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NAHOST/1250: Großmächte unterhöhlen Friedenschancen für Syrien (SB)


Großmächte unterhöhlen Friedenschancen für Syrien

USA, Rußland, Frankreich, Großbritannien, Iran et al. im Dauerstreit



Als Paradebeispiel für die Perfidie Großbritanniens und Frankreichs ist das Sykes-Picot-Abkommen in die Geschichte eingegangen. 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, schlossen der britische Diplomat Mark Sykes und sein französischer Kollege François Georges-Picot im Namen von London und Paris eine geheime Vereinbarung über die Aufteilung der arabischen Besitztümer des Osmanischen Reiches nach dessen erhoffter und später tatsächlich eingetretener Niederlage ab. Großbritannien bekam als Interessenssphäre die Region, auf der sich heute Israel, die autonomen palästinensischen Gebiete, Jordanien und der Irak befinden, Frankreich die Landstriche des heutigen Libanon und Syriens. Als 1917 die russischen Revolutionäre einen Separatfrieden mit dem kaiserlichen Deutschland abschlossen und das Geheimabkommen veröffentlichten, löste dies bei den Arabern, die auf der Seite Großbritanniens aufgrund des von T. E. Lawrence ("von Arabien") übermittelten Versprechens eines souveränen Großarabiens mit Damaskus als Hauptstadt kämpften, einen Sturm der Entrüstung und auch der Enttäuschung aus.

Fast 100 Jahre später können es Franzosen und Briten immer noch nicht lassen, in die Angelegenheiten der Menschen im Vorderen Orient hineinzupfuschen. Aufgrund des anglofranzösischen Drängens hat die NATO 2011 mit Luftunterstützung Al-Kaida-nahen Gruppen in Libyen geholfen, die säkulare Regierung Muammar Gaddhafis zu stürzen. Seitdem herrscht zwischen Tripolis und Benghazi das absolute Chaos. Die staatliche Ordnung ist dem Bandenwesen gewichen, während schwerbewaffnete Milizionäre aus Libyen die Länder der Sahelzone destabilisieren. Dessen ungeachtet feuern Großbritannien und Frankreich zusammen mit den USA, der Türkei, Saudi-Arabien, Katar, Jordanien und Israel seit zwei Jahren Tausende salafistischer Dschihadisten in Syrien an, damit sie das Iran- und Hisb-Allah-freundliche "Regime" Baschar Al Assads zu Fall bringen.

Doch die bisherige Hilfe - Waffen und Munition aus Katar, Kroatien, Libyen und Saudi-Arabien, sunnitische Freiwillige aus allen Herren Ländern sowie Ausbildung und logistische Unterstützung durch westliche Geheimdienste, Spezialstreitkräfte und Söldnerfirmen - hat nicht gereicht. Die Rebellen haben bisher lediglich kleinere Gebiete in der Nähe der Grenze zur Türkei im Norden und zum Irak im Osten "befreien" können. Mit Hilfe der Hisb-Allah-Miliz befinden sich die syrischen Streitkräfte seit Wochen auf dem Vormarsch und haben mit einer Großoffensive die strategisch wichtige Region um die Städte Homs und Al Kusair fast gänzlich zurückerobern können. Damit bleibt die wichtige Straßenverbindung zwischen Damaskus und der syrischen Mittelmeerprovinz Latakia offen, während die Schmuggelroute der Rebellen für Waffen und Rekruten über den Nordlibanon quasi zum Versiegen gekommen ist.

Angesichts des für sie wenig zufriedenstellenden Kriegsverlaufs haben sich die wirtschaftlich schwächelnden Atommächte Frankreich und Großbritannien beim Treffen der EU-Außenminister am 27. Mai in Brüssel über die anderen 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union einfach hinweggesetzt und eine Verlängerung des Waffenembargos für Syrien blockiert. Das EU-weite Verbot des Waffenexports in das kriegsgeschüttelte Land läuft damit Ende Mai aus. Ab dem 1. Juni wollen Briten und Franzosen die Rebellen mit schweren Waffen und Munition beliefern. Auf diese Weise soll angeblich den "gemäßigten Kräften" unter den Assad-Gegnern unter die Arme gegriffen werden. Es ist jedoch anzunehmen, daß der Vorstoß den Konflikt weiter anheizen und für mehr Tod und Zerstörung in Syrien sorgen wird.

Beim Treffen in der belgischen Hauptstadt war dem britischen Außenminister William Hague und seinem französischen Amtskollegen Laurent Fabius die Durchsetzung der neokolonialen Interessen von London und Paris im Nahen Osten, die sie rhetorisch in das übliche Menschenrechtsgeschwafel kleideten, offenbar wichtiger als die Wahrung von Einigkeit in der EU-Außenpolitik. Das selbstherrliche Gebaren der Briten und Franzosen in der Syrien-Krise hat gleich am nächsten Tag eine Erwiderung aus Moskau erfahren. Nur wenige Stunden nach Bekanntwerden des geplanten Auslaufens des EU-Waffenembargos für Syrien hat Rußland angekündigt, es werde den Vertrag über den Verkauf russischer Luftabwehrraketen von Typ S-300 doch noch erfüllen.

In den vergangenen Wochen hatten US-Außenminister John Kerry, der britische Premierminister David Cameron und Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu bei Gesprächen in Rußland mit Präsident Wladimir Putin versucht, Moskau gerade hiervon abzubringen. Das mobile S-300-Luftabwehrsystem hat eine Reichweite von mehr als 250 Kilometern und gilt als sehr zielsicher. Es kann zeitgleich 100 Flugzeuge radartechnisch erfassen und zehn mit Raketen angreifen. Sein Einsatz in Syrien würde die Verhängung einer Flugverbotszone durch die NATO - worüber in westlichen Militärkreisen seit längerem diskutiert wird - schwer bis unmöglich machen. Bei der Ankündigung der Auslieferung der S-300-Raketen konnte sich Rußlands Stellvertretender Verteidigungsminister Sergej Riabkow einen Seitenhieb Richtung London und Paris nicht verkneifen. Die Maßnahme des Kremls könnte "einige Hitzköpfe" davon abbringen, den Konflikt in Syrien um eine "internationale Dimension" zu erweitern, sagte er der Presse.

Durch das Bekenntnis Moskaus zur Erfüllung des S-300-Liefervertrages und die Absicht von London und Paris, den Rebellen direkte Rüstungshilfe zukommen zu lassen, ist offenkundig geworden, daß man es in Syrien weniger mit einem Bürger- als vielmehr mit einem Stellvertreterkrieg verschiedenster ausländischer Akteure zu tun hat. Die Entscheidung Frankreichs und Großbritanniens, ihren Einsatz in Syrien zu erhöhen, hat den ohnehin schwierigen Bemühungen Rußlands und der USA um eine erfolgreiche Friedenskonferenz für Syrien in Genf im Juni schwer geschadet. Die Regierung von US-Präsident Barack Obama hat die Aufhebung des EU-Waffenembargos für die syrischen Aufständischen begrüßt und gleichzeitig die Entscheidung Moskaus zur Auslieferung der S-300-Luftabwehrraketen an Damaskus kritisiert. Ihrerseits haben die Russen die auf Betreiben der USA, Katars und der Türkei am 29. Mai erfolgte Verurteilung Syriens und der Hisb Allah durch den UN-Menschenrechtsrat wegen der Erstürmung von Al Kusair als "einseitig" und "abscheulich" verurteilt.

Doch während die Kämpfe in und um Al Kusair weiterhin toben und die syrische Armee angeblich eine Offensive zur Zurückeroberung der Handelstadt Aleppo nahe der türkischen Grenze vorbereitet, streitet man sich auf dem diplomatischen Parkett um die Teilnehmerliste für die große Friedenskonferenz in Genf. Trotz der Anwesenheit des türkischen Außenministers Ahmet Davutoglu, des US-Botschafters für Syrien Robert Ford und von Prinz Salman bin Sultan, dem Stellvertretenden Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrats Saudi-Arabiens, können sich die verschiedenen oppositionellen Gruppen seit Tagen weder über die Zusammensetzung des Führungsgremiums der Nationalen Koalition Syriens noch über dessen Teilnahme an den Gesprächen in Genf einigen. Dafür hat die syrische Opposition zur Bedingung gemacht, daß der Rücktritt von Präsident Assad bereits vor den Verhandlungen als Ergebnis feststehen soll. Dies lehnt die Regierung in Damaskus, die ihre Teilnahme an den Verhandlungen bereits zugesagt hat, als unzulässige Vorbedingung ab.

Bekanntlich will Rußland in Genf die Vertreter des Iran, des wichtigsten Verbündeten Syriens, dabei haben. Frankreich, die alte Kolonialmacht an der Levante, lehnt das sinnvolle Vorhaben Moskaus kategorisch ab und behauptet, Teheran und die Hisb Allah spielten im Syrienkonflikt eine "destruktive Rolle". Im Interview mit dem französischen Rundfunk fabulierte sich vor zwei Tagen Außenminister Fabius eine recht abstruse Begründung für Paris' Nein zur Einladung der Iraner nach Genf zurecht: "Wir befürchten, daß sie, wenn sie an der Syrien-Konferenz teilnehmen, die Dinge derart in die Länge ziehen, daß sie uns erpressen nach dem Motto, die Syrienkrise könne nur gelöst werden, wenn sie die Atombombe bekommen". Bekanntlich hat es bisher keinen einzigen stichhaltigen Beweis für die Existenz eines iranischen "Atomwaffenprogramms" gegeben, dafür zahlreiche fantasievolle Verdächtigungen westlicher Kriegstreiber.

30. Mai 2013