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NAHOST/1607: Syrien - Handel mit dem Feind ... (SB)


Syrien - Handel mit dem Feinde ...


Ende Juli, nach zwei Monaten schwerer Kämpfe, hat die Syrische Arabische Armee (SAA) mit russischer Luftunterstützung die Gouvernements Deraa und Quneitra wieder unter ihre Kontrolle gebracht. Das heißt, daß der Syrienkrieg, der im Frühjahr 2011 mit Protesten gegen die Regierung in Deraa begann und bisher rund 350.000 Menschen das Leben gekostet hat, im Südwesten des Landes, an der Grenze zu Israel und Jordanien, endlich vorbei ist. Den Plänen von Präsident Baschir Al Assad, Syrien vollständig von "Terrorismus" und ausländischer Besetzung zu befreien, stehen nun nur noch drei Hindernisse im Weg: die türkische Militärpräsenz in Afrin und Manbidsch im Norden, der Umstand, daß mit Hilfe der USA die östlichen Gouvernements Rakka, Al-Hasaka und Deir ez-Zor weitgehend von den von den Kurden dominierten Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) beherrscht werden, sowie der amerikanische Stützpunkt bei Al Tanf, von dem aus die USA das Grenzdreieck Irak-Jordanien-Syrien einschließlich der wichtigsten Straßenverbindung zwischen Damaskus und Bagdad kontrollieren.

Für den Erfolg der Offensive in Deraa und Quneitra waren geheime Abmachungen Rußlands, der Schutzmacht Syriens, mit den USA und Israel entscheidend. Der russische Präsident Wladimir Putin hat Israels Premierminister Benjamin Netanjahu Sicherheitsgarantien gegeben. Sie beinhalten, daß einzig die 61. und 90. SAA-Brigade entlang der Pufferzone zu dem von Israel besetzten Teil der Golanhöhen stationiert werden, daß die Waffenstillstandsvereinbarung von 1974 erneut gilt, daß vor Ort russische Militärpolizisten für deren Einhaltung sorgen und daß sich keine iranischen Militärs oder Hisb-Allah-Milizionäre in der Grenzregion bewegen oder niederlassen dürfen. Im Gegenzug haben im Juni CIA und Pentagon die Rebellen im syrischen Südwesten informiert, daß sie auf sich allein gestellt seien. Lediglich rund 400 Mitglieder der White Helmets, jener vom britischen Außenministerium gegründeten zivilen Schutztruppe, deren Hauptaufgabe gewesen ist, die BBC mit Propagandvideos über syrische und russische "Greueltaten" zu versorgen, durften sich über die Golanhöhen nach Israel retten. Von dort sollen sie samt ihren Familien demnächst auf die USA, Großbritannien, Deutschland und Kanada verteilt werden.

Die restlichen Aufständischen in Deraa und Quneitra durften zwischen zwei Möglichkeiten wählen: entweder sich zu ergeben und sich auf das Amnestieangebot der Regierung in Damaskus einzulassen - das für Personen, denen schwere Kriegsverbrechen nachgewiesen werden können, natürlich nicht gilt - oder freies Geleit nach Idlib zu bekommen. Die Mehrzahl der Eingeschlossenen hat sich für ersteres entschieden. Mehrere hundert Kämpfer wurden jedoch mit Frauen und Kindern in Bussen in die nordwestliche Provinz transportiert. Dort sieht die Lage katastrophal aus. In Idlib befinden sich nach Angaben von Jan Egeland, dem norwegischen Koordinator der humanitären Hilfsmission der Vereinten Nationen in Syrien, mehr als zwei Millionen Menschen, darunter rund eine Million Binnenflüchtlinge. Die Zahl der Dschihadisten in Idlib wird auf rund 40.000 geschätzt. Die meisten von ihnen, rund 60 Prozent, kämpfen unter der Fahne von Hayat Tahrir Al Scham (HTS), der Nachfolgerorganisation des Al-Kaida-Ablegers Al-Nusra-Front.

Nun stehen Putin und Assad vor der schwierigen Aufgabe, Idlib zu befreien, ohne dort ein gigantisches Blutbad anzurichten. Am 8. August hat die syrische Luftwaffe über dem Gouvernement Flugblätter mit der Aufforderung an die Rebellen abgeworfen, sich auf die Versöhnungsabmachungen, die in anderen Landesteilen funktioniert haben, einzulassen, sowie mit dem Versprechen an die Zivilbevölkerung, daß die "Herrschaft der Terroristen" bald vorbei sei. Vom Süden und Osten her bringt die SAA größere Mengen Kriegsgerät in Stellung und hat bereits mit ersten Artilleriebombardements begonnen. Gegen eine großangelegte Militäroffensive hat sich jedoch Ankara ausgesprochen und mit dem Ausscheren der Türkei aus den gemeinsamen Friedensbemühungen mit Rußland und dem Iran - dem sogenannten "Astana-Sotschi-Prozeß" - gedroht. Hinter den Kulissen bemüht sich die Türkei um eine Evakuierung der fluchtwilligen ausländischen Dschihadisten. Sie sollen entweder in ihre Heimat zurückkehren oder, soweit sie aus den USA, der EU, Rußland oder China kommen, entweder in der Türkei oder in einem der arabischen Staaten am Persischen Golf, die seit 2011 den "heiligen Krieg" gegen Assad mit Waffen und Geld unterstützen, Asyl erhalten.

Vor allem für die Zivilisten in Idlib wäre eine solche Regelung ein großer Segen. Ob es jedoch dazu kommt, ist eine andere Frage. Aktuell führt die Zentralregierung in Damaskus Verhandlungen mit den Kurden im Nordosten über eine Wiedereingliederung von Rakka, Al-Hasaka und Deir ez-Zor in den syrischen Staat im Rahmen einer sehr weitreichenden Autonomie. Im Gegenzug verlangen die Kurden, daß die SAA ihnen hilft, die türkische Armee aus Afrin und Manbidsch zu vertreiben. Dieser Wunsch dürfte unerfüllt bleiben. Syrien ist gerade dabei, einen schweren Krieg zu beenden und hat kein Interesse daran, einen neuen mit der Türkei anzuzetteln. Damaskus wird sich wohl irgendeine kreative Lösung einfallen lassen müssen, welche die Interessen der Türkei berücksichtigt und gleichzeitig den Autonomiewünschen der syrischen Kurden gerecht wird.

Die große Unbekannte in der aktuellen Konstellation ist der Kurs der USA in der Syrien-Politik. Ginge es nach Präsident Donald Trump, wären die US-Streitkräfte längst abgezogen worden. CIA und Pentagon wollen dagegen in der Region weiterhin "mitspielen" und sträuben sich dagegen, ihre Positionen in Al Tanf sowie im kurdischen Nordosten zu räumen. Innerhalb der außenpolitischen Elite der USA gibt es Stimmen, die fordern, Washington solle sich mit einem großen Stützpunkt bei Erbil im irakischen Kurdistan begnügen. Jedenfalls scheint sich die Zusammenarbeit zwischen den syrischen Kurden und den Amerikanern ihrem Ende zuzuneigen. Die Kurden sind angesichts des Vorrangs verärgert, den Washington den Interessen der Türkei in Syrien bislang einräumt. Doch das könnte sich wiederum schnell ändern, wie der sich rapide zuspitzende Streit zwischen Trump und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan über den Fall des in der Türkei wegen Spionageverdachts verhafteten amerikanischen Pastors Andrew Brunson zeigt.

11. August 2018


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