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NAHOST/1172: Zerfall Syriens - Ein Glücksfall für die Kurden? (SB)


Zerfall Syrien - Ein Glücksfall für die Kurden?

Kämpfe um Aleppo bieten der Türkei den Anlaß zur Intervention



Der plötzliche, jedoch nicht sonderlich überraschende Rücktritt des UN-Sondergesandten Kofi Annan am 2. August stellt den Todesstoß für die Bemühungen um eine friedliche Beilegung des seit 17 Monaten andauernden Konfliktes zwischen Aufständischen und Regierungstruppen in Syrien dar. Wie nicht anders zu erwarten war, machte die westliche Diplomatie in Form des deutschen Außenministers Guido Westerwelle sofort China und Rußland für das Scheitern der Annan-Mission verantwortlich, weil sie im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wiederholt die von den USA, Frankreich und Großbritannien angestrebte Verhängung härterer Sanktionen gegen die Regierung in Damaskus blockiert hatten.

Tatsächlich ist Annan jedoch am Friedensunwillen der Konfliktparteien in Syrien selbst gescheitert, allen voran den Rebellen, die von den USA, Großbritannien, Frankreich, der Türkei, Israel, Katar, Jordanien und Saudi-Arabien finanziell und militärisch unterstützt werden und von ihren Gönnern zu keinem Zeitpunkt zum Nachlassen ihrer Anstrengungen um einen "Regimewechsel" gedrängt wurden. Alle Bezichtigungen Moskaus und Pekings durch Westerwelle und Konsorten zum Trotz dürfte es kein Zufall sein, daß der ehemalige UN-Generalsekretär das Handtuch gerade einen Tag nach dem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters geworfen hat, wonach US-Präsident Barack Obama bereits Anfang dieses Jahres der CIA den Befehl erteilt habe, alles erdenkliche zu unternehmen, um den Sturz des syrischen Präsidenten Bashar Al Assad herbeizuführen.

Derzeit liefern sich die Aufständischen und staatlichen Streitkräfte Syriens einen erbitterten Kampf um die Herrschaft in der Millionenstadt Aleppo, die unweit der Grenze zur Türkei liegt und der deshalb große strategische Bedeutung zukommt. Gelingt es den Rebellen ihre Stellungen in der Wirtschaftsmetropole halbwegs zu halten, dann bietet sich der Nordosten Syriens als Brückenkopf für eine "humanitäre" Intervention der NATO an. Berichte vom Aufmarsch türkischer Panzerverbände auf ihrer Seite des Grenzabschnitts lassen eine solche Entwicklung wahrscheinlich erscheinen. Das Gleiche gilt für das Telefonat, das US-Präsident Obama am 1. August von Washington aus mit dem türkischen Premierminister Recep Tayyip Erdogan in Ankara führte. Anschließend veröffentlichte das Weiße Haus ein Foto, auf dem Obama, am Schreibtisch im Oval Office sitzend, mit dem Hörer in der linken Hand und einem Baseballschläger in der rechten zu sehen war. Die Symbolik ist klar: die türkischen Streitkräfte - innerhalb der nordatlantischen Allianz die mannschaftstärksten nach den USA - sollen in Syrien für die NATO die Kastanien aus dem Feuer holen.

Die meisten Türken stehen jedoch einer Militärintervention ihres Landes im Syrien-Konflikt aus mehreren Gründen ablehnend gegenüber. Wegen des jahrelangen Machtkampfes zwischen der Generalität und Erdogans islamischer Partei für Fortschritt und Gerechtigkeit (AKP) gelten die Befehlsstrukturen innerhalb der türkischen Streitkräfte als nur bedingt belastbar und sind der Herausforderung einer ordnenden Rolle in Syrien eventuell gar nicht gewachsen. Darüber hinaus befürchtet man ein Übergreifen des religiösen und ethnischen Konflikts in Syrien auf die türkische Republik - was mit Sicherheit durch ein militärisches Eingreifen befördert würde. Hier geht es nicht nur um die Spannungen zwischen sunnitischer Mehrheit und alewitischer Minderheit, sondern auch um die Auswirkungen des syrischen Bürgerkrieges auf den lange andauernden Konflikt zwischen der Zentralregierung in Ankara und den Kurden im Osten der Türkei.

Bereits vor einigen Wochen haben sich die syrischen Streitkräfte aus dem Nordosten des Landes weitestgehend zurückgezogen und die Kontrolle einer regionalen Allianz aus der Democratic Union Party (PYD), die als Schwesterorganisation der in der Türkei verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) gilt, und dem Kurdish National Council (KNC) überlassen. Letzterer steht der Regierung des autonomen kurdischen Nordiraks nahe, dessen Präsident Massud Barsani nach eigenen Angaben die am 11. Juli getroffene Vereinbarung zwischen den syrischen Kurden und der oppositionellen Syrischen Nationalrat eingefädelt hat. Barsanis eigene Peschmerga bilden inzwischen im Nordirak syrische Kurden an der Waffe aus, welche die "befreiten" Städten der Region al-Hasekah - Efrin, Kobane and Amuda - nahe der Grenze zum Südosten der Türkei verteidigen sollen.

Inzwischen verstärken sich offenbar die Unabhängigkeitsbestrebungen der irakischen und syrischen Kurden gegenseitig. Als Ende Juli syrische Rebellen vorübergehend die Kontrolle über mehrere Armeeposten an der Grenze zum Irak übernahmen, haben die Peshmerga irakische Streitkräfte, die von der Regierung in Bagdad zur Grenze geschickt worden waren, um dort für Ordnung zu sorgen, an der Durchführung ihrer Mission gehindert. Sie durften den Boden des kurdischen Nordiraks nicht betreten. Am 29. Juli warf die Regierung des schiitischen Premierministers Nuri Al Maliki in Bagdad Kurdenführer Barsani sogar vor, einen geheimen Deal mit einer "ausländischen Macht" bezüglich der des Erhalts schwerer Waffen, darunter Anti-Panzer-Granaten und Boden-Luft-Raketen, beschlossen und damit gegen die irakische Verfassung verstoßen zu haben.

In der Türkei ist man über diese Entwicklung alles andere als erfreut. Nach dem Abzug der staatlichen Streitkräfte aus dem syrischen Nordosten haben Erdogan und sein Außenminister Ahmed Davutoglu mit einem Einmarsch der türkischen Armee gedroht, angeblich um die Entstehung eines Gebiets, aus dem die "terroristische" PKK frei agieren könnte, zu verhindern. Das Säbelrasseln der Türken kam wiederum im benachbarten Iran ganz schlecht an. Am 30. Juli berichtete die Nachrichtenagentur Agence France Presse unter Berufung auf die arabische Zeitung Al-Watan, Teheran hätte in einem Telefonat mit Ankara "dringend" vor dem Überschreiten einer roten Linie abgeraten. Laut Al-Watan lautet die eindeutige Botschaft des Irans an die Türkei wie folgt:

Jeder Angriff auf syrisches Territorium wird mit einer scharfen Reaktion beantwortet und das gegenseitige Verteidigungsabkommen zwischen dem Iran und Syrien aktiviert werden.

Unter Verweis auf einen nicht namentlich genannten "arabischen Diplomaten" schrieb Al-Watan weiter:

Ankara bereitet eine Vereinbarung mit Washington hinsichtlich einer Militärintervention in Syrien vor und benutzt die kurdische Karte als Vorwand. Die Türkei hat sich mit den Vereinigten Staaten auf eine militärische Intervention geeinigt, die sich auf den Norden Syriens, spezifisch auf die nördliche Provinz Aleppo, beschränkt, um der Schaffung einer Sicherheitszone den Weg zu ebnen, die von bewaffneten Banden kontrolliert werden soll.

Derzeit besteht die Hauptbruchlinie in Syrien - wie übrigens auch im Irak, im Libanon sowie zwischen Saudi-Arabien und dem Iran - zwischen Sunniten auf der einen Seite, Schiiten, Alewiten und Christen auf der anderen. Sich in dieser Situation so gut wie möglich aus der Schußlinie zu bringen, könnte sich für die Kurden langfristig als vorteilhaft erweisen. Die Kräfte, die der Sturz Saddam Husseins 2003 im Irak durch angloamerikanische Kampftruppen und die von der CIA und Al Kaida forcierte Destabilisierung Syriens ausgelöst haben, verwandeln den Nahen Osten in ein Schlachthaus. Es läuft gerade eine Balkanisierung der Region zwischen Mittelmeer und Arabischen Meer an, die vor den bis heute weitestgehend gültigen Staatsgrenzen des Sykes-Picot-Abkommens, mit dem Frankreich und Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg den Nahen Osten unter sich aufteilten, nicht halt machen wird. Damals waren die Kurden die großen Verlierer dieser Kolonialaufteilung. Ungeachtet des zu erwartenden Einspruchs der Neo-Ottomanen Erdogan und Davutoglu könnten sie noch als Gewinner aus der aktuellen "Neuordnung" hervorgehen.

3. August 2012