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NAHOST/1474: Türkische Streitkräfte marschieren in Nordsyrien ein (SB)


Türkische Streitkräfte marschieren in Nordsyrien ein

Lassen die Amerikaner die Kurden wieder hängen?


Man darf sich von der Operettenhaftigkeit des Einmarschs türkischer Streitkräfte in Syrien und der Einnahme der Kleinstadt Dscharabulus am 24. August nicht täuschen lassen. Das erstmalige direkte Eingreifen desjenigen NATO-Staats mit der personell stärksten Streitmacht nach den USA in den seit mehr als fünf Jahren andauernden Krieg in Syrien liefert Anlaß zur größten Sorge. Die Gefahr einer Ausartung des Syrienkonflikts zum Regional- bzw. sogar zum Dritten Weltkrieg ist durch den jüngsten Schachzug Ankaras gestiegen. Die Analyse Lina Khatib, Nahostexpertin an der renommierten britischen Denkfabrik Chatham House - siehe "How Turkey was forced to fall in line over Syria", Middle East Eye, 25. August 2016 -, wonach sich die Türkei lediglich auf die Friedenslinie der USA und Rußlands einschwenkt, erscheint übertrieben optimistisch, wenn nicht sogar illusorisch.

Anlaß der Intervention waren erstens der verheerende Bombenanschlag in der türkischen Grenzstadt Gaziantep am 21. August, der 54 Teilnehmern einer kurdischen Hochzeitsfeier, darunter zahlreiche Kinder, das Leben kostete und dessen Urheber immer noch unbekannt ist, und zweitens Artilleriefeuer, das am 23. August von Dscharabulus ausging und bei dem mehrere Geschosse auf die grenznahe türkische Ortschaft Kilis heruntergingen, ohne jedoch nennenswerten Schaden anzurichten. Am darauffolgenden Tag überquerten die Grenze rund 5000 "gemäßigte" Rebellen angeblich von der Freien Syrischen Armee (FSA), begleitet von türkischen Spezialstreitkräften und rund einem Dutzend Panzer.

Seltsamerweise stießen die Eindringlinge auf geringen Widerstand bei der Einnahme von Dscharabulus. Statt wie bei anderen Belagerungen, zum Beispiel zuletzt im irakischen Ramadi und Falludscha, im libyschen Sirte oder im syrisch-kurdischen Kobane, über Wochen erbitterte Gegenwehr zu leisten und mit Autobombenanschlägen quasi bis zum letzten "Märtyrer" zu kämpfen, haben die Angehörigen der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) Dscharabulus mehr oder weniger kampflos aufgegeben. Bei der Einnahme der Stadt soll lediglich ein FSA-Mitglied getötet worden sein. So reibungslos, wie die ganze Aktion über die Bühne gelaufen ist, drängt sich der Verdacht auf, daß es sich hier um ein abgekartetes Manöver unter den verschiedenen islamistischen Gegnern des "Regimes" Baschar Al Assads handelte. Schließlich nahmen an der Einnahme von Dscharabulus sowohl Mitglieder der salafistischen Formation Ahrar Al Scham als auch der Gruppe Nureddin Al Zenki, die durch die bestialische Hinrichtung eines hilflosen 12jährigen Jungen im Juli traurige Weltberühmtheit erlangte, teil.

Jedenfalls diente die Militäroperation bei Dscharabulus dazu, die Beziehungen zwischen den USA und der Türkei, die seit dem gescheiterten Staatsstreich in Ankara Mitte Juni sehr angespannt waren, zu verbessern. Die türkischen Bodentruppen und ihre Rebellenfreunde erhielten beim "Sturm" auf Dscharabulus auch Unterstützung durch Kampfjets der US-Luftwaffe von Typ F-16 und A-10 "Warzenschwein". Wie der Zufall so will, fiel der Auftakt von Operation "Euphratschild" zeitgleich mit dem Besuch des US- Vizepräsidenten Joseph Biden in der türkischen Hauptstadt zusammen. Der Ex-Senator aus Delaware hat erneut jede Verwicklung Washingtons in den mißlungenen Putschversuch bestritten und zugleich Ankara die volle diplomatische Rückendeckung für seine jüngste Militärunternehmung in Syrien gegeben.

Präsident Recep Tayyip Erdogan, Premierminister Binali Yildirim und Außenminister Mevlut Cavusoglu haben den türkischen Vorstoß sowohl als Akt der Selbstverteidigung als auch als Beitrag für die seit 2014 laufende Kampagne der internationalen Anti-IS-Koalition gerechtfertigt. Gleichzeitig jedoch richtet sich die "Anti-Terroraktion" der Türken in Syrien weniger gegen IS und Konsorten als vielmehr gegen die syrisch-kurdischen Volkverteidigungseinheiten (YPG), die in den letzten Monaten als wichtigste Komponente der vom US-Militär unterstützten Syrischen Verteidigungskräfte (SDF) weite Teile des Grenzgebiets zur Türkei haben erobern können. Vor kurzem haben YPG und SDF in westliche Richtung den Fluß Euphrat überquert, den IS aus der Stadt Manbidsch vertrieben und sie standen kurz davor, Dscharabulus zu erobern. Mit der Operation "Euphratschild" will die Türkei den Vormarsch der YPG, die Ankara als Ablegerin der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) Abdullah Öcalans betrachtet, stoppen und die Errichtung eines kurdischen Autonomiegebiets entlang der Nordgrenze Syriens verhindern.

Bei einer Pressekonferenz in Ankara hat US-Vizepräsident Biden den SDF mit unmißverständlichen Worten erklärt, daß sie sich wieder zurück auf das Ostufer des Euphrats zurückziehen müssen. Ansonsten würde es für sie keinerlei Unterstützung seitens Washingtons mehr geben, so der Stellvertreter Barack Obamas. Die YPG hat ihrerseits die Forderung Bidens als unzulässig zurückgewiesen. Gegenüber dem Radiosender Voice of America erklärte am 25. August YPG-Sprecher Redur Xelil: "Wir sind westlich des Euphrats und haben unseren Platz bei den Syrischen Demokratischen Kräften eingenommen. Wir befinden uns auf unserem Land und werden es nicht auf Bitten der Türkei oder einer anderen Macht verlassen."

Eine militärische Auseinandersetzung zwischen den syrischen Kurden und den türkischen Streitkräften, deren Anzahl in Syrien laut Pressemeldungen von derzeit 450 auf 15.000 Mann erhöht werden sollte, erscheint unvermeidlich. Angeblich will die türkische Armee im Raum zwischen der Grenze und der derzeit hart umkämpften syrischen Wirtschaftsmetropole Aleppo eine "Sicherheitszone" errichten. Hierzu gehört die Einnahme von Manbidsch, welche die YPG offenbar nicht ohne weiteres herzugeben gedenken. Durch die militärische Unterstützung der YPG haben die USA die Türkei zum direkten Eingreifen in den Syrienkrieg veranlaßt. Die kommenden Wochen werden zeigen, ob es Washington gelingt, die Interessen der YPG und Ankaras gleichermaßen zu berücksichtigen. Sollten die USA zwischen beiden entscheiden müssen, dann werden sie wahrscheinlich die syrischen Kurden fallenlassen.

Es wäre nicht das erste Mal, daß Washington die Kurden aufgewiegelt hätte, um sie kurz darauf in Stich zu lassen. So haben die Amerikaner Anfang der siebziger Jahre die irakischen Kurden zum Aufstand gegen die Zentralregierung in Bagdad angestachelt. Dies führte 1974 zu einem monatelangen Grenzkrieg zwischen dem Irak und dem Iran. 1975 haben Iraks damaliger Vizepräsident Saddam Hussein und der pro-amerikanische Schah aus Iran mit dem Abkommen von Algier ihre Grenzstreitigkeiten beigelegt. Als danach die irakischen Truppen im eigenen Kurdengebiet mit äußerster Brutalität wüteten, richtete der kurdische Anführer Mustapha Barsani einen Hilferuf an die Regierung von US-Präsident Gerald Ford. Von Henry Kissinger, damals Fords Außenminister, bekam er die zynische Antwort, "verdeckte Aktionen sollten mit Missionarstätigkeit nicht verwechselt werden", zurück.

26. August 2016


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