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NAHOST/1246: Stellvertreterkrieg in Syrien gerät außer Kontrolle (SB)


Stellvertreterkrieg in Syrien gerät außer Kontrolle

Israel mischt sich immer offener im Syrien-Konflikt ein



Der seit 2011 andauernde Bürgerkrieg in Syrien, der von Anfang an ein Stellvertreterkonflikt zwischen der Regierung Bashar Al Assads in Damaskus, dem Iran, der libanesisch-schiitischen Hisb Allah und Rußland auf der einen Seite und den Rebellen samt ihren Gönnern in den USA, der Türkei, Großbritannien, Frankreich, Katar, Saudi-Arabien, Jordanien und Israel auf der anderen gewesen ist, hat sich längst zum regionalen Flächenbrand entwickelt. Dies zeigen die jüngsten Autobombenanschläge in der türkischen Grenzstadt Reyhanli, die fast täglichen Schießereien zwischen verfeindeten Sunniten und Schiiten in der nordlibanesischen Hafenstadt Tripoli, die verheerende Anschlagswelle im Irak und die offene Beteiligung der Hisb-Allah-Miliz an den Kämpfen um die strategisch wichtige Stadt Al Kusair, die Damaskus mit der Mittelmeerprovinz Latakia verbindet. Die jüngsten Entwicklungen bergen sogar die Gefahr eines zwischenstaatlichen Konflikts in sich, den zu vermeiden, die von den USA und Rußland für Juni geplante Syrien-Friedenskonferenz die letzte Gelegenheit bieten könnte.

Der einzige Staat, der bisher offen - im Gegensatz zu den verdeckten Operationen mit der Entsendung von Spezialstreitkräften, Militärberatern, Söldnern, Waffen, Lebensmitteln und Geld - in den Syrienkonflikt eingegriffen hat, ist Israel. Im Februar und Anfang Mai hat die israelische Luftwaffe Bomben- und Raketenangriffe auf Ziele im nördlichen Nachbarland geflogen. Tel Aviv behauptet, es habe sich dabei um keine Intervention in den Bürgerkrieg, sondern ausschließlich um die Wahrung der eigenen nationalen Sicherheit durch die Vernichtung hochmoderner Boden-Boden-Raketen vom Typ Fateh-110 gehandelt, die angeblich über Syrien vom Iran an die Hisb-Allah-Miliz im Libanon adressiert waren. Die Regierung in Damaskus sieht das natürlich anders. In dem Interview, das Assad vor wenigen Tagen der argentinischen Zeitung Clarín gegeben hat, warf der syrische Präsident Israel vor, es würde "die terroristischen Gruppen direkt unterstützen". Er behauptete, die Israelis leisteten den Aufständischen "logistische Unterstützung" und betrieben für sie Feindaufklärung, "welche Ziele sie angreifen sollten und wie". Als Beispiel nannte er einen Überfall der Rebellen auf eine Radarstation, die zum nationalen Luftabwehrsystem Syriens gehört.

Auch wenn der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu bestreitet, das Assad-"Regime" stürzen zu wollen, und behauptet, sich ernsthaft Sorgen wegen einer eventuellen Machtübernahme salafistischer Kräfte in Damaskus zu machen, stehen kritische Beobachter seinen Beteuerungen skeptisch gegenüber. Bei dem jüngsten massiven Bombardement der israelischen Luftwaffe nahe Damaskus sollen wichtige Militärinstallationen der Assad-treuesten Truppenteile zerstört worden sein, und das gerade in einer Phase, in der die syrische Armee mit Hilfe der Hisb Allah wichtige Etappensiege gegen die Rebellen in der Region um Homs und Al Kusair sowie im Süden nahe der Stadt Deraa und an der Grenze zu Jordanien verzeichnete. Die Videoaufnahmen der gigantischen Explosionen über dem Himmel der syrischen Hauptstadt, die später im Internet sowie im Fernsehen zu sehen waren, scheinen irgendwelche Dschihadisten aufgenommen zu haben. Dafür sprechen die vielen "Allahu-Akbar-Rufe" auf der Tonspur, was wiederum den Schluß nahelegt, daß die Rebellen in die Operation, vielleicht als Späher, eingeweiht waren.

Seit dem sogenannten Sechstagekrieg 1967 hält Israel den größten Teil der syrischen Golanhöhen besetzt. Die strategisch wichtige Bergregion gerät in den letzten Tagen immer mehr in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung beider Staaten, die sich immer noch formell im Krieg miteinander befinden. In den letzten zwei Monaten sind dort dreimal UN-Soldaten, die zur Aufrechterhaltung des Waffenstillstands beitragen, von syrischen Aufständischen vorübergehend in Geiselhaft genommen worden. Aus Angst vor syrischen Vergeltungsattacken hat Israel nach den Luftangriffen bei Damaskus auf den Golanhöhen Batterien des Patriot-Raketenabwehrsystems stationiert. Am 16. Mai strahlte der konservative US-Nachrichtensender Fox News Bilder aus, die ein eigenes Reporterteam am selben Tag auf den Golanhöhen aufgenommen hatte und auf denen eindeutig zu sehen war, wie eine Einheit israelischer Soldaten zu Fuß von einer Mission auf der syrischen Seite der Grenze heimkehrte.[1]

In den vergangenen Monaten sind vereinzelte Kugeln und Mörsergranaten aufgrund von Kämpfen zwischen syrischen Soldaten und Rebellen in Syrien auf der israelischen Seite der Grenze eingeschlagen. In den frühen Morgenstunden des 21. Mai kam es dort jedoch zum ersten gezielten Schußwechsel zwischen den Streitkräften beider Staaten. Bei einer Nachtpatrouille soll ein Geländewagen der israelischen Armee von den Syrern unter Beschuß genommen worden sein, woraufhin die Israelis das Feuer erwidert haben sollen. Die Syrer behaupten, das Fahrzeug, das sich auf ihrer Seite der Waffenstillstandslinie befunden haben soll, zerstört zu haben. Nach israelischen Angaben kam niemand bei dem Schußwechsel ums Leben. Man habe lediglich das unprovozierte Feuer der Gegenseite erwidert und bei der Position der syrischen Schützen einen "Volltreffer" gelandet. Der israelische Generalstabschef Benny Gantz hat später am selben Tag mit einem offenen Krieg gedroht, sollte es zu einem weiteren solchen Zwischenfall kommen.

Auf diese Eventualität bereiten sich Israelis und Syrer gleichermaßen vor. Am 19. Mai berichtete die Londoner Sunday Times, die syrischen Streitkräfte hätten inzwischen Boden-Boden-Raketen vom Typ SM-600 (Tishreen), deren konventioneller Sprengkopf 450 Kilogramm wiegt, in Stellung gebracht und auf Ziele in Israel ausgerichtet. Präsident Assad hätte den Beschuß israelischer Städte für den Fall befohlen, daß Tel Aviv Luftangriffe auf Ziele in Syrien fliegt. Bereits am 14. Mai war Netanjahu bei einem Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin im Schwarzmeerbadeort Sotschi mit dem Versuch, Moskau von der geplanten Lieferung hochmoderner Luftabwehrraketen vom Typ S-300 an Syrien abzubringen, gescheitert. Vereinzelten Medienberichten zufolge soll ein Teil der Lieferung bereits in Syrien eingetroffen sein.

Die Bemühungen Rußlands um die Unterstützung seines langjährigen Verbündeten Syrien gehen inzwischen weit über die Frage der S-300 hinaus. Am 17. Mai machte die New York Times unter Verweis auf Quellen im US-Regierungsapparat bekannt, die Russen hätten eine unbekannte Anzahl hochmoderner Anti-Schiff-Lenkwaffen vom Typ Jachont an die syrischen Streitkräfte geliefert. Die Jachont gilt als absoluter "Schiff-Killer". Ihre Stationierung an der syrischen Mittelmeerküste dürfte die Durchführung eventueller Pläne der NATO bezüglich einer Seeblockade oder Luft- und Raketenangriffen von See aus auf Ziele in Syrien erheblich erschweren und verlustreicher erscheinen lassen. Nicht umsonst hat US-Generalstabschef Martin Dempsey die Aufrüstung der syrischen Armee mit der Jachont als "bedauerlich" bezeichnet.

Erschwerend kommt für die NATO hinzu, daß vor wenigen Tagen zwölf russische Kriegsschiffe, die größtenteils der Pazifikflotte entstammen und angeblich von atombetriebenen U-Booten begleitet werden, vor der syrischen Küste auf Station gegangen sind. Nach Angaben des Kremls besteht der Zweck der Präsenz der Schiffe in der Wahrung russischer Interessen im östlichen Mittelmeer. Damit ist nicht nur der Schutz des syrischen Hafens Tartus, wo Rußland seinen einzigen Marinestützpunkt außerhalb des eigenen Staatsterritoriums hat, sondern auch die Unterstützung für den geplanten Bau einer Gas-Pipeline vom Iran an die syrische Mittelmeerküste gemeint. In Konkurrenz zu diesem Vorhaben, bei dem im Hintergrund das russische Energieunternehmen Gazprom die Fäden ziehen soll, steht eine von Katar favorisierte Gas-Pipeline in die Türkei. Zur Verwirklichung der eigenen geplanten Energietrasse hat sich Katar nach Angaben der Financial Times seine Unterstützung für die syrischen Rebellen in den letzten 26 Monaten ganze drei Milliarden Dollar kosten lassen.

Fußnote:

1. http://www.businessinsider.com/israeli-special-forces-inside-syria-2013-5

22. Mai 2013