende Hand über Erdogan zu halten: "Schluß mit dem völkerrechtswidrigen Krieg! Schluß mit der Herrschaft Erdogans! Es lebe Afrin, es lebe Kurdistan, Frieden auf der Welt!" Auch Anja Stoeck, Landesvorsitzende der Linken in Niedersachsen, entbrachte auf der Bühne herzliche und solidarische Grüße.


Bernd Riexinger und andere auf Bühne - Foto: © 2018 by Schattenblick

Linkspartei solidarisch
Foto: © 2018 by Schattenblick

Wie der Ko-Vorsitzende auf Bundesebene Bernd Riexinger versicherte, stehe seine Partei fest an der Seite des kurdischen Volkes. Der völkerrechtswidrige Einmarsch Erdogans in Syrien, in Afrin müsse sofort gestoppt werden. Riexingers Rede war besonders häufig von Sprechchören "Erdogan Terrorist!" aus der Menschenmenge begleitet, dem kurzgefaßten Leitmotiv des Tages. Erdogan sei ein Diktator, der unschuldige Menschen töte, unterstrich auch der Parteichef der Linken. Vor gut eineinhalb Jahren habe ihm Selahattin Demirtas in Köln gesagt: "Bernd, wenn du das nächste Mal in die Türkei kommst, mußt du mich im Gefängnis besuchen." Jetzt sitzt er seit über 15 Monaten im Gefängnis! Die politischen Gefangenen in der Türkei müssen freigelassen werden! In Afrin herrsche Demokratie, dort seien die Frauen gleichberechtigt. In der Türkei werden die Menschen ins Gefängnis geworfen, wenn sie eine abweichende Meinung äußern. Die Bundesregierung dürfe diesem undemokratischen Gebaren nicht länger zuschauen: "In Afrin werden Menschen mit deutschen Waffen getötet, Panzer aus Deutschland werden von der türkischen Armee benutzt, um auf Kinder, auf Frauen, ältere Menschen zu schießen. Raus aus Kurdistan! Die Türkei ist Mitglied der NATO. Solche Gestalten wie Erdogan müssen aus der NATO rausgeworfen werden - wir würden auch gern rausgehen."

Er habe überhaupt kein Verständnis dafür, daß Menschen in Deutschland nicht demonstrieren dürfen, daß PKK-Fahnen verboten werden. Der schmutzige Deal mit Erdogan müsse beendet werden. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung lehne den Einmarsch in Afrin ab. Sie sei dagegen, daß dort Menschen umgebracht werden, daß Kinder getötet werden, daß bombardiert wird, daß die Wasserversorgung abgestellt wird, daß Terror herrscht. "Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, die Zusammenarbeit mit Erdogan zu beenden. Keine Waffen mehr in die Türkei! Das PKK-Verbot muß aufgehoben werden! Alle politischen Gefangenen müssen freigelassen werden!"


Auf der Bühne - Foto: © 2018 by Schattenblick

Leyla Imret, Bürgermeisterin im Exil
Foto: © 2018 by Schattenblick


Künstler ergreifen Partei

Diether Dehm, musikalisch begleitet von Michael Lenz, trug das bekannte Partisanenlied "Bella Ciao" in deutscher Version vor und widmete es allen eingekerkerten Antifaschisten, vor allen Dingen Abdullah Öcalan. Hätte er dessen Bild, würde er es hier hinstellen und die Polizei bitten, dies als künstlerischen Beitrag für alle inhaftierten Antifaschisten, Gewerkschafter, Künstlerinnen und Künstler, Journalisten zu akzeptieren. Daraufhin nahm ihn eine Kurdin beim Wort und reichte ihm ein Bild Öcalans hoch auf die Bühne. Nun konnte Dehm nicht umhin, zu seiner Ansage zu stehen: Er könne der Staatsanwaltschaft und Polizei sagen, daß seine Immunität als Bundestagsabgeordneter schon zweimal wegen eines solchen Bildes aufgehoben worden sei. Das hindere ihn nicht daran, es hier abermals hochzuhalten.

Dies sollte nicht folgenlos bleiben, wurde Dehm doch nach Verlassen der Bühne von der Polizei mit dem Vorwurf konfrontiert, eine Straftat begangen zu haben. Da eine Festnahme zu drohen schien, kam es zu einem Auflauf am Rande des Backstage-Bereichs. Die Turbulenzen endeten damit, daß eine Strafanzeige ausgesprochen wurde.


Am Mikro mit Öcalan-Fahne - Foto: © 2018 by Schattenblick

Dieter Dehm mit der Fahne des Anstoßes
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Zuvor hatte Dehm noch eingedenk der 75-Jahr-Feier zu Stalingrad daran erinnert, daß deutsche Waffen in aller Welt gemordet haben. Es sei in seinem Leben ein Imperativ, daß in deutschem Namen und mit Finanzierung deutscher Großkapitalisten 27 Millionen Sowjetmenschen umgebracht worden sind. Dessen solle man gedenken, wenn Russen-Bashing erneut auf die Tagesordnung gesetzt werde. Er habe sich als Deutscher vor diesen 27 Millionen Menschen zu verneigen, die in deutschem Namen ermordet worden sind.

Von Konstantin Wecker, der an der Teilnahme gehindert war, wurde ein Grußwort an die "Mitstreitenden für den Frieden" eingespielt. Ihn mache unglaublich wütend zu verfolgen, wie die türkische Armee in Afrin aufrichtige Menschen hinmetzele. Erdogan delegitimiere seine Kritiker als "Terroristen", wo er doch nur in den Spiegel zu schauen brauche, um einen echten Terroristen zu erblicken. Wie Wecker unterstrich, glaube er nicht an Kriege im Namen von mehr Menschlichkeit. Wie der Krieg gegen den Irak nur noch größeres Elend über die Bevölkerung gebracht habe, befürworte er auch keine Invasion der Kriegsherren der sogenannten freien Welt in Syrien.

Man müsse sich aber im klaren darüber werden, mit wem man sich solidarisiere. Angesichts der unübersichtlichen Lage in Syrien mit seinen vielen Kriegsparteien sei man versucht wegzuschauen und die Menschen ihrem Schicksal zu überlassen: "Unsere Sympathie darf nicht automatisch Muslimen oder Christen, Ost oder West, Regierung oder Opposition gelten. Vielmehr müssen wir in unserem Herzen immer bei den Opfern jeglicher Couleur sein, den Unterdrückten, den Gedemütigten und Hingemetzelten." Die Kurden seien in der Türkei Verfolgte, und Erdogan, der Totengräber der türkischen Restdemokratie, habe ihre Lage noch verschärft. Aus einem Machtkalkül heraus verfolge und ermorde er sie über die Grenzen seines Landes hinaus. "Dabei müßte allen Beteiligten, ob im Kanzleramt oder im Kreml, ob im Weißen Haus oder in der syrischen Regierung, klar sein, die tapferen Kurdinnen und Kurden ein fester Bestandteil einer friedlichen Lösung im Nahen Osten sind. Sie sind eine Hoffnung für Demokratie, Gewerkschaftsrechte, Künstlerrechte und Frauenrechte." Deswegen sollten ihnen in Deutschland nicht noch zusätzlich Steine in den Weg gelegt werden. Man dürfe sich der Propagandalogik des Diktators am Bosporus nicht anschließen: "Die PKK muß runter von der deutschen Terrorliste, und es darf nie wieder Waffenlieferungen an Terroristen wie Erdogan geben. Ich bin im Herzen bei euch!"

Kamen Konstantin Weckers solidarische Worte sicher nicht unverhofft, so erstaunte denn doch, daß auch Dieter Hallervorden eine ebenfalls eingespielte Grußadresse entbot. Er stehe voll und ganz zu den Kurdinnen und Kurden, die Rojava vor den Islamisten geschützt haben und deren Kämpfer jetzt in Afrin von der türkischen Soldateska hingemordet werden. Er stehe zu all denen, die in Deutschland gegen diesen Aggressor Erdogan demonstrieren: "Ich hoffe, daß Erdogan so alt wird, daß er für seine verbrecherische Politik vor einem internationalen Gerichtshof zur Rechenschaft gezogen werden kann. Kurz gesagt, ich, Dieter Hallervorden, bin mit euch solidarisch. Es lebe die PKK!"


Rote Fahnen und Übertragungsleinwand - Foto: © 2018 by Schattenblick

Foto: © 2018 by Schattenblick


Medizinische Katastrophe im Bürgerkriegsland

Der Arzt Prof. Dr. Gerhard Trabert (Armut und Gesundheit in Deutschland e.V.) berichtete aus den Städten Tabka, Manbidsch und Rakka, die er vor kurzem bereist hatte. Überall seien die Krankenhäuser verwüstet, die Innenausstattungen komplett zerstört. Das internationale Embargo verhindere, daß die dringend benötigten Hilfslieferungen in diese Region gebracht werden. Untersuchungen zufolge seien seit Ausbruch des Bürgerkrieges 300.000 Zivilisten mangels Medikamenten gestorben. Dieser stille Tod der Menschen in Syrien werde von der hiesigen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Der Angriff der türkischen Armee am 20. Januar diesen Jahres in der Afrin-Region sei ein völkerrechtswidriger Akt. Millionen von Menschen würden kriminalisiert und als Terroristen diffamiert. Dies sei ein Kriegsverbrechen Erdogans, so Trabert.


Auf der Bühne - Foto: © 2018 by Schattenblick

Gerhard Trabert
Foto: © 2018 by Schattenblick

Er habe in Rakka mit einem kurdischen Arzt gesprochen, der in Gefangenschaft des IS mit seinem Smartphone ein Bild von einem IS-Kämpfer und seinem Kollegen machen mußte. Unmittelbar danach wurde der Kollege von diesem IS-Kämpfer getötet, worauf der Arzt abermals ein Bild anfertigen mußte. "Diese Menschen werden von Erdogan als Terroristen diffamiert. Dabei haben sie so sehr unter diesem Terrorismus gelitten." Es sei eine Lüge, wenn die Türkei behaupte, sie nehme Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Vielmehr würden gezielt Zivilisten getötet und die Infrastruktur, die Wasserversorgung, die Stromversorgung zerstört. Das alles sei dokumentiert, werde aber von den deutschen Medien weithin ausgeblendet. Es gelte indessen zwischen der Türkei und Erdogan zu differenzieren: "Auch in der Türkei haben viele Ärzte gegen dieses Kriegsverbrechen protestiert. Sie wurden kriminalisiert und ins Gefängnis gesteckt. Die Menschen, die dort leben, benötigen unsere Hilfe und Solidarität." Die Bundesregierung müsse endlich die Erdogan-Administration für dieses Kriegsverbrechen anklagen, die Waffenexporte einstellen und eine Rückkehr zur Demokratie und Wahrung der Menschenrechte einfordern.


MLPD auf der Bühne - Foto: © 2018 by Schattenblick

Foto: © 2018 by Schattenblick


Internationalismus contra Imperialismus

Daß die Kurdinnen und Kurden nicht allein stehen, bekräftigte auch eine Delegation der MLPD. Die revolutionäre Weltorganisation ICOR habe dazu aufgerufen, an diesem 21. März zum Newroz-Fest einen weltweiten Aktions- und Kampftag zu Afrin durchzuführen. In der ICOR seien 50 Parteien aus 40 Ländern vertreten. An diesem Tag seien alle revolutionären, alle fortschrittlichen Menschen aufgerufen, den kurdischen Befreiungskampf zu stärken und in den internationalistischen Kampf gegen den Imperialismus einzubinden: "Es lebe unser gemeinsamer Kampf für Frieden, Freiheit, Sozialismus!"

Kämpferische Grüße überbrachte auch eine anwesende Genossin, die bei Volkswagen in Hannover arbeitet und 2015 als Brigadistin am Aufbau des Gesundheitszentrums in Kobane beteiligt war [7]. Sie habe beim Überfall des IS miterlebt, was Terrorismus und Faschismus ist. Sie habe aber auch gesehen, wie die YPG und YPJ für Frieden, Freiheit und Demokratie kämpfen. Was dort aufgebaut wird, sei das Selbstbestimmungsrecht der Völker: "Wir Arbeiter haben kein Vaterland. Deswegen müssen wir alle gemeinsam solidarisch mit jedem Kampf um Freiheit und Demokratie sein. Hoch die internationale Solidarität!"


Musiker - Foto: © 2018 by Schattenblick

Foto: © 2018 by Schattenblick


Musiker - Foto: © 2018 by Schattenblick

Foto: © 2018 by Schattenblick


Foto: © 2018 by Schattenblick

Foto: © 2018 by Schattenblick


Musiker - Foto: © 2018 by Schattenblick

Foto: © 2018 by Schattenblick


Zum Bilder- das Bücherverbot

Eine Aktivistin erinnerte auf der Bühne daran, daß nur wenige Tage zuvor der Mezopotamien-Verlag in Neuss zum Ziel einer sich über mehrere Tage erstreckenden Durchsuchungs- und Beschlagnahmeaktion geworden war. Ganze sieben Lastwagenladungen mit Büchern und Tonträgern wurden von der Polizei konfisziert. Das freie Wort nicht nur eines Abdullah Öcalan, der mit dem demokratischen Konföderalismus das glatte Gegenteil dessen vorgeschlagen hat, was dem Verlag als Verstoß gegen den Gedanken der Völkerverständigung angelastet wird, sondern auch international bekannter Autoren wie Yasar Kemal, Orhan Pamuk, Nazim Hikmet, Leo Tolstoi oder Victor Hugo fielen dieses Mal zwar nicht den Flammen zum Opfer, werden aber doch der Lektüre durch Menschen vorenthalten, die über den Tellerrand bloßen Konsums und ohnmächtiger Beherrschbarkeit hinausschauen wollen.

Bezeichnenderweise wurde die Beschlagnahmung vom Verwaltungsgericht Düsseldorf kurz nach dem Deutschlandbesuch des türkischen Außenministers Mevlüt Cavusoglu angeordnet [8]. Daß kurdische Literatur in seinem Land beschlagnahmt wird, kann in Anbetracht eines Regimes, das seine BürgerInnen schon in den Knast wirft, wenn sie nur laut ein Wort der Kritik an dem völkerrechtswidrigen Überfall auf Syrien äußern, nicht erstaunen. Daß man in der kulturbeflissenen Bundesrepublik, wo die Verhaftung eines deutschen Journalisten in der Türkei monatelang auf allen Kanälen als schwerer Angriff auf Presse- und Meinungsfreiheit gewertet wurde, einen ganzen Verlag im Zeichen der Terrorismusbekämpfung leerräumt, scheint die Feuilletonisten und Großdenker der Republik nicht weiter zu interessieren. Die sich mit dem Mezopotamien-Verlag solidarisch erklärenden AutorInnen, Buchläden und Verlage [9] stehen allesamt unter Linksverdacht, bekannte Namen aus dem Bereich der bürgerlichen Publizistik und Presse sucht man dort vergebens.


Lila Fahne - Foto: © 2018 by Schattenblick

Frauenbefreiung trotz allem
Foto: © 2018 by Schattenblick


Ein Zeichen gegen den Ausnahmezustand

Beim Newroz-Fest in Hannover ahnten die Menschen noch nicht, daß die türkischen Invasoren und ihre dschihadistischen Söldner tags darauf das Zentrum der Stadt Afrin besetzen und ihr Schreckensregime errichten würden. Um so bedeutsamer war die Zusammenkunft auf dem Opernplatz, setzte sie doch ein Zeichen übergreifender Solidarität mit den Kurdinnen und Kurden, wo immer sie verfolgt und drangsaliert werden. Insbesondere muß auch deutscher Regierungspolitik und Polizeiwillkür Einhalt geboten werden, ist doch die repressive Formierung der Gesellschaft im Ausnahmezustand beileibe kein Alleinstellungsmerkmal des Erdogan-Regimes in der Türkei.


Fußnoten:


[1] https://isku.blackblogs.org/4012/newroz-2017-nein-zur-diktatur-ja-zu-demokratie-und-freiheit/

[2] www.jungewelt.de/artikel/329207.widerstand-geht-weiter.html

[3] www.welt.de/print/die_welt/politik/article174687299/Afrin-ist-gefallen-der-Krieg-geht-weiter.html

[4] www.tagesschau.de/ausland/afrin-pluenderung-103.html

[5] www.spiegel.de/politik/ausland/afrin-tuerkische-einheiten-und-verbuendete-zerstoeren-kurdische-symbole-a-1198695.html

[6] www.deutschlandfunk.de/krieg-in-syrien-die-kurden-fuehlen-sich-im-stich-gelassen.694.de.html?

[7] http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0119.html

[8] https://www.jungewelt.de/artikel/328894.kurdische-verbände-kriminalisiert.html

[9] https://anfdeutsch.com/pressefreiheit/solidaritaet-mit-dem-mezopotamien-verlag-3077


20. März 2018


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