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NAHOST/988: ElBaradei weckt Hoffnungen nicht nur in Ägypten (SB)


ElBaradei weckt Hoffnungen nicht nur in Ägypten

Demokratische Reformer in der arabischen Welt sehen sich im Aufwind


Traditionell gilt Ägypten wegen seiner Größe an Territorium und Bevölkerung, seiner in strategischer Hinsicht kaum zu übertreffenden geographischen Brückenposition zwischen Asien und Afrika mit Kontrolle über den Suezkanal zwischen Rotem Meer und Mittelmeer, seines starken Militärs und seiner regen intellektuellen Elite einschließlich der führenden Stellung der Kairoer Al-Azhar-Universität in Fragen des islamischen Rechts als das bedeutendste Land der arabischen Welt. Nicht umsonst ging von Ägypten der panarabische Nationalismus Abdel Nassers aus und entstand dort die muslimische Bruderschaft, die inzwischen in den meisten Ländern der arabischen Welt die wichtigste Opposition zur Herrschaft der Könige, Emire, Muftis, Großwesire und wie sie alle heißen bildet. Das Camp-David-Friedensabkommen zwischen Kairo und Tel Aviv 1979, weshalb bis heute Ägypten den zweiten Platz gleich hinter Israel auf der Liste der von US-Finanz- und Militärhilfe begünstigten Länder belegt, und das Attentat auf Anwar Sadat zwei Jahre später durch jene Kräfte, die sich später als Al Kaida formieren sollten, stellen zwei der entscheidendsten Wendepunkte der modernen Geschichte des Nahen Ostens dar.

Seit der spektakulären Ermordung Sadats - live im Fernsehen bei der Besichtigung einer Truppenparade - wird Ägypten mit harter Hand von Hosni Mubarak regiert, der sich als treuer Verbündeter Washingtons erwiesen hat. Mit dem inzwischen 81jährigen Diktator geht es jedoch gesundheitlich bergab, weshalb er 2011 aller Wahrscheinlichkeit nach für keine sechste Amtszeit als ägyptischer Präsident kandidieren wird. Stattdessen scheint der alternde Fliegerheld und Ex-Luftwaffenchef eine Machtübergabe an seinen ältesten Sohn Gamal vorzubereiten. Nach einigen Jahren als Finanzjongleur, unter anderem in London, wurde der Mubarak-Sproß 2002 Generalsekretär der Nationaldemokratischen Partei (NDP), die seit Jahrzehnten im Kairoer Parlament über die absolute Mehrheit verfügt. Ob dem Mubarakklan der Machtwechsel gelingen wird, steht jedoch zu bezweifeln, da der 1963 geborene Gamal noch lange nicht das Format seines Vaters hat und sich sein persönlicher Rückhalt bei der obersten Generalität Ägyptens in Grenzen halten dürfte.

Das nahende Ende der Ära Hosni Mubaraks vor Augen, gärt es unter der ägyptischen Bevölkerung, die sich mehr Demokratie, bessere Arbeits- und Lebensbedingungen und ein Ende der Unterstützung Kairos für die Abriegelung des von der Hamas-Bewegung regierten Gazastreifens durch die israelischen Streitkräfte wünscht. In Ägypten setzen die Menschen deshalb ihre Hoffnungen auf Mohamed ElBaradei, der nach fast zwölf Jahren als Chef der in Wien ansässigen Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) in Februar in sein Heimatland zurückgekehrt ist und dort die Nationale Front für Veränderung ins Leben gerufen hat. Ob sich ElBaradei tatsächlich zur Präsidentenwahl im kommenden Jahr stellt, ist noch nicht entschieden. Doch schon jetzt wirken sich die Bemühungen des weltweit angesehenen Diplomaten, unter dessen Führung die IAEA 2007 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, weil sie durch Unparteilichkeit und Objektivität zur Deeskalation im Atomstreit zwischen den USA und dem Iran beigetragen hatte, um die Demokratisierung Ägyptens auf die Nachbarländer aus.

In einem ausführlichen Interview, das am 31. März in der britischen Tageszeitung Guardian erschienen ist, hat ElBaradei den Menschen in der arabischen bzw. muslimischen Welt aus der Seele gesprochen, indem er offen die Unterstützung der USA und Europas für die Königshäuser und Militärdiktaturen im Nahen Osten für die dort stattfindende Radikalisierung - Stichwort Islamismus - verantwortlich machte:

Die Politik des Westens in Bezug auf diesen Teil der Welt ist meiner Ansicht nach eine völlige Katastrophe gewesen. Sie basierte nicht auf Dialog, Verständnis, Unterstützung für die zivile Gesellschaft und die übertragung der Macht auf das Volk, sondern auf die Unterstützung autoritärer Regime, Hauptsache das Öl fließt.

(...)

Die Menschen fühlen sich von ihren eigenen Regierungen unterdrückt und von der Außenwelt ungerecht behandelt. Wenn sie morgens aufstehen, sehen sie im Fernsehen - wie Leute, allesamt Muslime aus Afghanistan, dem Irak, Somalia, Sudan und Darfur, erschossen und getötet werden.

(...)

Wenn man auf Individuen, statt auf das Volk setzt, ist das Scheitern schon vorprogrammiert. Bisher hat die westliche Politik darin bestanden, auf Individuen zu setzen, die bei ihrer Bevölkerung keinen Rückhalt genießen und sich mit jedem Tag immer mehr diskreditieren. Die Politik müßte lauten: Wir interessieren uns für euch; wir sind an eurem Wohlergehen interessiert; eure Menschenrechte gehen uns etwas an.

(...)

Der Westen redet viel über die Wahlen wie zum Beispiel im Iran, doch fanden dort zumindest Wahlen statt. Wo sind die Wahlen in der arabischen Welt? Solange der Westen dazu nichts sagt, wo bleibt dann seine Glaubwürdigkeit?

(...)

Wenn man sich vor Augen führt, daß die populärsten Politiker im Nahen Osten [der iranische Präsident Mahmud] Ahmadinedschad und [Hisb-Allah-Chef] Hassan Nasrallah sind, müßte euch das zu denken geben: Eure Politik erreicht die Menschen nicht.

Mit Blick auf den aktuellen Atomstreit zwischen Washington und Teheran plädierte der Völkerrechtsexperte für eine friedliche Beilegung auf dem Verhandlungsweg. In diesem Zusammenhang verwies er auf die katastrophalen Folgen der Irakinvasion und belastete dabei die Verantwortlichen für den gewaltsamen Sturz Saddam Husseins, den damaligen US-Präsident George W. Bush und den damaligen britischen Premierminister Tony Blair, schwer:

Ich hätte gehofft, daß man sowohl in London als auch in den USA die Lehren aus dem Irak endlich begriffen hat. Natürlich gibt es Diktatoren, aber seid ihr bereit, jedesmal eine Million unschuldige Zivilisten zu opfern, wenn ihr einen Diktator loswerden wollt? Alles, was man [aus der laufenden Anhörung der Chilcot-Untersuchungskommission] erfährt, deutet darauf hin, daß es beim Irak nicht wirklich um Massenvernichtungswaffen, sondern um Regimewechsel ging. Und ich stelle immer wieder die gleiche Frage - wo in der internationalen Gesetzgebung findet ihr die Begründung für Regimewechsel? Und wenn er einen Verstoß gegen das Völkerrecht darstellt, wer soll dann zur Rechenschaft gezogen werden?

An den Verhältnissen in seinem eigenen Land ließ ElBaradei kein gutes Haar. Dazu heißt es im Guardian: "In Ägypten leben die Reichen in Ghettos", erklärte er, während er mit seiner Hand auf den wunderschönen, gut gepflegten Garten samt Schwimmbecken zeigte. "Der Mangel an sozialer Gerechtigkeit hier ist einfach unbeschreiblich".

Bei einem Treffen am 12. April in Kairo mit Mitgliedern seiner neuen Bewegung gab ElBaradei zu verstehen, daß unter ihm als Präsident Ägypten jenen außenpolitischen Kurs nehmen würde, wonach sich das Volk seit Jahren sehnt. Einem Bericht der Nachrichtenagentur United Press International vom selben Tag zufolge soll der langjährige Diplomat den Nahost-Friedensprozeß zwischen Israelis und Palästinensern als einen "schlechten Scherz, über den viel geredet wird, ohne daß es jemals zu Ergebnissen kommt" bezeichnet haben. Er kritisierte Ägyptens "Beteiligung an der Belagerung Gazas, das sich zum größten Gefängnis der Welt entwickelt hat". Statt dessen schlug er die Öffnung der Grenze zwischen Ägypten und Gaza und die Einrichtung einer Freihandelszone in Rafah vor. Er lobte den "palästinensischen Widerstand" und erklärte, "die israelische Besetzung versteht nur die Sprache der Gewalt."

Aus Ägypten gibt es bereits Berichte von ersten Repressionsmaßnahmen gegen ElBaradeis Anhänger. Am 11. April meldete die Nachrichtenagentur Associated Press sogar aus Kuwait die Ausweisung von 21 Ägyptern und die Verhaftung von weiteren 20, nur weil sie sich einer Ortsgruppe von ElBaradeis Nationaler Front für Veränderung angeschlossen bzw. sie gegründet hatten. Offenbar wollen die Machthaber in Kairo, Kuwait und und den anderen Hauptstädten die von ElBaradei losgetretenen demokratischen Impulse wieder in Keim ersticken. Ob es ihnen gelingt, ist eine andere Frage. Wichtig dürfte sein, wie sich die Regierung Barack Obamas verhält und ob Washington den Menschen in den Vasallenstaaten der USA im Nahen Osten "Veränderung" gönnt.

12. April 2010