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ASIEN/824: Taliban starten Frühjahrsoffensive in Afghanistan (SB)


Taliban starten Frühjahrsoffensive in Afghanistan

IS am Hindukusch aufgetaucht - wie reagieren die Taliban darauf?


Mit einem großangelegten Angriff auf die Stadt Kundus im Norden Afghanistans haben die Taliban am 24. April ihre diesjährige Frühjahrsoffensive, die erste seit die NATO im vergangenen Dezember ihre Mission am Hindukusch für beendet erklärte, gestartet. Nach fünf Tagen heftiger Kämpfe um Kundus waren bereits 165 Menschen - die meisten von ihnen Taliban-Anhänger, aber auch Soldaten, Polizisten und Zivilisten - ums Leben gekommen. Die US-Luftwaffe mußte angefordert werden, damit die fast gänzlich umzingelte Stadt nicht in die Hände der angreifenden Taliban fiel. 2015 verspricht ein sehr blutiges Jahr in Afghanistan zu werden. Dort waren 2014 bereits mehr als 10.000 Zivilisten gewaltsam ums Leben gekommen - mehr als je zuvor seit dem NATO-Einmarsch im Jahr 2001.

Nach der Wahl im vergangenen Jahr hatte Afghanistans neuer Präsident Aschraf Ghani Friedensverhandlungen mit den Taliban in Aussicht gestellt und in der heiklen Angelegenheit die Regierung Pakistans um Vermittlung gebeten. Doch aus dem Vorstoß wurde nichts. Angeblich auf Bitte Ghanis hat US-Präsident Barack Obama im März die geplante Halbierung der amerikanischen Truppenpräsenz in Afghanistan verschoben. Bis auf weiteres sollen mindestens 10.000 US-Militärs in Afghanistan, und zwar auf Stützpunkten bei Kabul, Dschalalabad und Kandahar, verbleiben. Von dort aus sollen Offiziere aus den USA die afghanischen Sicherheitskräfte ausbilden und unterstützen, amerikanische Spezialstreitkräfte "Antiterroroperationen" durchführen sowie Kampfjets der U. S. Air Force (USAF) Angriffe auf Taliban-Positionen fliegen.

Die Taliban sehen mit der Entscheidung Washingtons den Beweis erbracht, daß die USA entgegen anderslautender Erklärungen Afghanistan dauerhaft militärisch zu besetzen beabsichtigen. Die Taliban halten nach wie vor am Abzug aller ausländischen Streitkräfte aus Afghanistan fest und wollen ihrer Kernforderung nun ordentlich Nachdruck verleihen. Am 25. März teilte Taliban-Sprecher Zabihullah Mudschahid mit, die Verlängerung der US-Militärpräsenz in Afghanistan habe "der Chance auf Frieden geschadet". "Der Krieg wird solange weitergehen, bis die [USA] besiegt worden sind", sagte er. Gleichzeitig verhöhnte Mudschahid die westlichen "Invasoren": "Als sie über 100.000 Bodentruppen verfügten, konnten sie uns nicht bezwingen - jetzt mit 10.000 können sie gar nichts mehr erreichen."

Nicht nur die geringe Anzahl ausländischer Soldaten, sondern auch das Chaos auf Seiten des afghanischen Staats liefert den Taliban Grund zur Zuversicht. Obwohl die Parlamentswahlen im April 2014 stattfanden, hat Präsident Ghani bis heute nur rund die Hälfte der Ministerposten in der afghanischen Regierung besetzt. Die meisten Provinzgouverneure hat er zudem aus ihrer Verantwortung entbunden. Während der ehemalige Weltbank-Vertreter also immer mehr zum Diktator mutiert, steht es desolat um die afghanische Armee und Polizei. Diese sind nach wie vor schlecht ausgebildet und bezahlt. Des weiteren haben sie in manchen Landesteilen weniger als die örtlichen Volksmilizen zu sagen, welche die NATO-Truppen in den letzten Jahren sozusagen als private Sicherheitheitsdienstungsunternehmen herangezüchtet hatten. Sowohl die staatlichen Sicherheitsstrukturen als auch die örtlichen Milizen sind von Taliban-Sympathisanten unterwandert. Es waren nicht zuletzt die häufig tödlichen Überfälle auf westliche Soldaten durch afghanische Kameraden, welche die NATO zur Beendigung der ISAF-Mission veranlaßten.

Neuerdings werden die Taliban mit einem neuen Phänomen konfrontiert. Die sogenannte "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS), deren Kalifat Abu Bakr Al Baghdadi im vergangenen Juni im Osten Syriens und Nordwesten Iraks ausgerufen hat, macht sich seit einigen Monaten vor allem durch die Entführung und Enthauptung von Mitgliedern der Volksgruppe der Hasara, die mehrheitlich Schiiten sind und 20 Prozent der etwa 40 Millionen Einwohner Afghanistans ausmachen, bemerkbar. Derzeit ist unklar, wie die Taliban auf die Konkurrenz durch den IS reagieren werden, ob sie die rivalisierende Gruppe bekämpfen oder mit ihr zusammenarbeiten werden. Unter den Paschtunen beiderseits der afghanisch-pakistanischen Grenze wollen die Taliban jedenfalls weiterhin die führende politische Kraft bleiben. Dies zeigt die überraschende Veröffentlichung der Biographie von Taliban-Chef Mullah Muhammed Omar Anfang April.

Der 1960 im Dorf Chah-i-Himmat im Bezirk Khakrez der Provinz Kandahar geborene Veteran des Kriegs der afghanischen Mudschaheddin gegen die Sowjetunion ist zuletzt im November 2001 bei seiner Flucht aus der Stadt Kandahar per Motorrad in der Öffentlichkeit gesichtet worden. Seitdem soll er sich in einem geheimen Versteck im pakistanischen Quetta aufhalten. In letzter Zeit war jedoch die Frage häufiger aufgekommen, ob der Führer der Gläubigen des Islamischen Emirats Afghanistan - so sein offizieller Titel - überhaupt noch lebt. Mit der Veröffentlichung seiner Biografie sollen die aufgekommenen Zweifel an Omars irdischer Existenz offenbar ausgeräumt werden. Auf der Taliban-Website hieß es unter anderem, Mullah Omar "verfolgt mit Interesse den Verlauf des Dschihads gegen die brutalen, ungläubigen, ausländischen Invasoren" und "bleibt mit dem täglichen Geschehen in seinem Land sowie in der übrigen Welt in Kontakt".

30. April 2015


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