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ASIEN/840: Indiens Supermachtallüren treten offen zutage (SB)


Indiens Supermachtallüren treten offen zutage

Neu-Delhi fügt sich in die Anti-China-Strategie der USA ein


Von all den unerfüllten Versprechen Barack Obamas während seines Wahlkampfs um die US-Präsidentschaft 2008 wiegt auf dem Feld der Außenpolitik dasjenige, als Vermittler zwischen Indien und Pakistan eine Lösung des Kaschmir-Problems herbeizuführen, vielleicht am schwersten. Der Streit zwischen Islamabad und Neu-Delhi um den von Indien besetzten Teil Jammu und Kaschmir, wo die große Mehrheit der rund 13 Millionen Bewohner muslimischen Glaubens ist, hat seit 1947 mehrfach zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen der indischen und der pakistanischen Armee geführt und kann jederzeit in einen Atomkrieg mit verheerenden Folgen für die ganze Welt eskalieren. Seit dem Einzug ins Weiße Haus im Januar 2009 ist Kaschmir für Obama kein Thema mehr. Statt dessen treibt der demokratische Ex-Senator aus Illinois den Schwenk der USA von Pakistan zu Indien, den die republikanische Vorgängerregierung George W. Bushs in den acht Jahren zuvor auf die Bahn gebracht hatte, mächtig voran. Dadurch ist die strategische Lage am Rande des Himalayas noch instabiler geworden.

2008 hatte Bush jun. mit der Administration von Manmohan Singh von der sozialdemokratischen Kongreßpartei ein hochumstrittenes Atomabkommen paraphiert. Obwohl Indien kein Unterzeichnerstaat des Atomwaffensperrvertrags ist, vereinbarte Washington mit Neu-Delhi eine Zusammenarbeit im Bereich der zivilen Kernenergie. Gleichzeitig gewannen die USA das wirtschaftlich aufstrebende Indien als wichtigen Kunden für die eigene Rüstungsindustrie. Über die Annäherung zwischen den USA und Indien war man vor allem in Moskau, Islamabad und Peking alarmiert. Rußland, das jahrezehntelang der wichtigste Verbündete und Waffenlieferant Indiens gewesen war, sah sich aus seinem lukrativsten Rüstungsmarkt verdrängt. In Pakistan, dessen Bevölkerung und Wirtschaft seit 2001 stark unter der Teilnahme ihres Landes am Anti-Terrorkrieg Washingtons im benachbarten Afghanistan leiden, fühlte man sich angesichts der Bevorzugung und Aufwertung des indischen Rivalen verraten und verkauft. In China hat die offenkundige Aufnahme Indiens in die Containment-Strategie der USA gegenüber der Volksrepublik begründete Sorgen wie zugleich verstärkte Anstrengungen im militärisch-sicherheitspolitischen Bereich ausgelöst.

Inzwischen läuft die militärische Kooperation zwischen den USA und Indien auf Hochtouren. Gemeinsam bilden die indischen und amerikanischen Streitkräfte Offiziere aus den acht afrikanischen Staaten Nigeria, Ghana, Malawi, Ruanda, Sierra Leone, Tansania, Uganda und Sambia aus. Mit keinem anderen Land führen die US-Streitkräfte so häufig gemeinsame Manöver wie mit Indien durch. In diesem Monat trainieren indische und amerikanische Soldaten gemeinsam im gebirgigen Bundesstaat Uttarakhand, der im Osten an Nepal und im Norden an die Volksrepublik China grenzt.

Am 29. August haben die Verteidigungsminister Indiens und der USA, Manohar Parrikar und Ashton Carter, das India-US Logistics Exchange Memorandum of Agreement unterzeichnet. Das LEMOA ermöglicht es beiden Ländern, die Stützpunkte des jeweils anderen Landes zu Zwecken der Logistik, Reparatur, Versorgung sowie Erholung des Personals zu benutzen. Darüber hinaus gestattet der Vertrag dem Pentagon, in Indien Waffendepots für den Kriegsfall auf dem asiatischen Festland anzulegen. Inzwischen erwägt das US-Rüstungsunternehmen Lockheed die Produktion des Kampfjets F-16, der derzeit bei der US-Luftwaffe durch die F-35-Maschine ersetzt wird, nach Indien auszulagern. Bei der Boeing-Zentrale hängt die Entscheidung vom Eingang eines entsprechenden Großauftrags aus Neu-Delhi ab. Im Hintergrund sind die Vorverhandlungen längst im Gange.

Bei einem Auftritt auf einer Sicherheitskonferenz in Neu-Delhi im März hat Admiral Harry B. Harris jun., Oberbefehlshaber des US-Pazifikkommandos (PACOM) gemeinsame amerikanisch-indische Flottenmanöver im Südchinesischen Meer in Aussicht gestellt - was natürlich als aggressive Herausforderung an die Adresse Chinas, das selbst den größten Teil dieser Gewässer als sein Territorium beansprucht, gewertet werden darf. In der Folge hat die indische Marine im Juni mit Schiffen aus den USA und Japan erstmals am Trilateral Joint Maritime Exercise Malabar im Südchinesischen Meer teilgenommen. Am 3. September hat Narendra Modi von der regierenden hindunationalistischen Bharatija Janata Party (BJP) beim ersten Besuch eines indischen Premierministers seit 15 Jahren in Hanoi Vietnam eine Kreditlinie im Wert von einer halben Milliarde Dollar zum Kauf indischer Waffen eröffnet. Zu den Waffensystemen aus Indien, die Vietnam demnächst im Disput um das Südchinesische Meer gegenüber der chinesischen Marine in Stellung bringen dürfte, gehören Patrouillenboote sowie der überschallschnelle BrahMos-II-Marschflugkörper, der aktuell als schnellste Anti-Schiff-Rakete der Welt gilt.

Seit Anfang Juli kommt es im indischen Teil Kaschmirs zu schweren Ausschreitungen, die bislang rund 70 Menschen das Leben gekostet haben. Auf die Proteste der einheimischen Bevölkerung gegen die Erschießung eines jungen Rebellenführers reagieren die 500.000 in Jammu und Kaschmir stationierten Polizisten und Soldaten Indiens mit brachialer Gewalt. Die Regierung in Neu-Delhi hat dort vor Monaten den Notstand ausgerufen. Doch es kommt noch schlimmer. Bei einer Rede anläßlich des indischen Unabhängigkeitstags am 15. August hat Premierminister Modi es nicht dabei belassen, wie üblich Pakistan für die Unruhen in Kaschmir verantwortlich zu machen, sondern die Regierung in Islamabad bezichtigt, selbst "Greueltaten" im westpakistanischen Bundesstaat Belutschistan zu verüben.

In Belutschistan sieht sich die pakistanische Zentralregierung ihrerseits mit einer zum Teil gewaltbereiten Unabhängigkeitsbewegung konfrontiert. Seit Jahren tauchen immer wieder Hinweise dafür auf, daß der indische Auslandsgeheimdienst (Research and Analysis Wing - RAW) unzufriedene Belutschen mit Geld und Waffen versorgt und sie zu Gewalttaten aufwiegelt. Letztes Jahr hat China ein 46 Milliarden Dollar teueres Infrastrukturprojekt angekündigt, mittels dessen ein Transportkorridor zwischen dem belutschistanischen Tiefseehafen Gwadar am Eingang zum Persischen Golf und dem Westen der Volksrepublik zwecks Belebung der pakistanischen Wirtschaft geschaffen werden soll. Die Ministerialbeamten in Neu-Delhi sollen nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters im Vorfeld der aufsehenerregenden Rede sowohl Modi als auch Verteidigungsminister Parrikar und Innenminister Rajnath Singh von der gezielten Provokation abgeraten haben - vergeblich. Islamabad hat seinerseits Neu-Delhi vorgeworfen, mit dem Hinweis auf Belutschistan eine "rote Linie" überschritten zu haben. Offenbar gehört für Indiens chauvinistische BJP-Regierung das gefährliche Spiel mit dem Feuer zum Status einer Supermacht.

6. September 2016


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