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NAHOST/1077: Israel sanktioniert Versöhnungskurs unter den Palästinensern (SB)


Machtdemonstration und Drohkulisse am Holocaustgedenktag


In Israel gedachte man gestern mit dem Holocaustgedenktag Jom HaSchoah jener sechs Millionen Juden, die in den Konzentrationslagern ermordet wurden. Am Montagmorgen heulten dazu im ganzen Land die Sirenen und die Menschen verharrten für zwei Schweigeminuten. Heute leben in Israel noch etwa 204.000 Überlebende der Schoah, die meisten von ihnen sind um die 80 Jahre alt. Wie Premierminister Benjamin Netanjahu bei einer Zeremonie in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem hervorhob, scheine es viel leichter zu sein, über die Lehren zu sprechen, die aus der Vergangenheit gezogen wurden, als sie in der Gegenwart und Zukunft umzusetzen. [1]

Welche Lehren kann man aus der Vergangenheit ziehen? Eine Konsequenz wäre das unbedingte Postulat, das derartiges Menschen nie wieder angetan werden darf. Dies könnte zur Folge haben, sich entschieden und unterschiedslos gegen jede Form von Rassismus, Unterdrückung und Vernichtung zu wenden. Diesen Schluß hat die israelische Regierung offenbar nicht gezogen, glichen ihre offiziellen Verlautbarungen zum Holocaustgedenktag doch einer plazierten Demonstration eigener Macht samt unverhohlenen Drohungen an die Adresse regionaler Nachbarn und insbesondere der Palästinenser.

Israel dürfe es nicht ignorieren, wenn die Existenz des jüdischen Staates bedroht wird - dies sei eine der wichtigsten Lehren des Holocaust, unterstrich Netanjahu. Indem er sich der politischen Formel des "jüdischen" Staates bediente, grenzte er jenes Fünftel israelischer Staatsbürger aus, die arabischer oder anderer Herkunft sind, und bestand mithin auf der Suprematie einer rassistischen Staatsdoktrin. Zugleich zog der israelische Regierungschef Parallelen zwischen der Bedrohung durch die Nationalsozialisten und der israelfeindlichen Haltung des Irans: "Neue Unterdrücker leugnen den Holocaust und rufen zu unserer Zerstörung auf. Der Iran und seine Verbündeten, die Hisbollah und die Hamas, fordern offen die Vernichtung des jüdischen Staates. Alle zivilisierten Menschen auf der Welt, all die, die sagen, dass sie die Lektionen des Holocaust gelernt haben, müssen unmissverständlich diejenigen verurteilen, die zur Zerstörung des jüdischen Staates aufrufen."

Netanjahu warnte in seiner Rede davor, daß der uralte Haß auf Juden die Form von Haß auf Israel annehme: "Auch heute gibt es die, die dem jüdischen Staat die Schuld für alles Übel in der Welt geben - von den erhöhten Ölpreisen bis zur Instabilität in unserer Region." Bezeichnenderweise sparte Netanjahu eben jene Einwände aus, die Kritiker der israelischen Regierungspolitik tatsächlich vorhalten, wie insbesondere die eskalierende Drangsalierung der Palästinenser. So sehr jede Art von Rassismus gegen Juden abzulehnen ist, muß das gleichermaßen für Palästinenser oder weiter gefaßt Menschen anderen Glaubens wie insbesondere auch des islamischen gelten.

Das langerprobte Manöver, jede Kritik an der Regierungspolitik Israels ideologisch als Judenfeindlichkeit zu stigmatisieren, wird durch die unablässige Wiederholung nicht glaubwürdiger, zumal die überprüfbare Handlungsweise im Umgang mit den Palästinensern im eigenen Land und in den besetzten Gebieten eine eindeutige Sprache gezielter Entwürdigung und Unterdrückung spricht. Nicht Menschlichkeit und Versöhnung führte Netanjahu im Munde, sondern das Gebot unabdingbarer Stärke des Staates Israel, die allein geeignet sei, Schutz zu gewährleisten. "Unsere Beziehungen mit den führenden Ländern in der Welt, und mit anderen Ländern im allgemeinen, sind extrem wichtig für uns, und wir investieren in sie, pflegen und entwickeln sie. Aber wenn wir nicht die Fähigkeit haben, uns selbst zu schützen, wird die Welt nicht an unserer Seite stehen", so der Regierungschef.

Zwar sprach Netanjahu einen kurzen Augenblick lang von Frieden, als er erklärte, man strecke die Hände "in Frieden allen unseren Nachbarn entgegen, die friedlich mit uns leben wollen". Dem schloß sich jedoch augenblicklich die Drohung an: "Aber wir werden denen standhalten, die uns verletzen wollen. Und heute, am Holocaust-Gedenktag, rufe ich all unsere Feinde auf und sage, dass sie eine Sache über das jüdische Volk wissen sollten: Sie stehen dem gewaltigen Geist eines Volkes gegenüber, welches das schlimmste Übel überwunden hat, das die Menschheit je gesehen hat. Und die Welt muss wissen, wenn das Volk Israel und die israelische Armee sagen 'nie wieder' - dann meinen sie das auch."

Da das Gedenken an die Schoah von der Nachricht über die Tötung Osama bin Ladens durch US-Truppen in Pakistan überlagert wurde, nutzten israelische Regierungsvertreter die Koinzidenz, um propagandistisch ihren Vorteil daraus zu ziehen. Von der Aktion gehe die Botschaft aus, daß Terror und das Böse keinen dauerhaften Unterschlupf fänden und letztlich zerstört würden, so wie die Nazis Jahrzehnte zuvor, erklärte Vizeaußenminister Danni Ajalon. In dieselbe Kerbe schlug Israels ultrarechter Außenminister Avigdor Lieberman im israelischen Armeerundfunk mit der abgestandenen Behauptung, Israel sei eines der Hauptziele von Al Kaida gewesen. Diese habe versucht, Zellen im Gazastreifen und im Westjordanland zu bilden.

Daß das Existenzrecht des Staates Israel keineswegs im gleichen Sinn für den zu gründenden Palästinenserstaat gelten soll, unterstrich die israelische Regierung mit ihrer Reaktion auf die sich anbahnende Versöhnung der jahrelang verfeindeten palästinensischen Fraktionen Hamas und Fatah. Finanzminister Juval Steinitz erklärte im israelischen Armeesender, man werde Steuer- und Zollrückzahlungen in Millionenhöhe an die Palästinenser vorerst stoppen. Eine Tranche in Höhe von umgerechnet etwa 60 Millionen Euro, die in dieser Woche überwiesen werden sollte, wird demnach zurückgehalten. Ein geplantes Treffen zur Überweisung der durch Israel erhobenen Steuern an die Autonomiebehörde sei auf unbestimmte Zeit verschoben worden, so Steinitz.

Gemäß den Nahost-Friedensregelungen aus den 1990er Jahren ist Israel verpflichtet, der Autonomiebehörde Steuern und Zölle zu überweisen, die sie für sie einsammelt. Nach Angaben des Finanzministers belaufen sich diese auf umgerechnet bis zu 700 Millionen Euro im Jahr. Wie Steinitz zur Begründung der Sanktion anführte, müsse zunächst geklärt werden, ob die Gelder nicht in die Hände militanter Palästinenser gelangten: "Sie müssen jetzt erst einmal erklären, ob es eine gemeinsame Kasse von Fatah und Hamas gibt. Natürlich könnte Israel dann kein Geld an eine Kasse der Hamas überweisen - einer Terrororganisation." [2] "Ich denke, die Nachweispflicht liegt bei den Palästinensern. Sie müssen uns garantieren, dass das Geld aus Israel nicht an die Hamas, nicht an eine terroristische Organisation fließt und keine Terrorakte gegen israelische Bürger finanzieren wird." [3]

Dem hielt man auf palästinensischer Seite entgegen, Israel habe kein Recht, die Gelder zurückzuhalten. Die Palästinensische Autonomiebehörde stehe "im Kontakt mit allen international einflussreichen Kräften und Parteien, um Israels Maßnahme zu stoppen", teilte Ministerpräsident Salam Fajad nach einem Bericht der amtlichen Nachrichtenagentur Wafa mit. [4] Die von Israel überwiesene Summe macht rund zwei Drittel des Haushalts der Autonomiebehörde aus, was die einschneidenden Konsequenzen dieser Strafmaßnahme deutlich macht, derer sich die israelische Regierung in der Vergangenheit schon mehrfach als Druckmittel bedient hat.

Bestraft wird das Ansinnen von Fatah und Hamas, ihre zahlreichen und tiefgreifenden Kontroversen beizulegen, eine Übergangsregierung zu bilden, Neuwahlen durchzuführen und den Wiederaufbau des Gazastreifens vorzubereiten. "Diese Maßnahmen Israels werden uns nicht davon abhalten, alle erdenklichen Anstrengungen zu unternehmen, um die Trennung zu beenden und die nationale Einheit wiederherzustellen, was immer an derartigen Aktionen, Schritten oder Drohungen dagegen ins Feld geführt wird", versicherte Fajad. [5]

Beide Seiten sind bestrebt, sich internationalen Rückhalt für ihre Position zu verschaffen, der bislang in aller Regel einseitig der israelischen Regierung gewährt wurde. Nach den Worten Netanjahus betreffe das Abkommen zwischen Fatah und Hamas nicht nur alle Bürger seines Landes, sondern all jene weltweit, die Frieden zwischen Israel und seinen palästinensischen Nachbarn herbeisehnten. Frieden könne man jedoch nur mit solchen Kräften schließen, die eine friedliche Koexistenz wünschten und nicht die Vernichtung Israels anstrebten. Diese Botschaft wolle er den europäischen Führern übermitteln, mit denen er im Laufe dieser Woche in London und Paris zusammentreffe.

Um diesbezüglich Druck zu entfalten, hat der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, die Bitte von Mahmud Abbas um ein Treffen bei seinem anstehenden Besuch in Berlin abgelehnt. Wie aus einem Schreiben Graumanns an das Auswärtige Amt hervorgeht, bestehe für das Gespräch "aufgrund der jüngsten Ereignisse, insbesondere angesichts der vor wenigen Tagen erklärten ,Versöhnung' zwischen Fatah und Hamas, gerade im Moment leider keine tragfähige politische Basis. Die Hamas ist und bleibt unserer Überzeugung nach eine Terrororganisation, die Männer, Frauen und Kinder in Israel nicht nur mit Raketen angreift und die Existenz des Staates Israel bis heute ungerührt und unbelehrbar bestreitet und blutig bekämpft, sondern auch die Menschenrechte der palästinensischen Bevölkerung mit Füßen tritt". Die "Verbrüderung" beider Organisationen sei "ein schwerer Rückschlag für die Friedensbemühungen und für die Glaubwürdigkeit von Präsident Abbas als Partner für einen Frieden".

"Die Hilfsgelder, die nach Gaza geflossen sind, hat die Hamas eben nicht für soziale Zwecke investiert, sondern in den Aufbau eines beinharten Unterdrückungsregimes. Wenn das jetzt allen Palästinensern droht, sehe ich schwarz", so Graumann. "Europa und der Westen sollten dringend ihre Unterstützung für die Palästinenser überdenken." Zugleich begrüßte Graumann die Haltung von Bundesaußenminister Guido Westerwelle, wonach die Hamas derzeit kein politischer Ansprechpartner sein könne. Auch vertraue er "voll auf die Fähigkeit von Bundeskanzlerin Angela Merkel, Abbas ihren Standpunkt in aller Deutlichkeit klarzumachen". [6]

Entgegen dem auf die israelische Regierungspolitik eingeschworenen Trend der deutschen Mehrheitsmedien regt sich jedoch selbst in konservativen Blättern dieser Tage die eine oder andere Stimme, welche eine Aussöhnung der Palästinenser für unterstützenswert und einen gangbaren Weg hält, ein Friedensabkommen im Nahen Osten herbeizuführen. Die israelische Regierung und ihre Parteigänger müssen sich die Frage gefallen lassen, welche Alternative außer blockierten Friedensverhandlungen, fortgesetztem Siedlungsbau und immer neuen repressiven Maßnahmen gegen die Palästinenser sie anzubieten haben. Der Verdacht drängt sich auf, daß ein Palästinenserstaat mit allen Mitteln verhindert werden soll, da er den expansionistischen Ambitionen, wie sie in Israel mehr denn je den Ton angeben, im Wege stünde. Damit bleibt für die Lösung des "Palästinenserproblems" nur die fortgesetzte Verdrängung und Vertreibung, die zwangsläufig in weitere blutige Auseinandersetzungen münden muß.

Anmerkungen:

[1] Holocaust-Gedenktag: Netanjahu warnt vor Hass gegen Israel (02.05.11)
http://www.israelnetz.com/themen/innenpolitik/artikel-innenpolitik/datum/2011/05/02/holocaust-gedenktag-netanjahu-warnt-vor-hass-gegen-israel/

[2] Israel reagiert mit Sanktionen auf Versöhnung (02.05.11)
http://www.zeit.de/politik/ausland/2011-05/israel-steuern-palaestina

[3] Israel stoppt Zahlungen. Steuern werden nicht an Palästinenser weitergeleitet (02.05.11)
http://www.sueddeutsche.de/A5k38Q/4065689/Israel-stoppt-Zahlungen.html

[4] Israel hält Steuereinnahmen für Palästinenser zurück (02.05.11)
http://de.reuters.com/article/topNews/idDEBEE74101520110502

[5] Israel Holds Palestinian Funds as Deal Nears (02.05.11)
New York Times

[6] Zentralrat lehnt Treffen mit Abbas ab. Hamas-Fatah-Regierung sorgt für Irritationen (01.05.11)
http://www.welt.de/print/wams/politik/article13313625/Zentralrat-lehnt-Treffen-mit-Abbas-ab.html

3. Mai 2011