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NAHOST/1369: Libyens Regierung erhebt schwere Vorwürfe gegen NATO (SB)


Libyens Regierung erhebt schwere Vorwürfe gegen NATO

Halten die USA und die EU den Islamisten den Rücken frei?


Im libyschen Bürgerkrieg wird die Lage zunehmend unübersichtlicher. Hauptprotagonisten sind auf der einen Seite "gemäßigte" islamistische Milizen um das frühere Parlament in Tripoli, die sich Fajr Libya (Libysche Morgendämmerung) nennen, und auf der anderen Seite Teile der früheren Streitkräfte Muammar Gaddhafis, Stammeskrieger aus Zintan sowie die Privatarmee des Ex-Generals Khalifah Hifter, die im Auftrag der Regierung des im Juni 2014 gewählten, neuen Parlaments handeln, das sich im vergangenen Herbst aus Sicherheitsgründen nach Tobruk verlegen mußte. Durch die Eroberung der Städte Derna und Sirte in den letzten Monaten durch Anhänger des 2014 im irakischen Mossul ausgerufenen Kalifats Islamischer Staat (IS) ist ein dritter wichtiger Akteur hinzugekommen, der am 15. Februar mittels der für das Fernsehen inszenierten Enthauptung 21 koptischer Gastarbeiter die Streitkräfte des Nachbarlandes Ägypten zum Eingreifen provoziert hat. Auf die ägyptischen Luftangriffe auf Derna, bei denen am 16. Februar 50 IS-Kämpfer und mehrere Zivilisten getötet worden sein sollen, antworteten vier Tage später die Dschihadisten mit Selbstmordanschlägen in der Stadt Al Quba, die mehr als 50 Menschen das Leben kosteten.

Derna, Tobruk und Al Quba liegen allesamt im Osten Libyens. Letztere Stadt gilt als Hochburg von Hifter, der unbestätigten Berichten zufolge finanzielle und militärische Hilfe aus Ägypten erhält. Die Gegner Hifters werfen ihm vor, eine Militärdiktatur in Libyen ähnlich derjenigen des ägyptischen Präsidenten General a. D. Abdel Fatah Al Sisi errichten zu wollen. Ob dies stimmt, ist nicht klar. Fest steht, daß es - nach den jüngsten Gewaltexzessen des IS - in Benghazi, Tobruk und anderen Städten, die sich unter der Kontrolle des von der "internationalen Gemeinschaft" anerkannten, neuen Parlaments stehen, zu Demonstrationen gekommen ist, deren Teilnehmer ein Verbot der Moslembruderschaft, die Verhängung des Kriegsrechts und einen von Hifter geführten Militärrat anstelle der Regierung um Premierminister Abdullah Al Thani gefordert haben. Aus Sicht der Demonstranten ist Al Thani zu schwach, um sich gegen Fajr Libya und den IS durchsetzen zu können.

In Tobruk gibt es derzeit Bestrebungen, Hifter offiziell zum Kommandeur der Streitkräfte des neuen Parlaments, die sich vor kurzem den Namen Libysche Nationalarmee gegeben haben, zu ernennen. Am 25. Februar hat Parlamentspräsident Aguila Saleh den Abgeordneten einen entsprechenden Gesetzesentwurf zur Abstimmung vorgelegt. Derzeit soll sich Hifter zu Beratungen mit der Regierung Ägyptens in Kairo aufhalten. Angeblich will er sich danach in Amman mit Vertretern Jordaniens und Israels treffen. Man geht davon aus, daß der Antrag, ihn zum Oberbefehlshaber der Libyschen Nationalarmee zu machen, eine Mehrheit finden wird. Vor diesem Hintergrund hat die Regierung in Tobruk die weitere Teilnahme an den unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen vor kurzem aufgenommenen Annäherungsgesprächen mit Fajr Libya in Tripoli abgesagt. Zu der geplanten nächsten Runde jener Gespräche in Marokko wird es also vorerst nicht kommen.

Die Begründung der Tobruker Regierung für diese Entscheidung wirft interessante Fragen auf, welche Ziele die NATO-Mächte in Libyen tatsächlich verfolgen. Angesichts der Flüchtlingsproblematik im Mittelmeer und der Kriegsdrohungen des IS gegenüber der Europäischen Union sollte man annehmen, daß die NATO an einer raschen Wiederherstellung staatlicher Ordnung in Libyen interessiert sein müßte. Doch diesen Eindruck hat Premierminister Al Thani nicht. In einem bemerkenswerten Interview mit dem arabischen Nachrichtensender Al Arabiya hat der ehemalige Verteidigungsminister am 24. Februar schwere Vorwürfe an die Adresse der Vereinten Nationen, der USA und der Europäischen Union erhoben.

Seit 2011 und dem Aufstand gegen das Gaddhafi-"Regime" unterliegt Libyen einem Waffenembargo der Vereinten Nationen. Die mehrmalige Aufforderung seitens der Regierung in Tobruk, das Embargo wieder aufzuheben, ist bislang von den Mitgliedsstaaten im UN-Sicherheitsrat ignoriert worden. Gegenüber Al Arabiya hat Premierminister Al Thani deshalb die USA, Großbritannien und die EU bezichtigt, die Krise in Libyen zu verschlimmern. Er behauptete, daß der UN-Sondervermittler für Libyen, der spanische Diplomat Bernardino León, mit der Unterstützung Washingtons und Londons eine Regierung der Nationalen Einheit unter Beteiligung islamistischer Kräfte in Libyen erzwingen wolle. Laut Al Thani würde die Verwirklichung eines solchen Vorhabens Libyen nur noch weiter destabilisieren und den Radikalislamisten nach Art des IS Auftrieb verleihen.

"Leider weigert sich die internationale Gemeinschaft, insbesondere die Vereinigten Staaten, Großbritannien und die Europäische Union, die libysche Armee mit Waffen auszustatten. Fajr Libya ist Teil der Bewegung der militanten Islamisten, die Waffen und Munition aus der ganzen Welt erhalten. Doch Amerika und Großbritannien verfolgen Interessen, die nicht mit denen des libyschen Volkes übereinstimmen." Wie diese Interessen wohl aussehen könnten? Kritiker unterstellen den USA und ihren Verbündeten, spätestens seit 2003 das Ziel der gezielten Destabilisierung und Vernichtung bestehender Staaten in der arabischen Welt zu verfolgen. Die blutige Entwicklung der letzten Jahre im Irak, in Syrien, im Jemen und in Libyen lassen diese These als nicht ganz abwegig erscheinen.

27. Februar 2015


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