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NAHOST/1502: Leitet die Schlacht um Mossul das Ende Iraks ein? (SB)


Leitet die Schlacht um Mossul das Ende Iraks ein?

Ausgrenzung der Sunniten hat die staatliche Stabilität untergraben


Die Offensive, mit der seit dem 17. Oktober die Regierung des Iraks Mossul, die zweitgrößte Stadt des Landes, aus den Händen der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) zu befreien versucht, gerät zusehends zum Militärfiasko. Die Hauptstadt der Provinz Ninawa ist inzwischen umzingelt. Irakische Spezialstreitkräfte sind Mitte November in den Ostteil eingedrungen, auf heftigen Widerstand seitens IS-Scharfschützen und -Selbstmordattentätern gestoßen und stecken dort seitdem mehr oder weniger fest. Militärexperten vor Ort gehen davon aus, daß die vollständige Einnahme der Millionenstadt Monate dauern könnte und mit hohen Verlusten an Menschen sowie großer Zerstörung des Gebäudebestands und der Infrastruktur einhergehen wird. Es stellt sich tatsächlich die Frage, was am Ende der Offensive von Mossul übrigbleibt.

Leider steht dieselbe Frage bezüglich des Iraks und dessen Zukunft ebenfalls im Raum, denn ethnische und religiöse Spannungen überschatten den Kampf um Mossul. Die Einwohner der Stadt sind hauptsächlich Sunniten, also soll die gemischte sunnitisch-schiitische Armee des Iraks den laufenden Häuserkampf mit IS bestreiten, während die schiitischen Volksmobilisierungskräfte außerhalb Mossuls bleiben und vor allem die Fluchtwege für ausländische Dschihadisten abriegeln. Auch die Überprüfung wehrfähiger Männer wegen möglicher IS-Verbindung bzw. -Sympathie soll ebenfalls ausschließlich von irakischen Berufssoldaten durchgeführt werden. Die Volksmobilisierungskräfte, die als Reaktion auf den überraschenden Fall Mossuls im Juni 2014 ins Leben gerufen worden waren, um damals einen befürchteten Sturmangriff des IS auf Bagdad abzuwehren, stehen im Verdacht, in den letzten zwei Jahren bei der Vertreibung der Gotteskrieger aus Tigrit, Ramadi und Falludscha grausame Greueltaten an zahlreichen sunnitischen Gefangenen verübt zu haben. Angesichts der anhaltenden Serie schwerer Bombenanschläge auf schiitische Pilger oder in mehrheitlich von Schiiten bewohnten Dörfern und Städten sowie der Entdeckung von Massengräbern voller IS-Opfer ist die Angst vor Vergeltungsaktionen in und um Mossul mehr als berechtigt.

Vor diesem Hintergrund hat die Entscheidung des von schiitischen Abgeordneten dominierten irakischen Parlaments in Bagdad am 27. November, die zahlreichen Milizen, die sich aktuell am Anti-IS-Kampf beteiligen, in den Rang einer staatlich anerkannten Reservistenarmee zu heben, für Kontroversen gesorgt. Für die Annahme des entsprechenden Gesetzentwurfs stimmten 208 der 327 Abgeordneten. Sunnitische Mitglieder des Gremiums blieben aus Protest der Abstimmung demonstrativ fern. Anschließend erklärte der sunnitische Politiker Osama Al Nudschaifi, einer von drei irakischen Vizepräsidenten: "Die Mehrheit hat nicht das Recht, das Schicksal aller anderen zu bestimmen. Es muß echte politische Inklusion geben. Das Gesetz muß revidiert werden." Dagegen erwiderte der schiitische Politiker Mohammed Saadoun, nicht die Sunniten als Ganzes, sondern lediglich "sunnitische Politiker, die ausländische Interessen vertreten", lehnten das Gesetz ab.

Seit dem gewaltsamen Sturz des sunnitischen Präsidenten Saddam Hussein 2003 infolge des illegalen anglo-amerikanischen Einmarschs hat im Irak die schiitische Mehrheit politisch das Sagen. Zwischen den entmachteten Sunniten und den sich im Aufwind befindlichen Schiiten findet ein nicht abreißender Bürgerkrieg statt, der mit ethnischen Vertreibungen, Überfällen, Verschleppungen, Bombenanschlägen et cetera einhergeht. Die Attraktivität des IS, der aus Al Kaida im Irak hervorgeht und dessen Gründer zum guten Teil sunnitische Ex-Offiziere der Armee Saddam Husseins waren, speist sich aus dem Versäumnis der schiitischen Politelite, allen voran des früheren Premierministers Nuri Al Maliki, die sunnitische Minderheit als gleichberechtigte Partner zu behandeln. Statt dessen hat Al Maliki auf die öffentlichen Proteste zwischen 2011 und 2013 in den sunnitischen Hochburgen gegen Korruption sowie politische und wirtschaftliche Diskriminierung mit brutaler Gewalt reagiert. Die Folge war 2014 der kurze, aber heftige Siegeszug von IS.

Es ist weniger die religiöse Radikalisierung als vielmehr die handfeste, von Bagdad zu verantwortende Ausgrenzung der sunnitischen Minderheitsbevölkerung, die im wesentlichen zum Aufkommen des Phänomens IS im Irak beigetragen hat. Dieser Umstand läßt sich anhand öffentlicher Äußerungen von IS-Freiwilligen nachvollziehen, die bei der Mossul-Offensive gefangengenommen wurden. In einem Artikel, der am 26. November bei der Onlinezeitung Middle East Eye unter der Überschrift "'I did it for money': Islamic State cell leader tells of attack on Kirkuk" erschienen ist, kommt der 24jährige ehemalige Maurer Addi Abbas Sabhan aus Hawidscha zu Wort. Sabhan soll den spektakulären Überfall des IS geplant haben, der zwischen dem 21. und dem 23. Oktober in Kirkuk 80 Menschen das Leben kostete. Gegenüber MEE-Reporterin Francesca Mannocchi beschreibt er seine Involvierung mit der Gruppe um den selbsternannten Kalifen Abu Bakr Al Baghdadi wie folgt:

Ich wurde nicht in einer Moschee rekrutiert. Der IS ging auf der Straße auf die Leute zu. Als Maurer habe ich in guten Zeiten 30 Dollar im Monat verdient. IS versprach 150 Dollar im Monat. Als ich den Treueeid schwor, machte ich es wegen des Geldes, nicht wegen des Glaubens.

Ich wurde Anfang 2014, einige Monate bevor der IS Mossul eroberte, von den Männern des Emirs Abu Islam Al Iraki rekrutiert. Sie sagten, sie würden unsere Familien verteidigen und ihnen ein Leben in Würde garantieren. Ich mußte meiner Mutter helfen, meine vier Brüder zu ernähren.

Ich hatte keine Kindheit. Ich konnte nicht studieren, denn meine Familie hatte kein Geld. Die Leute haßten die Amerikaner, und sie haßten die Regierung [Al-Malikis - Anm. d. SB-Red.]. Ich fühlte mich in Stich gelassen. Wir alle fühlten uns in Stich gelassen.

Dazu schreibt Mannocchi:

Sabhan erklärte, seine Rekrutierer hätten diese Frustrationen in seiner Gemeinde geschürt und innerhalb von Monaten von der Selbstaufopferung im Namen des Dschihad, von der Notwendigkeit, Ungläubige - und falsche Muslime - im Namen des heiligen Kriegs zu töten, zu sprechen begonnen. "Sie wollten uns das Märtyrertum lehren. Sie sagten, 'tötet für uns, und Ihr werdet im Paradies belohnt werden'. Wir waren alle sehr jung; es ist einfacher, Jugendliche zu überreden, ihr Leben für eine Ideen zu opfern."

Für einen anderen Artikel, der am 29. November von der Nachrichtenagentur Reuters unter der Überschrift "Exclusive: Jailed Islamic State suspects recall path to jihad in Iraq" erschienen ist, hat Michael Georgy in Erbil, Hauptstadt der kurdischen Autonomieregion in Nordirak, mit mehreren bei der Mossul-Offensive gefangenen IS-Kämpfern gesprochen. Der 20jährige Bäckergeselle Walid Ismail erläutert seine Reaktion auf die Einnahme Mossuls und weiter Teile Nordiraks durch IS-Kämpfer sowie auf die kurz darauf erfolgte Ausrufung des Kalifats durch Al Baghdadi wie folgt:

Ich glaubte ihm. Wir liebten sie, denn sie haben uns von der Unterdrückung durch die Schiiten befreit. Sie sagten: "Wer zur Moschee geht, ist sicher." Sie sagten: "Unser Ziel ist es, für Euch die Schiiten loszuwerden, auf daß niemand sie unterdrückt. Wir werden Euch Essen und Geld geben. Was immer Ihr wollt." Daesh [in der arabischen Welt geläufige Bezeichnung für IS - Anm. d. SB-Red.] gab mir 500.000 Dinar (400 Dollar) im Monat dafür, mit einem Maschinengewehr in der Hand auf der Straße Wache zu stehen.

In dem zweiten Interview empört sich ein anderer Gefangener namens Hazem Saleh darüber, wie einst die Soldaten der irakischen Armee in Mossul seine drei Brüder schwer mißhandelten:

Es waren Tagelöhner. Sie haben sie für eineinhalb Monate festgehalten. Sie verprügelten sie. Sie hingen sie mit dem Kopf nach unten auf. Dabei haben sie ihre Schulter ausgerenkt.

Zu Salehs Groll gegenüber den Streitkräften der schiitisch-dominierten Zentralregierung in Bagdad kam für den gelernten Schmied auch wirtschaftliche Not hinzu:

Ich habe sieben Kinder; das jüngste ist zwei Jahre alt. Sie wollen leben. Es herrschte Arbeitslosigkeit und Armut, also sind die meisten Leute deshalb [dem IS - Anm. d. SB-Red.] beigetreten."

Nach Einschätzung von Reuters-Korrespondent Georgy zeigen die Schilderungen der gefangenen IS-Freiwilligen, "wie wichtig" es sein werde, "nach dem Sieg über den Islamischen Staat die konfessionellen Spannungen in den Griff zu bekommen", um den schiitisch-sunnitischen Konflikt im Irak allmählich abflauen zu lassen. Leider steht zu befürchten, daß besagte Spannungen angesichts des Blutvergießens in und um Mossul noch lange nicht ihren Höhepunkt erreicht haben. Je größer das Leid, das sich Iraks Sunniten und Schiiten gegenseitig antun, um so geringer die Bereitschaft beider Seiten zum Zusammenleben in einem gemeinsamen Staat. Bekanntlich streben Iraks Kurden die Gründung eines eigenen Nationalstaates mit der Türkei als Schutzmacht an. Am 30. November hat die Führung der sunnitischen Miliz namens Löwen vom Tigris, die an der Seite der irakischen Armee an der Mossul-Offensive teilnimmt, die Zusammenfassung der mehrheitlich von Sunniten bewohnten Teile des Iraks zu einer einzigen Provinz im Rahmen eines föderal strukturierten Staates gefordert. Doch für eine föderale Lösung der politischen Probleme im Irak ist es möglicherweise bereits jetzt zu spät.

2. Dezember 2016


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