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ASIEN/844: In Afghanistan wird der Krieg zur Dauereinrichtung (SB)


In Afghanistan wird der Krieg zur Dauereinrichtung

NATO-Besatzer weigern sich, auf die Forderung der Taliban einzugehen


Am 29. September hat Afghanistans Präsident Ashraf Ghani mit dem ehemaligen Mudschaheddin-Kommandeur und Ex-Premierminister Gulbuddin Hekmatyar, dem Chef der religiös-fundamentalistischen Miliz Hisb-i-Islami, einen Friedensvertrag abgeschlossen. Es war das erste Friedensabkommen, das die Regierung in Kabul seit dem Sturz der Taliban Ende 2001 mit irgendeiner aufständischen Gruppe hat abschließen können. Am 5. Oktober haben auf einer internationalen Geberkonferenz in Brüssel unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen die wichtigsten Industriestaaten und Schwellenländer Afghanistan Hilfsgelder in Höhe von 15 Milliarden Dollar bis 2020 zugesichert. Die beiden Erfolgsmeldungen können jedoch nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß sich Afghanistan allen Wiederaufbaubemühungen zum Trotz - allein die Amerikaner haben hierfür seit 2002 113 Milliarden Dollar ausgegeben - in einem desaströsen Zustand befindet und kein Ende des Kriegs, der dort am 7. Oktober 2001 mit Angriffen der amerikanischen und britischen Luftwaffe auf Taliban-Stellungen begann, in Sicht ist.

Während in Brüssel die amerikanischen und deutschen Außenminister John Kerry und Frank-Walter Steinmeier mit ihren diplomatischen Kollegen konferierten, haben die Taliban Kundus, die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz in Nordafghanistan, überrannt und vorübergehend das Zentrum besetzt. Mit der Operation haben die sunnitischen Stammeskämpfer die eigene Schlagkraft und die Schwäche der afghanischen Streitkräfte eindrucksvoll bewiesen. In der südlichen Provinz Helmand toben seit Wochen heftige Kämpfe. Dort stehen die Taliban vor der Einnahme der Hauptstadt Laschgar, die sie umzingelt haben. Insgesamt befinden sich rund ein Drittel der afghanischen Bezirke unter der Kontrolle der einst von Mullah Mohammad Omar gegründeten Bewegung.

Ungeachtet der Instabilität Afghanistans wollen die EU-Staaten und Pakistan afghanische Flüchtlinge in ihre Heimat abschieben. In Pakistan befinden sich mehr als zwei Millionen Flüchtlinge, darunter Kinder und Enkel derjenigen, die noch in den achtziger Jahren vor dem Krieg zwischen den Mudschaheddin und den Streitkräften der Sowjetunion geflohen waren. Nach Angaben des Welternährungsprogramms sind in diesem Jahr bereits 250.000 afghanische Flüchtlinge nicht ganz freiwillig aus Pakistan in ihre Heimat zurückgekehrt. Dort erwartet sie Not und Trostlosigkeit. Die Arbeitslosigkeit in Afghanistan beträgt offiziell 40 Prozent und dürfte in Wirklichkeit noch höher liegen. Dreiviertel der Bevölkerung sind Analphabeten. Ein Drittel der 30 Millionen Afghanen lebt unterhalb der Armutsgrenze.

2016 weist die höchste Rate an zivilen Kriegsopfern seit Beginn der Aufzeichnungen vor sieben Jahren auf. Wie die langjährige Kriegskorrespondentin Carlotta Gall am 2. Oktober in der New York Times berichtete, befürchtet man in Kabul, daß die afghanischen Sicherheitskräfte im kommenden Jahr aufgrund der anhaltenden Kämpfe und der hohen Verlustrate tatsächlich kollabieren könnten. Das hört sich an, als würden die USA 2017 - vermutlich mit Hillary Clinton als Präsidentin - und die anderen NATO-Staaten die Anzahl ihrer in Afghanistan stationierten Soldatinnnen und Soldaten, die aktuell bei 8400 respektive 6000 liegt, erhöhen und noch aktiver in das Geschehen am Boden eingreifen, als es in den letzten Jahren der Fall gewesen ist.

Eine Aufstockung der NATO-Truppen in Afghanistan wird jedoch keine Lösung des militärischen Konflikts herbeiführen. Als sich Barack Obama 2009/2010 von den Generälen David Petraeus und Stanley McChrystal zu einer drastischen Erhöhung der in Afghanistan stationierten US-Bodentruppen drängen ließ, hat dies zwar punktuell einige taktische Erfolge gezeitigt, den Vormarsch der Taliban jedoch nicht gestoppt. Deswegen waren Friedensverhandlungen auf der jüngsten Geberkonferenz in Brüssel ein wichtiges Thema. Bei einem Arbeitsessen am Rande des Gipfels hat am 4. Oktober die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini aus Italien mit UN-Generalsekretär Ban Ki-moon sowie den Außenministern der USA, Chinas, Indiens und Pakistans die Möglichkeiten zur Wiederaufnahme eines "Friedens- und Versöhnungsprozesses" für Afghanistan ausgelotet, ohne jedoch zu konkreten Ergebnissen zu kommen.

Die Chancen für Frieden und eine Rückkehr zur Normalität in Afghanistan bleiben jedoch bei Null, solange die NATO nicht bereit ist, auf die Kernforderung der Taliban einzugehen. Seit 15 Jahren verlangen die Taliban den Abzug aller ausländischen Truppen, bieten dafür Garantien, daß von Afghanistan niemals wieder terroristische Umtriebe à la 9/11 ausgehen, und erklären sich zur Übernahme westlicher Menschenrechtsprinzipien wie zum Beispiel der gesetzlichen Gleichstellung der Frau bereit. Doch weil die NATO-Staaten, allen voran die USA, langfristig in Afghanistan militärisch präsent zu bleiben gedenken, verhalten sie sich so, als hätte es das mehrmalige Friedensangebot der Taliban niemals gegeben. Auf der Geberkonferenz in Brüssel blieb NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bei der eisernen Linie, wonach sich letztlich die Taliban dem Willen der NATO zu beugen haben. Dem ehemaligen Premierminister Norwegens zufolge müssen die Taliban bezwungen werden, weil sie "sich in den Friedensprozeß niemals einbringen werden, solange sie an die Erreichbarkeit des Sieges glauben". Was den Glauben betrifft, zeigen sich die Kriegsherrn im Westen von der Heiligkeit der eigenen Mission mindestens genauso überzeugt wie die paschtunischen Gotteskrieger vom Hindukusch.

8. Oktober 2016


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