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NAHOST/1055: Gaddhafis Al-Kaida-Wahn aus der Luft gegriffen? (SB)


Gaddhafis Al-Kaida-Wahn aus der Luft gegriffen?

Bin-Laden-Truppe in Libyen schon länger das Werkzeug des Westens


In Libyen bleibt die Lage unübersichtlich. Während die meisten Ausländer das Land verlassen haben, blasen die Aufständischen, die inzwischen weite Teile des Landes kontrollieren und zu denen nicht wenige Polizei- und Armeeeinheiten übergelaufen sind, an diesem 25. Februar zum Sturm auf die Hauptstadt Tripolis. Dort hat sich Staatschef Muammar Gaddhafi mit einem letzten Aufgebot an Familienmitgliedern, Anhängern, ihm gegenüber noch treuen Polizisten und Soldaten sowie ausländischen Söldnern offenbar verschanzt. Man fürchtet das Schlimmste. Schließlich hat Gaddhafi in seinen beiden letzten Reden am 22. und am 24. Februar an die libysche Nation damit gedroht, bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen und bei seinem Abgang ein Land "in Flammen" zu hinterlassen.

Die Äußerungen des alternden Gaddhafi, der das offensichtliche Scheitern seiner "Revolution" nicht einsehen will, haben Befürchtungen aufkommen lassen, er könnte in einer Art Verzweiflungstat per Scud-Rakete die Bestände der libyschen Streitkräfte an Chemiewaffen gegen seine Gegner einsetzen, was die Zahl der bereits Getöteten von derzeit rund 2000 drastisch erhöhen würde. Tatsächlich hat der Revolutionsführer bei beiden genannten Auftritten einen geistig höchst instabilen Eindruck hinterlassen. Seine Sprache war wirr und seine Haßtiraden auf die eigene libysche Jugend, der er den Verrat an der nationalen Sache ankreidet, menschenverachtend. Doch wenn nun seitens vieler westlicher Kommentatoren die Tatsache, daß Gaddhafi beide Male ausdrücklich das Al-Kaida-"Netzwerk" von Osama Bin Laden und Aiman Al Zawahiri mitunter für die politischen Umwälzungen in seinem Land verantwortlich machte, dahingehend auslegen, daß der libysche Staatschef unter Verfolgungswahn leide und nicht mehr zurechnungsfähig sei, dann zeugt das nur von deren verkürzter, selbstzufriedener Sicht der Dinge.

1997 sorgte in Großbritannien David Shayler, der ehemalige Libyen-Referent des dortigen Inlandsgeheimdienstes MI5 für eine spektakuläre Staatsaffäre, als er in einem Zeitungsartikel enthüllte, daß ein Jahr zuvor der britische Auslandsgeheimdienst MI6 mit rund 100.000 Pfund einen gescheiterten Bombenanschlag "islamistischer" Freischärler auf Gaddhafi finanziert hatte, das einige von dessen Wachleuten und mehrere Zivilisten das Leben kostete. Nach einer kurzen Flucht 1998 nach Frankreich kehrte Shayler 2000 nach Großbritannien zurück, wo man ihm zwei Jahre später den Prozeß wegen Verstoßes gegen die Geheimhaltungsgesetze machte.

Die damalige Gerichtsverhandlung fand nicht nur hinter verschlossenen Türen statt. Darüber hinaus durften über den explosivsten Aspekt der Enthüllungen Shaylers, nämlich die heimliche Zusammenarbeit Londons mit Al Kaida, vermeintlich eine der größten Bedrohungen der westlichen Zivilisation, die britischen Medien aufgrund einer offiziellen Nachrichtensperre mit Namen "D Notice" nicht einmal berichten. Auf Anweisung des Richters sprachen die Geschworenen Shayler des Verstoßes gegen das britische Staatsgeheimnisschutzgesetz, das berüchtigte Official Secrets Act, für schuldig. Wegen einer zuvor getroffenen Vereinbarung mit dem britischen Innenministerium zur Vertuschung der Affäre bekam er eine Freiheitsstrafe von lediglich sechs Monaten.

Im Frühjahr 2002, rund ein halbes Jahr nach den schrecklichen und weltbewegenden Flugzeuganschlägen auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Arlington sorgten Jean-Charles Brisard und Guillaume Dasquié mit dem Enthüllungsbuch "Die verbotene Wahrheit: Die Verstrickungen der USA mit Osama bin Laden" für Furore. In dem Buch bestätigten die beiden französischen Geheimdienstexperten die Richtigkeit der Behauptungen Shaylers, wonach 1996 der MI6 Bin Ladens Gesinnungsgenossen bei der islamischen Kampfgruppe (IFG), auch al-Muqatila genannt, der mit Duldung der britischen Regierung von London aus operierenden, größten "islamistischen" Exilgruppierung Libyens, mit der Eliminierung Gaddhafis anläßlich eines öffentlichen Umzuges durch die Stadt Sirtre beauftragt hatte. Für Brisard und Dasquié erklärte die peinliche Tatsache der Verwicklung des MI6 in den mißlungenen "Terroranschlag" der Al Kaida auf Gaddhafi, warum Interpol die Existenz des ersten internationalen Haftbefehls gegen Bin Laden, einen sogenannten "roten Vermerk" mit der Aktennummer A-268/5-1998 wegen der Ermordung von Silvan Becker und seiner Frau, die in Libyen für den deutschen Verfassungschutz gearbeitet haben sollen, niemals an die große Glocke gehängt hatte. Man mag Gaddhafi zu Recht vieles nachsagen und vorwerfen, doch gänzlich unbegründet ist seine Furcht vor "islamistischen" Umtrieben nicht.

Fußnote:

1. Zur Affäre um David Shayler siehe SCHATTENBLICK -> INFOPOOL -> POLITIK -> REPORT -> INTERVIEW/022: Ex-MI5-Agentin Annie Machon (SB)

25. Februar 2011