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NAHOST/995: Die MV Rachel Corrie nimmt Kurs auf den Gazastreifen (SB)


Die MV Rachel Corrie nimmt Kurs auf den Gazastreifen

Free Gaza Movement will Israels Blockade zur See durchbrechen


Die Abriegelung und wirtschaftliche Blockade des Gazastreifens, mit der Israel - mit Hilfe Ägyptens im Süden - die gewählte palästinensische Hamas-Regierung zur Aufgabe zu zwingen versucht, sorgt seit ihrer Verhängung 2007 weltweit für Empörung. Hauptleidtragende der drakonischen Maßnahme sind natürlich die Eineinhalbmillion Gazabewohner, die besonders seit der brutalen israelischen Militäroperation Vergossenes Blei Ende 2008, Anfang 2009 unter widrigsten Bedingungen - extrem hoher Arbeitslosigkeit, kaputter und zerbombter Infrastruktur, Stromausfällen, einer Knappheit an allen Gütern des täglichen Bedarfs - überleben müssen. Vor diesem Hintergrund wollen internationale Friedensaktivisten von der Free Gaza Movement in den kommenden Wochen versuchen mit einer kleinen Flotille den von der Außenwelt abgeschotteten Küstenstreifen von See her zu erreichen. Mit der Aktion will man Israels Verhalten bloßstellen, Solidarität mit den Menschen in Gaza demonstrieren und ihnen dringend benötigte Hilsgüter bringen.

Zu diesem Zweck ist in der Nacht des 14. Mai die MV Rachel Corrie von der irische Küstenstadt Dundalk (Dún Dealgan) in See gestochen und hat Kurs auf das östliche Mittelmeer genommen. Nach der Umrundung der südwestenglischen Grafschaft Cornwall, der Durchquerung der Biscaya und dem Passieren der Straße von Gibraltar geht es nach Larnaka auf Zypern. Dort soll zusammen mit sieben Booten aus Griechenland und der Türkei die Freedom Flotilla gebildet werden. Mit der Rachel Corrie als Flaggschiff werden die Menschenrechtsaktivisten versuchen, zu dem etwas mehr als zweihundert Seemeilen entfernten Gazastreifen zu gelangen. Da Widerstand seitens der israelischen Marine zu erwarten ist, könnte der letzte Teil der Reise gefährlich werden.

Die MV Rachel Corrie [MV steht for Motor Vessel; die deutsche Entsprechung wäre MS = Motorschiff] ist nach der 23jährigen, aus Olympia im US-Bundesstaat Washington stammenden Friedensaktivistin benannt, die am 16. März 2003 beim Versuch, die Zerstörung des Wohnhauses einer ihr bekannten palästinensischen Familie in der in Gaza an der Grenze zu Ägypten liegenden Ortschaft Rafah zu verhindern, von einem israelischen Bulldozer überfahren und ums Leben gebracht wurde. Der Märtyrertod Corries hatte damals international Aufsehen erregt. Zwar haben die israelischen Behörden mit dem Vorfall den nicht wenigen jungen Ausländern, die sich als Mitglieder der International Solidarity Movement (ISM) in den besetzten Gebieten für die Sache der Palästinenser einsetzen, deutlich gezeigt, daß auch sie nicht geschont werden, dafür aber hat der jüdische Staat einen hohen Preis an der PR-Front bezahlt.

Seit dem Tod Rachel Corries steht deren Name für Idealismus und Mitmenschlichkeit bis zur Aufopferung des eigenen Lebens, während selbst in den USA sich die Unterstützung für die aggressive Besatzungspolitik Israels auf eine immer kleinere, wenn auch noch politisch einflußreiche Minderheit reduziert. Aus den einfühlsamen Beobachtungen, welche die junge Amerikanerin während ihrer Zeit in Gaza machte und in ihrem Tagebuch sowie in E-Mails von dort an ihre Eltern daheim in Washington festhielt, haben der englische Schauspieler Alan Rickman, nicht zuletzt durch die erfolgreiche Harry-Potter-Filmreihe bekannt, und Katherine Winter, Journalistin der britischen Tageszeitung Guardian, das Bühnenstück "My Name is Rachel Corrie" konstruiert. Das für eine Schauspielerin geschriebene Solostück wurde nach der Uraufführung 2005 in England ausgezeichnet und gefeiert, sorgte jedoch im nachfolgenden Jahr in New York für eine Kontroverse, als sich das Management des Off-Broadwayer Theater Workshops, wo es ursprünglich präsentiert werden sollte, es anders überlegte und man notgedrungen auf das Minetta Lane Theater in Greenwich Village ausweichen mußte.

In den letzten Jahren haben die Eltern Rachel Corries versucht, die Verantwortlichen für den Tod ihrer Tochter juristisch zur Verantwortung zu ziehen. Als erstes klagten sie gegen Caterpillar, den Hersteller des verwendeten Bulldozers. Mehrere US-Gerichte wiesen die Klage gegen den berühmten Baufahrzeughersteller zurück, weil die Entscheidung zur Belieferung Israels mit modernster Ingenieurstechnologie von Kongreß und Weißem Haus in Washington getroffen worden sei. Derzeit haben Corries Eltern eine Klage vor einem Gericht in Israel laufen. Auch wenn die Corries dort keine Verurteilung eines Verantwortlichen erreichen, haben ihre Bemühungen um die Klärung der Umstände des Todes ihrer Tochter Caterpillar in Verruf gebracht, die Israelis in die Defensive gedrängt und mit dazu beigetragen, daß in der US-Öffentlichkeit die Frage nach dem Sinn der finanziellen und militärischen Hilfe Washingtons für Tel Aviv von jährlich rund drei Milliarden Dollar heftiger denn je diskutiert wird.

Im Vergleich zu dieser gigantischen Summe war der Kaufpreis für die MV Rachel Corrie - 70.000 Euro - ein Klacks. Das 1200 Bruttoregistertonnen schwere Cargoschiff, das ursprünglich MV Linda hieß, war 1968 in Deutschland gebaut worden und hatte jahrzehntelang im Dienste der Guinness-Brauerei in Dublin Irlands berühmtestes Exportgut über die Irische See zur Löschung des Durstes der Biertrinker in Großbritannien transportiert. 1999 wurde das Schiff von dem lettischen Unternehmen Forestry Shipping gekauft und als Holztransporter benutzt. Im Juli 2009 ging die in Riga ansässige Firma pleite, als das Schiff gerade in Dundalk lag. Die Besatzung wurde völlig im Stich gelassen. Sie hatte gerade noch Proviant für einen Tag, und es standen Gehaltszahlungen in Höhe von 42.000 Euro aus. Mit Hilfe der International Transport Federation (ITF) und der irischen Gewerkschaft Services, Industrial, Professional and Technical Union (SIPTU) gelang die Crew nach mehrmonatigem Zwangsaufenthalt in Dundalk im November desselben Jahres doch nach Hause. Im vergangenen März haben die irischen Aktivisten der Free Gaza Movement das Schiff bei einer Zwangsversteigerung gekauft. Das Geld dazu erhielten sie von der malaysischen Perdana Global Peace Foundation. Es wurde benutzt, um der ehemaligen Besatzung ihre ausstehenden Löhne zu bezahlen.

In den letzten Wochen hat eine ganze Armee an freiwilligen Helfern das Schiff, das am 12. Mai feierlich von MV Linda in MV Rachel Corrie umgetauft wurde, für die Reise ins Mittelmeer flottgemacht. Das Boot wurde frisch gestrichen und mit allerlei Waren beladen, die von den israelischen Behörden nicht in den Gazastreifen hereingelassen werden. Dazu gehören unter anderem Beton, Papier und medizinische Ausrüstung, darunter viele Krücken und Rollstühle. Die rund 25 Tonnen an Hilfsgütern kamen größtenteils aus Irland und Großbritannien. Das für die Schule von Gaza dringend benötigte Papier ist eine Spende aus Norwegen.

In einem E-Mail-Rundbrief anläßlich des Beginns der Reise hat sich Greta Berlin, Mitbegründerin von Freegaza.org, bei allen, die bei den Vorbereitungen geholfen oder das Unternehmen mit einer Sach- oder Geldspende unterstützt haben, bedankt und erklärt, die Besatzung der MV Rachel Corrie fahre "mit Hoffnung im Herzen" los. Aber nicht nur Hoffnung, sondern auch Glück werden die Friedensaktivisten brauchen. Laut einem Bericht der Nachrichtenagentur Agence France Presse von 17. Mai hat Naor Gilon, Staatssekretär im israelischen Außenministerium, den Botschaftern Griechenlands, Irlands, Schwedens, der Türkei - jener Länder, aus denen die Teilnehmer der Freedom Flotilla kommen -, erklärt, daß die geplante Aktion eine "Provokation" sei und daß die Behörden in Tel Aviv nicht zulassen würden, daß die MV Rachel Corrie oder die anderen Schiffe Gaza erreichten.

Die Konfrontation ist also vorprogrammiert. Ende Mai wollen Journalisten und Politiker, darunter Aengus O'Snodaigh, Abgeordneter von Sinn Féin im Dubliner Parlament, an Bord der Schiffe gehen und die Flottille auf dem letzten Teil der Fahrt nach Palästina begleiten. Bei einer ähnlichen Aktion im letzten Jahr - damals war es nur ein Boot, mit dem man die Blockade durchbrechen wollte - wurde das Schiff von der israelischen Marine auf hoher See gekapert und wurden die neunzehn Mitfahrenden, darunter die irische Friedensnobelpreisträgerin Máiréad Corrigan Maguire und die ehemalige US-Kongreßabgeordnete Cynthia McKinney, verschleppt und erst nach mehreren Tagen im Gefängnis in ihre Heimatländer abgeschoben. Zum Glück kam damals niemand zu Schaden. Angesichts der bevorstehenden Herausforderung, der sich die ultrakonservative israelische Regierung Benjamin Netanjahus durch die Peace Flotilla ausgesetzt sehen, besteht die Gefahr, daß sie diesmal ein Exempel statuieren wird.

18. Mai 2010

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