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NAHOST/1482: Pulverfaß Syrien - Weltkriegsgefahr nimmt zu (SB)


Pulverfaß Syrien - Weltkriegsgefahr nimmt zu

Gezänk statt Diplomatie auf der UN-Generalversammlung in New York


Von einem drohenden neuen Kalten Krieg kann keine Rede mehr sein, denn er ist längst in vollem Gange. Wer die Auftritte von US-Präsident Barack Obama, seines Außenministers John Kerry und seiner UN-Botschafterin Samantha Power in den vergangenen Tagen im Sicherheitsrat bzw. auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York im Fernsehen erlebt oder darüber gelesen hat, dürfte sich an frühere Propagandaschlachten zwischen Vertretern des kapitalistischen Westens und dem kommunistischen Warschauer Pakt während der dunkelsten Stunden der früheren Blockkonfrontation erinnert fühlen. Hauptstreitpunkt zwischen Moskau und Washington war auf der diesjährigen Generalversammlung im UN-Hauptquartier am East River der Konflikt in Syrien, von dem immer mehr die Gefahr eines Dritten Weltkrieges ausgeht.

Zur Beilegung des Syrienkrieges, der seit 2011 rund 400.000 Menschen das Leben gekostet und Millionen zu Flüchtlingen gemacht hat, hatten Kerry und sein russischer Amtskollege Sergej Lawrow am 12. September eine Feuerpause vereinbart, nach deren Einhaltung für eine Woche Syrische Arabische Armee (SAA) und "gemäßigte" Rebellen einen dauerhaften Waffenstillstand vereinbaren sollten, während die Streitkräfte Rußlands und der USA den gemeinsamen Kampf gegen "extremistische", sprich "terroristische" Gruppierungen wie den Islamischen Staat und die Al-Nusra-Front aufnehmen würden. Gegen die anvisierte Kooperation mit Rußlands Militär lehnte sich die amerikanische Stahlhelmfraktion, angeführt von Verteidigungsminister Ashton Carter, dem republikanischen Senator und Vietnamkriegshelden John McCain sowie dem Vorsitzenden der Vereinigten Stabchefs, General Joseph Dunford, offen auf.

Und so kam es, wie es kommen mußte. Nach fünf Tage einigermaßen zufriedenstellender Feuerpause griffen US-Kampfjets, unterstützt von Maschinen aus Dänemark, Australien und Großbritannien, eine Stellung der SAA nahe der Luftwaffenbasis Deir ez-Zor im abgelegenen Osten Syriens, die seit über einem Jahr von IS-Dschihadisten belagert wird, an. Bei der erstmaligen Attacke der Anti-IS-Koalitionäre auf die SAA, die rund eine Stunde dauerte, bis ein russischer Anruf die Verantwortlichen im Combined Air and Space Operations Center (CAOC) der USA auf dem Fliegerhorst Al Udeid in Katar auf ihren "Fehler" aufmerksam machte, wurden 83 syrische Soldaten getötet und mehr als 100 verletzt. Unmittelbar darauf kam es seitens IS-Freiwilligen zum Sturmangriff auf die fragliche Anhöhe, der nur mit allergrößter Mühe durch die SAA sowie russische Luftunterstützung zurückgeschlagen werden konnte.

Als in derselben Nacht Rußlands UN-Botschafter Witali Tschurkin eine Sondersitzung des Sicherheitsrats einberief, um den spektakulären wie zugleich beunruhigenden Vorfall zu diskutieren, spielte sich die humanitäre Interventionistin Power auf und warf ihm vor, "eine Nummer abzuziehen"; schließlich seien Rußland und die Regierung von Präsident Baschar Al Assad in Damaskus die alleinigen Verursacher der katastrophalen Lage in Syrien, so Power. Seinerseits stellte Tschurkin die Behauptung Washingtons, der Angriff in Deir ez-Zor sei nicht absichtlich, sondern aufgrund falscher Erkenntnisse erfolgt, in Zweifel und fragte offen, wer in der Außen- und Sicherheitspolitik der USA das Sagen habe: Das Weiße Haus oder das Pentagon?

Das traurige Theater an Manhattans Upper East Side erreichte am 20. September seinen vorläufigen Höhepunkt bei der letzten Rede Obamas als US-Präsident vor der Generalversammlung. In der Nacht zuvor waren 18 Lastwagen eines Hilfskonvois für den Osten Aleppos in Flammen aufgegangen. Eine unbekannte Anzahl von freiwilligen Helfern waren dabei ums Leben gekommen, größere Mengen Lebensmittel, Medikamente und hygienischer Güter für die eingeschlossenen Zivilisten in der Rebellenhochburg zerstört worden. Ohne auch nur den geringsten handfesten Beweis vorzulegen, behauptete Kerry, die abscheuliche Greueltat sei das Werk der syrischen Luftwaffe. Obama in seiner Rede stellte Wladimir Putins Rußland als eigentlichen Störfaktor im Konzert der Nationen hin, weil es angeblich "mit Gewalt" seinen Einfluß in der Welt zu festigen bzw. auszubauen versuche.

Inzwischen behauptet das US-Militär, nicht syrische, sondern russische Kampfjets waren es, die in Aleppo den Hilfskonvoi in die Luft gejagt hätten. Gegen diese These spricht die Tatsache, daß die Lastwagen aus dem westlichen, von der Regierung kontrollierten Teil Aleppos gekommen waren; zuvor hatten sich syrische Soldaten vergewissert, daß keine Waffen oder Munition mit dem Konvoi zu den Rebellen gelangten. Darüber hinaus hatten russische und syrische Soldaten die für den Transport benötigte Castello-Straße von Hindernissen freigelegt, um einen reibungslosen Ablauf zu garantieren. Moskau und Damaskus hegten beide das Interesse, daß die Hilfslieferungen in Aleppo und anderswo in Syrien anliefen und die provisorische Feuerpause in einen dauerhaften Zustand überging. Es gibt keine verläßlichen Zeugen für einen Luftangriff. Selbst UN-Beobachter wollen nicht ausschließen, daß die islamistischen Aufständischen in Ostaleppo, die nur Tage zuvor eine Demonstration gegen die geplante Hilfslieferung abgehalten hatten, die Lastwagen selbst in Brand gesteckt haben, um Damaskus die Missetat in die Schuhe zu schieben und die Bemühungen um einen Waffenstillstand und eine Zusammenarbeit zwischen Russen und Amerikanern zu sabotieren.

Das Pentagon und die CIA sperren sich gegen eine Kooperation mit Rußland nicht nur wegen der Ukraine-Krise oder Spannungen im Baltikum, sondern weil sie dann nicht mehr ohne weiteres ihre heimliche Unterstützung für die "extremistischen" Aufständischen fortsetzen könnten und auf ihr ursprüngliches Ziel eines gewaltsamen "Regimewechsels" in Damaskus verzichten müßten. Deshalb weigert sich seit Monaten das US-Militär, russischen Stellen Zielkoordinaten für IS- und Al-Nusra-Stellungen mitzuteilen. Deshalb ist auch die Hoffnung auf eine Entflechtung "gemäßigter" Rebellengruppen wie die Freie Syrische Armee (FSA) von ihren "extremistischen" Kampfgefährten vollkommen vergeblich. Die "gemäßigten" Rebellen haben in Syrien nichts zu melden, deshalb setzen CIA und Pentagon weiterhin auf die Dschihadisten, selbst wenn dadurch aus dem Post-Assad-Syrien ein zweites Somalia wird.

Aufgrund des durchsichtigen Doppelspiels der Amerikaner ist die Geduld der Russen nach dem Scheitern der Kerry-Lawrow-Friedensinitiative offenbar am Ende. Wie Militärkorrespondent Judah Ari Gross am 22. September in der Onlineausgabe der Times of Israel unter Verweis auf russische und arabische Quellen berichtete, haben zwei Tage zuvor russische Kriegsschiffe im Mittelmeer drei ballistische Raketen vom Typ Kalibr auf ein geheimes Kommandozentrum westlicher Spezialstreitkräfte in den Bergen der Provinz Aleppo abgefeuert und dabei etwa 30 Elitesoldaten aus Großbritannien, den USA, der Türkei, Katar und Saudi-Arabien, die den Kampf der Gotteskrieger in Syrien dirigierten, getötet. Die russische Vergeltungsaktion für den "versehentlichen" Luftangriff der USA und ihrer Verbündeten auf die SAA in Deir ez-Zor, die aus gutem Grund nirgendwo von offizieller Seite kommentiert wird, macht die akute Gefahr der Eskalation des Syrienkonfliktes hin zu einem regelrechten Weltkrieg unter Einsatz von Atomwaffen deutlich.

23. September 2016


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