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NAHOST/1565: Politische Turbulenzen in Riad kündigen Chaos an (SB)


Politische Turbulenzen in Riad kündigen Chaos an

Führt Mohammed bin Salman Saudi-Arabien in einen Krieg gegen den Iran?


Das Wochenende am 4. und 5. November 2017 wird in Saudi-Arabien als die "Nacht der langen Messer" in die Geschichtsbücher eingehen. In diesen Stunden hat Kronprinz Mohammed bin Salman, auch MbS genannt, nicht nur die letzten Rivalen, die seinem Aufstieg zum saudischen Alleinherrscher irgendwie verhindern könnten, mittels einer politisch motivierten Verhaftungswelle kaltgestellt, sondern auch durch den erzwungenen Rücktritt des libanesischen Premierministers Saad Hariri Saudi-Arabien offen auf Kriegskurs mit dem Iran gebracht. Wegen der Tragweite der Ereignisse in der saudischen Hauptstadt muß man davon ausgehen, daß diese in Absprache mit den USA und Israel, die seit dem Einzug Donald Trumps in das Weiße Haus im vergangenen Januar offen die militärische Konfrontation mit dem "Mullah-Regime" in Teheran suchen, erfolgten.

Sehr zum Mißfallen Washingtons und Tel Avivs hatte Hariri, der Anführer der sunnitischen Zukunftsbewegung, im Oktober 2016 der Bildung einer Regierung der nationalen Einheit für den Libanon zusammen mit christlichen Parteien sowie der schiitischen Hisb Allah zugestimmt und dafür das Amt des Premierministers übernommen. Wie sehr sich Hariri damit von seinen einstigen Förderern entfernt hatte, zeigte sich im Juni. Während sich der Sohn des 2005 beim Bombenanschlag in Beirut ermordeten Bauunternehmers und Ex-Premierministers Rafik Hariri beim Besuch in Washington von Trump anhören mußte, welche angeblich große Bedrohung seine Koalitionspartner von der Hisb Allah für den Nahen Osten darstellten, vertrieb deren Miliz die sunnitische "Terrormiliz" Islamischer Staat aus ihren Stellungen in den Bergen an der libanesisch-syrischen Grenze.

Die USA, Israel und Saudi-Arabien sind nicht gewillt, das Scheitern ihrer verbrecherischen "Regimewechsel"-Pläne in Syrien infolge einer großangelegten Intervention Rußlands, des Irans und der Hisb-Allah-Miliz zugunsten der Syrisch-Arabischen Armee (SAA) einfach hinzunehmen. Vor dem Hintergrund des dramatischen Verlustes an Territorium durch den IS forderte an 30. Oktober per Twitter der saudische Minister für Angelegenheiten am Persischen Golf, Prinz Thamer Al Sabhan, den "Sturz" Hisb Allahs im Libanon, die er als "Partei des Satans" bezeichnete. Gleichzeitig sprach Al Sabhan, wie Außenminister Adel Al Dschubeir ein Verbündeter von MbS und ein ausgesprochener Iranophobe, von "kommenden Entwicklungen", die sich "in den nächsten Tagen" zutragen sollten und "mit Sicherheit erstaunlich sein" würden.

Als sich Hariri am Morgen des 3. November in Beirut mit Ali Akbar Velayati, dem wichtigsten außenpolitischen Berater des geistlichen Oberhaupts des Irans, Ajatollah Ali Khamenei, traf, von diesem Lob wegen der guten Zusammenarbeit seiner Großkoalition erntete und später, vor dem Abflug nach Riad, am internationalen Beiruter Flughafen für Selfies mit einfachen Mitgliedern des Personals dort posierte, konnte niemand die dramatischen Entwicklungen der kommenden Stunden auch nur erahnen. Nach einem Treffen am nächsten Tag mit Al Dschubeir trat Hariri im staatlichen saudischen Nachrichtensender Al Arabiya auf und gab völlig überraschend seinen sofortigen Rücktritt als Premierminister des Libanons bekannt.

Zur Begründung behauptete Hariri, seine Leben sei durch die Hisb Allah bedroht; es seien Anschlagspläne gegen seine Person bekanntgeworden (Inzwischen hat Hisb-Allah-Chef Hassan Nasrallah die seiner Organisation unterstellten Mordabsicht weit von sich gewiesen, während Abbas Ibrahim, der Leiter des libanesischen Geheimdienstes, erklärt hat, daß den ihm unterstellten Behörden keinerlei Hinweise auf etwaige Attentatssvorbereitungen vorlägen). Des weiteren waren die Anschuldigungen, die Hariri bei diesem Auftritt an die Adresse der Hisb Allah und des Irans richtete - sie hätten die Macht im Libanon übernommen und Unheil angerichtet in Syrien, Bahrain, Katar und Jemen - so heftig, daß die Menschen in der Region die Handschrift der Saudis zu erkennen vermeinen. Prinz Thamer Al Sabhan zeigte sich nach der Hariri-Rede völlig zufrieden und sandte per Twitter an die Hisb Allah und den Iran die mittelalterliche Drohung: "Die Hände des Verrats und der Aggression müssen abgehackt werden."

Man geht davon aus, daß Hariri von MbS zum Rücktritt gezwungen wurde. Das Unternehmen, das er damals von seinem Vater übernommen hat, Saudi Oger, hat vor wenigen Monaten Konkurs gemacht. Eine wesentliche Ursache des Bankrotts soll die Tatsache sein, daß die saudischen Behörden auf Anweisung von MbS der Baufirma bei öffentlichen Ausschreibungen keine Aufträge mehr erteilten. Hariri, der sowohl die libanesische als auch die saudische Staatsbürgerschaft besitzt, ist faktisch pleite. Der libanesische Präsident Michel Aoun hat sich in einer ersten Reaktion geweigert, den Rücktritt Hariris anzunehmen und will sich mit ihm erst nach der Rückkehr nach Beirut beraten.

Wann dies geschehen wird, steht in den Sternen, denn der plötzliche Rücktritt Hariris scheint mit der anderen großen Entwicklung an diesem Wochenende in Saudi-Arabien zusammenzuhängen. Wenige Stunden nach der Rede Hariris erfolgte im saudischen Königreich eine beispiellose Verhaftungswelle. Im Zuge einer großangelegten Anti-Korruptionsoperation wurden elf Prinzen, vier Minister und Dutzende Ex-Minister festgenommen. Diese Personen werden nun alle im Fünf-Sterne-Hotel Ritz Carlton in Riad festgehalten und dürfen mit der Außenwelt nicht kommunizieren - auch nicht mit ihren Anwälten. Neben den Chefs der wichtigsten Mediengruppen Saudi-Arabiens, ART, MBC und Rotana, wurden auch Prinz Alwaleed bin Talal, einer der reichsten Männer der Welt mit weitreichenden Geschäftsbeteiligungen auf allen Kontinenten, sowie Mutaib Bin Abdullah, der Leiter der Nationalgarde, verhaftet.

Als im Januar 2015 Salman seinen verstorbenen Bruder Abdullah als saudischer König ersetzte, machte er MbS zum Verteidigungsminister. Wenige Wochen später brach der damals 30 Jahre alte, völlig unerfahrene Empörkömmling im Jemen einen blutigen Krieg vom Zaun, der bis heute andauert und Riad Milliarden kostet. Im vergangenen Juni hat Salman MbS zum Thronnachfolger anstelle des bisherigen Innenministers Mohammed Bin Nayef ernannt. Dadurch bekam MbS die Kontrolle über die Sicherheitskräfte des Innenministeriums. Nun untersteht ihm auch die Nationalgarde. Ihm stehen also insgesamt drei Armeen zur Verfügung. Interessanterweise ist am 5. November Prinz Mansur Bin Mukrin, einst zuständiger Minister für den Schutz der heiligen Moscheen in Mekka und Medina, beim Hubschrauberabsturz in der südlichen Provinz Asir, nahe der Grenze zum Jemen, ums Leben gekommen. Einem Bericht der Onlinezeitung Middle East Eye zufolge, die sich auf eine zuverlässige Quelle in Saudi-Arabien berief, war Prinz Mansur auf der Flucht vor der Verhaftungswelle, als sein Hubschrauber abstürzte, was natürlich die Vermutung aufkommen läßt, daß es sich hier um kein Unglück, sondern um einen Abschuß gehandelt hat.

Beobachter der politischen Entwicklung in der Region bringen die jüngsten Umwälzungen in Saudi-Arabien mit dem geheimnisvollen Besuch Jared Kushners in Riad im vergangenen Monat zusammen. Gemeinsam mit zwei weiteren Mitarbeitern des Nationalen Sicherheitsrats hat Trumps Schwiegersohn und engster außenpolitischer Berater Gespräche mit MbS geführt, deren Inhalt nicht öffentlich bekanntgegeben wurden. Fest steht, daß Kushner seit Monaten unablässig eine anti-iranische Militärallianz zwischen Tel Aviv und Riad an der Seite Washingtons schmiedet und den etwa gleichaltrigen MbS für seine ehrgeizigen Pläne gewonnen hat. Kushner soll auch derjenige gewesen sein, der dafür sorgte, daß im Mai Trump seinen ersten ausländischen Staatsbesuch als US-Präsident in Saudi-Arabien und gleich darauf den zweiten in Israel machte. Allein der Direktflug der Air Force One von Riad nach Jerusalem hatte nicht nur geschichtliche, sondern große symbolische Bedeutung. Zwischen Saudi-Arabien und Israel gibt es normalerweise keine Flugverbindungen.

Symbolisch ist zudem auch die Verhaftung von Prinz Alwaleed bin Talal. Der saudische Krösus, der als liberal und progressiv gilt, hat sich nicht nur als Kritiker des Jemenkriegs hervorgetan, sondern sich 2015 auf Twitter einen heftigen Schlagabtausch mit Trump geliefert. Dem damaligen Bewerber um die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten der Republikaner hatte er erklärt, er sei eine "Schande" nicht nur für seine Partei, sondern für Amerika, und ihm geraten, aus dem Rennen um den Einzug ins Weiße Haus auszusteigen, da er "keine Chance" zu gewinnen hätte. Aus Tokio, wo er eine zweiwöchige Asienreise antrat, hat Trump am 4. Oktober die ungewöhnlichen Vorgänge in Riad nicht kommentiert, sondern per Twitter lediglich den Wunsch geäußert, daß der von MbS geplante Börsengang von Saudi Aramco, dem größten Ölkonzern der Welt, an der New Yorker Stock Exchange (NYSE) erfolge, weil dies "wichtig für Amerika" sei. Offenbar versteht Trump doch etwas von Understatement. Wer hätte das gedacht?

6. November 2017


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