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ASIEN/770: Pakistan hält Afghanistangrenze für die NATO gesperrt (SB)


Pakistan hält Afghanistangrenze für die NATO gesperrt

Islamabad ist der Bevormundung Washingtons überdrüssig



Seit mehr als einem halben Jahr ist die Nordwestgrenze Pakistans für den Nachschubtransport der NATO-Streitkräfte in Afghanistan gesperrt. Monatelange Verhandlungen zwischen Vertretern der Regierungen in Islamabad und Washington sowie der Militärs aus Rawalpindi, dem Sitz des Hauptquartiers der pakistanischen Streitkräfte, und dem US-Verteidigungsministerium im Arlingtoner Pentagon haben an diesem Umstand nichts ändern können. Der Grund für den Stillstand ist einfach. Die Pakistaner verlangen eine formelle Entschuldigung für den "versehentlichen" Angriff amerikanischer Kampfflugzeuge auf zwei Beobachtungsposten an der Grenze zu Pakistan, der am 26. November 2011 24 pakistanische Soldaten das Leben kostete. Die Regierung Barack Obamas weigert sich partout, der Forderung Pakistans nachzukommen.

Die Unnachgiebigkeit der Pakistaner hängt mit ihrem Überdruß angesichts der schäbigen, undankbaren Behandlung zusammen, die sie seit Jahrzehnten seitens der Amerikaner erfahren. Ohne die Hilfe Pakistans wäre der gigantischen CIA-Operation in den achtziger Jahren zur Unterstützung der afghanischen Mudschaheddin im Kampf gegen die Sowjetarmee kein Erfolg beschieden gewesen. Dessen ungeachtet hat Washington nach dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung der Sowjetunion die Pakistaner wegen der Entwicklung ihrer Atombombe - etwas, das US-Regierungen zuvor jahrelang gezielt ignoriert hatten - an den Pranger gestellt. Washington verhängte Handelssanktionen. Nicht nur wurden moderne Kampfjets vom Typ F-16 für die pakistanische Luftwaffe nicht ausgeliefert, man hat vielmehr auch Gelder in Millionenhöhe, die Islamabad als Bezahlung im Voraus überwiesen hatte, behalten.

Als nach den Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001 die Regierung George W. Bush zum Kreuzzug gegen Osama Bin Ladens Al-Kaida-"Netzwerk" und die afghanischen Taliban blies, wurde Pakistan auf brutale Weise in die Pflicht genommen. In einem Gespräch wurde Pakistans damaliger Präsident Pervez Musharraf nicht von seinem Amtskollegen Bush, auch nicht von dessen Außenminister Colin Powell, sondern von dessen Stellvertreteter Richard Armitage eröffnet, entweder Pakistan mache beim "Antiterrorkrieg" mit, öffne seinen Luftraum für US-Militärflugzeuge und sein Territorium für Nachschublieferungen nach Afghanistan, oder man werde die Islamische Republik "in die Steinzeit zurückbomben". In der pakistanischen Presse hat damals ein Kommentator das Gefühl seiner Landsleute mit folgendem drastischen Bild beschrieben: Man komme sich wie ein benutztes Kondom vor, das Uncle Sam weggeworfen hat und nun notgedrungen aus dem Kloschüssel fischt und wieder anzieht.

Seitdem hat sich an der Rücksichtslosigkeit der USA gegenüber dem nominellen "Verbündeten" Pakistan nichts verändert. Obwohl Pakistan wegen der Verbundenheit der eigenen paschtunischen Bevölkerung mit ihren Stammesangehörigen in Afghanistan bei deren Kampf gegen die NATO mehr tote Soldaten - fast 6000 - zu beklagen hat als die Amerikaner selbst, hat sich Washington niemals mit dem Einsatz Islamabads zufrieden gezeigt. Weil Musharraf einen Modus vivendi mit den militanten Islamisten im eigenen Land suchte, um einen regelrechten Bürgerkrieg zu vermeiden, wurde er 2008 mit Hilfe der Amerikaner aus dem Amt gejagt. Seit Asif Ali Zardari, der Witwer der ermordeten Benazir Bhutto, Staatsoberhaupt ist, hat sich die Anzahl der amerikanischen Drohnenangriffe auf Ziele in der pakistanischen Grenzregion drastisch erhöht.

Bei diesen völkerechtlich illegalen Angriffen kommen nicht nur mutmaßliche "Terroristen", sondern auch zahlreiche Zivilisten ums Leben, was natürlich die pakistanische Bevölkerung in Rage versetzt. Deswegen hat der stundenlange Luftangriff auf die zwei Grenzposten im vergangenen November, den die Amerikaner angeblich fortsetzten, nachdem das pakistanische Militär ihnen telefonisch mitgeteilt hatte, daß sie keine Taliban-Kämpfer, sondern einfache Soldaten bombardierten, das Faß zum Überlaufen gebracht. Es wurden nicht nur alle CIA-Mitarbeiter des Landes verwiesen, sondern auch die beiden Grenzübergänge für den Transport von Gütern und Personen von der Hafenstadt Karatschi über die Grenze nach Afghanistan bis auf weiteres für NATO-Nachschub gesperrt.

Die Grenzsperre kostet die USA rund 100 Millionen Dollar im Monat. Treibstoff für die NATO-Streitkräfte in Afghanistan muß über eine nördliche Route durch Rußland und die ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien auf der Straße und Schiene transportiert werden. Lebensmittel werden eingeflogen. Am 27. Juni trafen sich in Rawalpindi Pakistans Generalstabschef Ashfak Parvez Kayani und der ISAF-Oberbefehlshaber, US-General John Allen, samt ihren Stäben zu Gesprächen. Im Vorfeld des Treffens hieß es aus pakistanischen Regierungskreisen, die Beendigung eines Dauerstreits stehe kurz bevor, die Amerikaner seien zu einer Entschuldigung bereit. Doch unmittelbar vor dem Treffen machte US-Verteidigungsminister Leon Panetta die Erwartungen der Pakistaner zunichte. Im US-Fernsehen erklärte er, das geäußerte Bedauern Washingtons über den "versehentlichen" Tod der pakistanischen Grenzsoldaten müsse Pakistan genügen; eine formelle Entschuldigung werde es nicht geben.

Mit dieser Festlegung gibt der frühere CIA-Chef Panetta seinem demokratischen Parteikollegen Obama wichtige Rückendeckung. Würden sich die USA bei Pakistan wegen des besagten Vorfalls entschuldigen, wäre das Wasser auf die Mühlen der Republikaner im Kongreß und deren Präsidentschaftskandidaten Mitt Romney, die tagein, tagaus Obama bezichtigen, die Interessen Amerikas in der Welt nicht energisch genug zu vertreten und somit seine Stellung als "unverzichtbare Nation" auf Erden zu gefährden. Dafür jedoch nehmen die Beziehungen zwischen den Atommächten Pakistan und den USA weiteren Schaden. Während die Republikaner die Gelder zur Finanzierung der Kosten der pakistanischen Streitkräfte im "Antiterrorkampf" streichen wollen, betrachten laut der jüngsten Umfrage des renommierten demoskopischen Instituts Pew 74 Prozent der Pakistaner die USA inzwischen als einen "Feind" ihres Landes.

30. Juni 2012