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ASIEN/807: Einfluß der Taliban wächst in Afghanistan und Pakistan (SB)


Einfluß der Taliban wächst in Afghanistan und Pakistan

Hamid Karsai und Nawaz Scharif gehen auf die Stammeskrieger zu



Mehr als zwölf Jahre nach dem Einmarsch westlicher Streitkräfte erweist sich die Lage in Afghanistan als katastrophal. Der Traum vom "Wiederaufbau" ist längst ausgeträumt. Über die Hälfte der Bevölkerung vegetiert in bitterster Armut. Weite Teile des Landes gelten wegen der militärischen Aktivitäten der Taliban als unsicher. Sehr zur Verärgerung der USA weigert sich Afghanistans Präsident Hamid Karsai, das geplante Bilaterale Sicherheitsabkommen (BSA), das der NATO unter dem Vorwand der Truppenausbildung und "Terrorbekämpfung" eine dauerhafte Militärpräsenz am Hindukusch ermöglichen soll, zu unterzeichnen. Statt dessen wird Karsai demnächst einem vom Parlament in Kabul bereits verabschiedeten Gesetz seinen Stempel aufdrücken, das Familienangehörige bei Ehestreitigkeiten davor bewahrt, vor Gericht aussagen zu müssen. Mit dem Gesetz, dessen fast ausschließlich männliche Befürworter sich auf traditionelle Geschlechterrollen und eine fundamentalistische Auslegung des Korans berufen, werden alle Hoffnungen auf einen stärkeren Schutz der Frauen in Afghanistan vor der allgegenwärtigen häuslichen Gewalt zunichte gemacht.

Ende 2014 sollen alle ausländischen Kampftruppen aus Afghanistan abgezogen werden. Karsai drängt die USA seit langem, ernsthafte Verhandlungen mit den Taliban für die "Nachkriegsära" aufzunehmen und als Zeichen des guten Willens mehrere afghanische Insassen des Sonderinternierungslagers im kubanischen Guantánamo Bay freizulassen. Die Regierung Barack Obamas weigert sich, diese Schritte zu unternehmen. Der Demokrat Obama darf gefangene Taliban aus innenpolitischen Gründen nicht freilassen, sonst würden ihn die Republikaner öffentlich bezichtigen, vor "Terroristen" zu kapitulieren. Ohnehin besteht ein zu großer Widerspruch zwischen den Interessen der USA und den Männern um Mullah Mohammed Omar. Kernforderung der Taliban ist von Anfang an der Abzug sämtlicher ausländischer Truppen aus Afghanistan gewesen. Hiervon sind sie bis heute kein Jota abgewichen. Doch wegen der geographischen Nähe zum Iran, zu Rußland, den Ländern Zentralasiens, zur Volksrepublik China sowie zu Pakistan und Indien wollen die USA in Afghanistan mit mehreren "dauerhaften Stützpunkten" präsent bleiben.

Derzeit sieht alles danach aus, als würden sich eher die Taliban durchsetzen. Wegen der Weigerungshaltung Karsais kam es am 4. Februar im Weißen Haus zu einer Krisensitzung zum Thema Afghanistan zwischen Oberbefehlshaber Obama und den führenden US-Militärs, bei der zumindest als Option die Reduzierung der amerikanischen Truppenpräsenz in Afghanistan bis Ende des Jahres auf Null diskutiert wurde. Ob die Verantwortlichen in Washington ein solches Szenario ernsthaft erwägen oder es lediglich als Drohung gegenüber den widerwilligen Gesprächspartnern in Kabul benutzen, ist unklar. Schließlich sind die ausländischen Militärs ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in Afghanistan. Ohne die Finanzhilfe der USA und der anderen NATO-Staaten wäre die afghanische Regierung praktisch nicht überlebensfähig.

Doch am selben Tag von Obamas großer Afghanistan-Runde in Washington wartete die New York Times mit der Enthüllung auf, Karsai führe seit dem vergangenen November Geheimgespräche mit den Taliban über eine Beendigung des Krieges in Afghanistan. Demnach soll der Kontakt mit Karsai von den Taliban initiiert worden sein, nachdem im Juni die Annäherungsgespräche in Katar zwischen ihren Gesandten und den Unterhändlern der USA scheiterten. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Amerika-kritischen Äußerungen Karsais in den letzten Wochen und die bevorstehende patriarchale Veränderung im afghanischen Familien- und Strafrecht Annäherungssignale Kabuls an die Taliban sind, die bekanntlich seit Jahren ihren Kampf gegen die Besatzungstruppen unter anderem mit der Ablehnung des Imports fremder Werte aus dem Westen begründen.

Währenddessen sieht sich die Regierung im benachbarten Pakistan sowohl wegen der anhaltenden Kämpfe in den grenznahen Stammesgebieten als auch aufgrund der bevorstehenden Reduzierung der NATO-Truppenpräsenz in Afghanistan zu Verhandlungen mit den eigenen Taliban gezwungen. Auch wenn die erste Verhandlungsrunde am 4. Februar aus bisher unbekannten Gründen platzte, ist Premierminister Nawaz Scharif von der Pakistanischen Moslem-Liga (PML) an einer Verständigung mit den paschtunischen Taliban in eigenen Land genauso stark interessiert wie Hamid Karsai mit den Glaubenskriegern in Afghanistan. Dort bilden die Paschtunen mit 12 Millionen Menschen die größte ethnische Gruppe und 42 Prozent der Bevölkerung. In Pakistan stellen die 29 Millionen Paschtunen 15 Prozent der Bevölkerung. Die Regierungen Afghanistans und Pakistans müssen sich mit der paschtunischen Gemeinde im eigenen Land arrangieren. Sonst könnten sich diese für den Anschluß jeweils an den anderen Staat stark machen oder versuchen, den alten Traum vom eigenen Paschtunistan zu verwirklichen.

Mit Soldaten und Stützpunkten in Afghanistan sowie ständigen Drohnenangriffen in Pakistan haben die USA und ihre nordatlantischen Alliierten bislang vergebens versucht, die Taliban, die sich als die Verteidiger von rund 40 Millionen Paschtunen verstehen, in die Knie zu zwingen. Mit diesem Vorhaben sind sie restlos gescheitert. Nun ist die Zeit gekommen, es den Politikern vor Ort zu überlassen, die Lage am Hindukusch zu beruhigen bzw. zu stabilisieren. Wenn das Ausland dabei helfen will, dann auf diplomatischem und wirtschaftlichem Wege.

6. Februar 2014