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ASIEN/767: Soziale Kämpfe im Indien der kapitalistischen Moderne (SB)


Arundhati Roy - Unbeugsames Eintreten gegen Krieg und Unterdrückung



"Wir betreten die Geschichte durch die Trümmer des Krieges. Zerstörte Städte, ausgedörrte Felder, schrumpfende Wälder und sterbende Flüsse sind unsere Archive." [1] Diese Worte stammen von der indischen Schriftstellerin und Globalisierungskritikerin Arundhati Roy, einer mutigen Frau, die durch ihr furchtloses Eintreten für die Entrechteten, Geächteten und sozial Ausgegrenzten zur hochgelobten Stimme der Länder des Südens geworden ist.

In einer Zeit, in der Kriegslügen die Vernichtung ganzer Völker legitimieren und die imperiale Neuordnung der Welt allerorten unsägliches Leid heraufbeschwört, immer mehr Menschen unter der unheilvollen Allianz von Politik und Kapital an den Rand von Hungertod und Siechtum gedrängt werden und der Utilitarismus knapper werdender Ressourcen unverhohlen Rassismus predigt, gilt Arundhati Roy mit ihrem Bekenntnis zum gewaltfreien Widerstand vielen Aktivisten als Leitfigur ihres eigenen Aufbegehrens. "Ich spreche als eine Sklavin, die sich anmaßt, ihren König zu kritisieren" [1]- vielbeachtete Worte, die sie am 13. Mai 2003 vor 3000 Menschen in der Riverside Church im New Yorker Stadtteil Harlem sprach, an jenem Ort, an dem Martin Luther King am 4. April 1967 seine legendäre, ganz auf der Linie des Engagements der indischen Schriftstellerin liegende Rede "Beyond Vietnam - A Time to Break Silence" hielt.

Seit der Veröffentlichung ihres Welterfolgs "Der Gott der kleinen Dinge" 1997, in dem sie die tragische Liebe zu einem Dalit, zu einem Unberührbaren schildert, hat sich Arundhati Roy offen auf die Seite der antiimperialistischen Bewegungen geschlagen. In Indien selbst war kein Verleger bereit, das Buch zu veröffentlichen. Der Inhalt sei verwerflich und geradezu anstößig. Liebe zu empfinden zu einem Menschen, der den Bodensatz im indischen Kastensystem bildet, stellt nicht nur die feudalen Strukturen der gesellschaftlichen Rangordnung zutiefst in Frage. Vielmehr könnte dies über den moralischen Affront einer nicht standesgemäßen Liaision hinaus als emanzipatorischer Weckruf verstanden werden, im Wirbel der Gefühle und erwachten Freiheiten den Mißwuchs noch ganz anderer Widersprüchlichkeiten im Spannungsfeld zwischen Erlaubtem und Verbotenem ans Tageslicht zu bringen. Denn nicht der Schmutz am eigenen Körper schändet, verächtlich macht sich jedoch eine Gesellschaft, die Reichtum für privilegierte Schichten produziert und für die Ärmsten der Armen Slumsiedlungen erschafft, in denen Menschen im Schatten der Müllberge und Kloaken vegetieren und sich nicht waschen können, weil ihnen sanitäre Standards und ein Leben in Würde verwehrt werden.

Als Arundhati Roy am 11. November 2004 in Sydney einen Friedenspreis entgegennahm, hielt sie eine flammende Rede gegen den Irakkrieg und stimmte eine Gegenhymne zum weltweit grassierenden Neoliberalismus an. Wer die Märkte befreit, knebele das Volk und liefere es einer ungezügelten Exploitation ans Messer, so Arundhati Roy. Wenngleich sie immer wieder als notorische Unruhestifterin verschrien und ihr nachgesagt wurde, keinen friedlichen Knochen im Leibe zu haben, ist sie nie von ihrer Lebensaufgabe abgewichen, den feudalen Frieden zwischen Herrschenden und Knechten nachhaltig zu stören. Auch wenn es seine Gültigkeit hat, daß es "keinen wirklichen Frieden ohne Gerechtigkeit geben" [2] könne, sei Gerechtigkeit in einer Welt der Gewalt nur durch Widerstand zu erreichen. Gerechtigkeit ist für Arundhati Roy jedoch kein hohles Wort, das sich mit Versprechungen wie Pluralismus und Partizipation füllen ließe, die im Gemüt wohlstandsgesättigter Zeitgenossen als schale Abbilder einer Furcht herumgeistern, die aus nichts anderem erzeugt ist als der Sorge um den Verlust liebgewordener Gewohnheiten und des Privilegs, auf Kosten einer weltumspannenden Armut die Schamgefühle der Not nicht zu kennen.

Für Arundhati Roy ist es kein Widerspruch, "daß das Verletzen von Menschenrechten ein fester und notwendiger Teil des Prozesses der Verwirklichung einer Zwangs- und ungerechten politischen und wirtschaftlichen Struktur" [2] ist. Kommt es dann doch zum Konflikt und zur bewaffneten Gegenwehr, eilen Nichtregierungsorganisationen zur Stelle, um die Aufständischen mit dem erlittenen Unrecht auszusöhnen, als sei alles nur eine Frage der Regulation. Aus diesem Grund geraten Menschenrechtsaktivisten in Konfliktgebieten wie Kaschmir oder Irak bei den Einheimischen in Verdacht, als Agenten der Gegenseite zu fungieren.

Erst die Verschmelzung von Neokolonialismus und Neoliberalismus hat Arundhati Roy zufolge den Irakkieg möglich gemacht. Schaue man "hinter den Vorhang von Blut", treffe man immer auf Geschäftsabschlüsse zwischen Staaten und Konzernen. Man bräuchte bloß die Augen zu öffnen, um zu erkennen, daß die zivilisierte Welt "auf einem Erbe von Genozid, Sklaverei und Kolonialismus" [2] erbaut sei. Ob nun die Ölfelder und Raffinerien, die Arsenale grausamster Waffensysteme, der Koloß der Geldproduktion oder die machiavellistische Macht gelenkter Medien - der Reichtum der Welt steckt in der geballten Faust der einstigen Kolonialmächte.

Welche Widerstandsoptionen hat die Zivilgesellschaft in einer Zeit imperialer Umbrüche und Transformationen, wenn Worte wie Freiheit, Frieden, Demokratie und Reformen einen bitteren Beigeschmack hinterlassen? "In diesen angeblich demokratischen Zeiten behauptet das konventionelle politische Denken, daß die Macht des Volkes sich in Wahlen ausdrückt" [3], so die indische Aktivistin. Nicht nur in den klassischen westlichen Demokratien mache sich Politikverdrossenheit und eine sinkende Beteiligung an den Wahlen zunehmend bemerkbar. Mit Blick auf ihre Heimat erklärte sie, daß die indischen Eliten fast fugenlos in die Fußstapfen der britischen Imperialisten traten, als sich die Briten von einer 300jährigen Kolonialgeschichte auf dem Subkontinent verabschiedeten. Sie hinterließen eine im Grunde genommen feudale Gesellschaft, die durch jahrzehntelange Aufstände gegen die Besatzungsmacht, das britische Steuersystem und die noch unter den Briten begonnenen Landenteignungen an der politischen Konsolidierung gehindert, ökonomisch ausgeblutet und sozial ausgehöhlt war.

Der Übergang in einen modernen unabhängigen Nationalstaat verlief blutig und schuf ein in sich zerrüttetes Staatswesen nicht nur mit Blick auf den Nachbarn Pakistan, sondern auch hinsichtlich anderer innerindischer Krisenherde wie Kaschmir und den Nordosten des Landes. Noch heute wird der indische Staat von großen Teilen seiner eigenen Bevölkerung als Dieb wahrgenommen. Kaum anders verhält es sich in den USA, wo die Hoffnung auf einen echten Politikwechsel den verarmten Massen durch das bipolare Parteiensystem und die ideologischen Schulterschlüsse zwischen Senat und Kongreß längst verflogen ist. Kein Politiker, der nicht von der grundlegenden Richtigkeit der militärisch- industriellen-korporativen Machtstruktur überzeugt sei, werde jemals durch die Tore der Macht schreiten. Radikale Veränderungen ließen sich daher mit Staaten und Regierungen nicht aushandeln.

Die Gegenkraft zur kapitalistischen Globalisierung und manipulativen Wahldemokratie sieht Arundhati Roy in einer modernen aufgeklärten Zivilgesellschaft, in der sich die Menschen über alle Grenzen hinweg die Hände reichen. Nur diese Art von Widerstand, die sich als Motor der Emanzipation gegen administrativen und ökonomisch aufoktroyierten Zwang versteht, könne effektive Veränderungen herbeiführen, nicht als artikulierter Protest oder Manifest des Unmuts, sondern durch die einzige Waffe, die den einfachen Menschen noch geblieben ist: die Verweigerung.

Ein Staatsimperium mit globalen Ansprüchen wie die USA braucht die Expansion notwendig zum Machterhalt, um einerseits an die weltweiten Ressourcen heranzukommen und zum anderen die konkurrierenden Märkte im internationalen Ausland aufzubrechen. Für die Aufrechterhaltung seiner Dominanz verwendet der amerikanische Staat manchmal das Scheckbuch und manchmal Cruise Missiles. Einer Kriegswirtschaft unterliegen jedoch alle Menschen, unabhängig von ihrem Wohnsitz, ob nun Panzer vor ihrer Tür aufrollen oder Raketen in ihren Dächern einschlagen. Das Imperium nötige die Armen in die sinngebende Rolle des Untertans eines Staates. Sei es, daß sie ihren Job verlieren, die Stromrechnungen nicht mehr bezahlen können oder in die Obdachlosigkeit getrieben werden. Hinter dem repressiven Charakter der Staatsmaschinerie, die von Insititutionen wie der Polizei, der Armee und der Justiz im Gang gehalten wird, steckt eine Strategie der vollständigen Verarmung breitester Bevölkerungsschichten und die Verfügbarmachung des Menschen als willfährige Arbeitsressource. Ob im Irak, in Indien oder Argentinien, ob auf den Straßen Europas oder der Vereinigten Staaten, überall hätten Kämpfe um Autonomie und individuelle Selbstbestimmung dieses eigentliche Staatsinteresse in seiner ganzen unverfälschten Schonungslosigkeit aufgedeckt. So sei das Abstrakte berührbar geworden, habe der früher schattengleiche Feind plötzlich Gestalt angenommen.

Darin sieht Arundhati Roy den eigentlichen Erfolg aller Massenmobilisierungen und politischen Gruppen, der Landlosen in Brasilien, der Anti-Damm-Bewegung in Indien, der Zapatisten in Mexiko, des Anti-Privatisierungs-Forums in Südafrika, die mit einer Vielzahl von Strategien das gleiche bewirkt hätten, nämlich die "Globalisierung des Dissenses" [3]. Viele dieser Kämpfe waren anfangs radikal, möglicherweise revolutionär, seien dann jedoch aufgrund der massiven militärischen Unterdrückung in eine konservative bis reaktionäre Position gedrängt worden, in der sie die Repressionsmechanismen adaptierten und die gleiche Sprache des religiösen und kulturellen Nationalismus sprachen wie die Staaten, die zu bekämpften sie angetreten waren.

Für Arundhati Roy gibt es daher keine Alternative zum gewaltlosen Widerstand, weil Gewalt, und seien die Gründe noch so ehrbar, den Menschen immer korrumpiert und ihm seinem erklärten Feind ähnlich macht. Die Erfahrung habe deutlich gezeigt, daß, sobald ein Unrechtssystem wie die Apartheid in Südafrika abgeschafft sei, der eigentliche Kampf gegen den verborgenen wirtschaftlichen Kolonialismus noch bevorsteht. Die Menschlichkeit oder das Heraufdämmern einer gerechten Welt wird für Arundhati Roy nicht mit der Waffe in der Hand errungen. So kommt für einen Tyrannen nur ein anderer Despot an die Macht. Solange die ureigene Wunde im Menschenbild, die Kluft zwischen arm und reich, nicht überwunden ist, wird es keine Gerechtigkeit auf Erden geben und die Versklavung die Ketten der Gewalt nicht abstreifen.

Der Irak sei ein tragisches Beispiel dafür. Mit einer feigen und illegalen Invasion wurde zwar der Despotismus Saddam Husseins historisch zu den Akten gelegt, aber im zweckdienlichen Konsens der Befreiung hätten sich sogleich die Korporationen auf schamloseste den Reichtum dieses Landes unter dem Kniefall einer irakischen Regierung angeeignet. Von daher sei es absurd, den irakischen Widerstand gegen die US-Besatzung als Werk von Terroristen oder Überbleibseln des Saddam-Regimes zu verteufeln. Vielmehr stünde der irakische Widerstand aus bunt zusammengewürfelten Fraktionen früherer Baathisten, Liberaler, Islamisten, Kommunisten und anderer Gruppierungen, auch wenn er von Opportunismus, inneren Streitigkeiten, Demagogie und Kriminalität durchsetzt sei, auf der Frontlinie des Kampfes gegen das Imperium. "Und daher ist dieser Kampf unser Kampf." [3]

Kritik sei allerdings angebracht, weil viele Widerstandsbewegungen an einer Verherrlichung ihrer Führer und einem Mangel an Transparenz, demokratischer Vision und emanzipatorischer Zielrichtung litten. Auch wenn Arundhati Roy das Blutvergießen aufgrund welcher ethischen Rechtfertigung auch immer aus tiefster Überzeugung ablehnt, nahm sie sich nicht das Recht heraus, den Kampf des irakischen Volkes gegen eine Fremdherrschaft und die korporative Ausplünderung seiner Ressourcen moralisch zu verurteilen. Es sei aber nicht ihr Weg, und schon gar nicht ihr Gerechtigkeitsempfinden, für eine Welt mit menschlichem Antlitz einzustehen.

Arundhati Roy ist zweifelsohne eine ernsthafte Kritikerin jedweder Form von Unterdrückung, aber keine Kämpferin im klassischen revolutionären Sinne. Ihr Verdienst ist es, das Elend beim Namen zu nennen, ohne es zu beschönigen oder Kompromisse in der Unverbrüchlichkeit ihres Anliegens einzugehen. Sie zeigt Strategien gewaltloser Gegenwehr auf und warnt vor möglichen Gefahren einer Korrumpierungsanfälligkeit in der Friedens- und Antiglobalisierungsbewegung. Sosehr Strukturen kommunikativen und institutionellen Interagierens auch ein entschlossenes Vorgehen bündeln können, sind sie doch Aufweichungstendenzen ausgesetzt, die von staatlichen Interessen und deren Vertretern ausgenutzt werden können.

Arundhati Roys Fundament ist im Grunde genommen eine bürgerliche Version klassenkämpferischer Traditionen, nur daß sie den Humanismus stärker in den Vordergrund rückt, vielleicht auch in Anlehnung an ihr syrisch-christliches Elternhaus. Sie ist deswegen beileibe kein Bourgeois, auch wenn die Fixierung auf Begrifflichkeiten aus der bürgerlichen Aufklärung dies vermuten ließen. Freilich hat die Aufklärung wesentlich ältere Wurzeln, auf die sie intuitiv oder wissentlich Bezug nimmt. Darauf verweist jedenfalls ihr dialektisches Verständnis von Mensch und Staat, das sich nicht ohne eine existentielle Philosophie denken läßt. Wer sich vollständig für den Menschen entscheidet, folgt nicht dem Mammon noch dem Sauerteig disparativen Vorteilsdenkens.

Der Januar 2001 war für Arundhati Roy so etwas wie die Morgenröte einer "anarchischen, unindoktrinierten, kraftvollen, neuen Art von 'Zivilgesellschaft'". Damals kamen etwa 20.000 Aktivistinnen, Studentinnen, Filmemacherinnen und, wie sie selbst betont, einige der besten Köpfe dieser Welt in Porto Alegre in Brasilien zusammen, um ihre Erfahrungen bei und ihre Ideen für die Konfrontation mit dem Imperium auszutauschen. "Das war die historisch gewordene Geburt des Weltsozialforums" [3], das ihrer Ansicht nach eine entscheidende Rolle in der Bewegung für weltweite Gerechtigkeit spielen könnte.

Der Aufruf "Eine andere Welt ist möglich" diente seitdem als Plattform für hunderttausende Gespräche, Debatten und Seminare, mit dem Ziel, eine Vision auszuarbeiten und heranreifen zu lassen, die Mißstände bekämpft und allen Menschen, unabhängig von Herkunft, Religion, Geschlecht oder Lebensform, eine Chance zur Entfaltung humanistischer Ideale und für ein friedenssicherndes Miteinander bietet. Gefahr lauert allerdings auch hier im Hintergrund, denn die offene und festliche Atmosphäre des Forums habe es auch PolitikerInnen und Nichtregierungsorganisationen, die eng mit dem politischen und wirtschaftlichen System verbunden sind, gerade wegen seiner breiten Resonanz ermöglicht, sich Gehör zu verschaffen. Als sich abzeichnete, daß die weltweiten Massen- und Widerstandsbewegungen eine echte Bedrohung darstellen könnten, hätten die Staaten ihre eigenen Strategien der Kooptation, massenmedialer De- und Falschinformation bis hin zur Strafandrohung entwickelt, um den solidarischen Zusammenhalt zu diskreditieren und aufzubrechen.

Eine weitere nicht unwesentliche Gefahr für große Protestbewegungen drohe durch die NGOisierung des Widerstands. Arundhati Roy wirft zwar nicht alle NGOs in einen Topf, doch gebe es Schein-NGOs, die in schmutzigen Gewässern schwimmen und nur dazu gegründet wurden, um in den Wirtschaftsräumen der Dritten Welt Profit zu machen oder Steueroasen für Kapitalinteressen aufzuspüren. Die NGOs, die wertvolle Arbeit leisteten, müsse man jedoch in einem breiteren politischen Kontext betrachten.

So fiel beispielsweise der NGO-Boom in Indien in den späten 80er und frühen 90er Jahren mit der Öffnung indischer Märkte für den Neoliberalismus zusammen. Der indische Staat fuhr zu diesem Zeitpunkt die wirtschaftliche Förderung ländlicher Regionen herunter, um den strukturellen Aufbau des industriellen Komplexes zu finanzieren. Bereiche wie Landwirtschaft, Energie, Transport und öffentliche Gesundheitsversorgung seien infolgedessen vernachlässigt worden mit horrenden Auswirkungen für breite Bevölkerungsschichten. In dieses Vakuum seien dann die NGOs mit ihren Entwicklungsprogrammen gestoßen. Doch die Gelder stellten nur einen winzigen Bruchteil der Einsparungen in den öffentlichen Ausgaben dar. Die meisten großen NGOs würden von Hilfs- und Entwicklungsagenturen finanziert und patronisiert, hinter denen westliche Regierungen, die Weltbank, die UNO und einige multinationale Konzerne stecken. Sie dienten dazu, die neoliberalen Projekte der transnationalen Konsortien und internationalen Politelite besser zu überwachen und Ausbrüche sozialen Unfriedens im Vorwege zu entschärfen. NGOs bildeten so eine Art Puffer zwischen dem Staat und der Bevölkerung. Gerade diese Entpolitisierung des Widerstands und die hohe Bereitschaft, Konflikte durch Verhandlungen zu lösen und dadurch regionale Bewegungen auszubooten, sei das Markenzeichen der NGOs, die ihren Kapitalgebern, nicht den hilfsbedürftigen Menschen verpflichtet seien.

Im Schatten des inneren Widerspruchs und der nach allen Seiten auffasernden Improvisation gebe es Arundhati Roy zufolge keine wichtigere Diskussion als die über die Strategien des Widerstandes. Der Pfad des Begehbaren sei jedoch dünn geworden. Indien sei ein Paradebeispiel für die staatliche Willkür im Umgang mit zivilem Ungehorsam. Im letzten Jahrzehnt sei die Zahl der Menschen, die durch Polizei- und Sicherheitskräfte getötet wurden, in die Zehntausende gegangen. Im Unionsstaat Andhra Pradesh, das als Vorzeigemodell für die kapitalistische Globalisierung in Indien gilt, kommen jährlich etwa 200 sogenannte Extremisten bei vorgetäuschten Zusammenstößen mit der Polizei ums Leben. Im bürgerkriegsgeschüttelten Kashmir wurden seit 1989 ungefähr 80.000 Menschen getötet. Tausende seien zudem nach ihrer Verhaftung einfach verschwunden. In den nordöstlichen Provinzen Indiens sieht die Lage kaum besser aus. Nicht selten eröffnet die Polizei das Feuer auf unbewaffnete Zivilisten, zumeist Dalits und Adivasis, die dann zur Rechtfertigung des Mordens schlichtweg als Terroristen bezeichnet werden.

Arundhati Roy mahnte an, daß der Zulauf zu militanten Gruppen in direkter Beziehung stünde zum Vorgehen des Staates gegen zivile Protestbewegungen. Wenn der Weg des gewaltfreien Widerstands versperrt sei und Aktivisten, die gegen die Verletzung von Menschenrechten protestieren, als Terroristen gebrandmarkt, gefoltert und getötet werden, könne es nicht überraschen, "wenn große Teile des Landes von jenen überrannt werden, welche an einen bewaffneten Kampf glauben" [3].

So stehen große Teile der Provinzen Madhya Pradesh, Chattisgarh, Jharkhand und Andhra Pradesh unter der Kontrolle von Aufständischen, während die einfachen Menschen in diesen Regionen zwischen die Gewalt der Militanten und die Repressionspolitik des Staates gerieten. In Andhra Pradesh, Jharkhand und Orissa sind es vor allem die maoistischen Naxaliten, die den bewaffneten Kampf der autochthonen Bevölkerung gegen Landvertreibung und Polizeiwillkür organisieren. Die Vorgeschichte zu diesem fortgesetzten Blutvergießen ergibt sich jedoch aus dem Machtmißbrauch des Staates, der gewaltfreie Widerstandsbewegungen zerschlug und jede Art von politischer Massenmobilisierung oder Organisation bestochen, gebrochen oder schlicht ignoriert hat.

Der Griff zu den Waffen ist für Arundhati Roy dennoch kurzschlüssig, denn dadurch werde eine Eskalationsspirale in Gang gesetzt, die in einer Totalität der angewandten Mittel entufere. "Terrorismus ist bösartig, ekelhaft und entmenschlicht sowohl diejenigen, die ihn ausüben wie auch seine Opfer. Aber genauso tut es der Krieg. Man könnte sagen, daß der Terrorismus die Privatisierung des Krieges ist. TerroristInnen sind die Freihändler des Krieges." Für Arundhati Roy gibt es jedoch eine Alternative zum Terrorismus: "Sie wird Gerechtigkeit genannt", denn "welche Form der Kampf haben wird, ob er wunderschön oder blutdürstig sein wird, hängt von uns ab." [3]

Allerdings sieht die bedingungslose Friedensaktivistin durchaus, daß der Weg der Gewaltlosigkeit, wie ihn Gandhi in ihren Augen propagiert habe und erfolgreich gegangen sei, selbst in eine innere Krise geraten ist. Vielerorts fühlten Menschen angesichts der hohen Verluste an Menschenleben, "daß sie jetzt ihre Richtung ändern müssen". Wenn der Einsatz des nackten Lebens an seine idealistische Grenze gekommen sei, müsse man "die Bedeutung von zivilem Ungehorsam wiederentdecken". [4]

Solidarität und soziales Aufbegehren sind ihr zufolge die einzigen verläßlichen Gefährten der Menschheit auf dem Weg zu einer anderen Welt. Nur so ließen sich Kriege und das Überhandnehmen neokolonialistischer Raubstrukturen stoppen, indem SoldatInnen sich weigern zu kämpfen, ArbeiterInnen keine Waffen auf Schiffe und Flugzeuge verladen und Menschen die wirtschaftlichen Außenposten des Imperiums boykottieren.

Der Euphemismus eines demokratischen Staates habe sich historisch überlebt, weil darin die Freiheitsrechte und der Schutz des Individuums interessengebunden verhandelt und notfalls außer Kraft gesetzt werden können. Für Arundhati Roy ist die Demokratie nur "die Hure der freien Welt, bereit, sich nach Wunsch an- und auszuziehen, bereit, die verschiedensten Geschmäcker zufriedenzustellen. Man nutzt und missbraucht sie nach Belieben." Dieser Konflikt sei nicht mit Reformen, aber auch nicht mit Gewalt zu lösen, vielmehr habe sich gezeigt, daß die ökonomischen Interessen stets den Vorrang erhalten vor der Lebenswirklichkeit der Menschen. "Von keiner Regierung wurden uns unsere Freiheiten zugestanden. Im Gegenteil. Sie wurden uns durch sie entrissen. Und sind sie einmal abgetreten, dann heißt der Kampf um ihre Rückerlangung Revolution." [1]

Darin erschöpft sich die Zivilisation und Historie der auf Unterdrückung und Ausbeutung gegründeten Wirtschaftssysteme, daß sie sich einen Staat erschaffen haben, um die verstörende Kluft zwischen unvorstellbarem Reichtum und schockierender Armut bis auf seinen entmenschlichsten Ausdruck fortzuentwickeln. Die Gewalt als monopolisierte Instanz drückt sich in dieser Kluft aus und hat darin ihre Existenzberechtigung, zu verhindern, daß eine geteilte Menschheit die Schranken ihres eigenen Untergangs jemals überwindet. In den indischen Kasten ist das System der Arbeitsteilung in seinen archaischen Formen noch weitgehend erhalten geblieben, alle gesellschaftlichen Dienstleistungen und Arbeitsprozesse in einem Staatswesen streng hierarchisch und funktional zu gliedern und über Ethnien, Sippen und ständische Formationen unverrückbar fortzuschreiben. Besonders betroffen davon sind die Adivasi, die indigenen Völker des Subkontinents, und die Dalits am untersten Rand der Kastenordnung. Seit der Öffnung der Märkte für den internationalen Handel stehen diese Bevölkerungsgruppen in einem blutigen Überlebenskampf, da sie zur Erschließung der gewaltigen Vorkommen an verschiedenen Metallerzen und Uran von ihren Heimatgründen durch marodierende Banden im Sold der Großgrundbesitzer und paramilitärische Sicherheitskräfte von Armee und Polizei der einzelnen Unionsstaaten vertrieben werden.

Vor allem die Adivasi, die sich zur Wehr setzen, bilden die Massenbasis für die militante Bewegung der Naxaliten, so benannt nach einem Bauernaufstand in Naxalbari 1967, wo Abspaltungen innerhalb der Kommunistischen Partei Indiens (CPI) auf Seiten der Aufständischen gekämpft hatten. Inzwischen kontrolliert die Guerillaarmee der Peoples Liberation Guerilla Army (PLGA) weite Teile des ländlichen Indien und verfügt über zivile Massenorganisationen. In einigen Gebieten haben sie autonome Verwaltungsstrukturen aufgebaut.

2010‍ ‍reiste Arundhati Roy über mehrere Wochen in den zentralindischen Dandakaranya-Dschungel der Region Bastar im Süden des erst vor einigen Jahren neu gegründeten Bundesstaates Chattisgarh, wo sie mit Kämpfern der maoistischen Guerilla zusammentraf. Über ihre Erfahrungen verfaßte sie einen politisch motivierten Bericht, der im indischen Nachrichtenmagazin Outlook unter dem Titel: "Wanderung mit den Genossen - In den Dschungeln Zentralindiens mit der Guerilla" veröffentlicht wurde.

Lange vor ihrer Abreise hatte sie in Publikationen und Essays harsche Kritik an der neokolonialistischen Politik Indiens geübt, dabei aber stets den gewaltfreien Weg propagiert. Nach der Annäherung an die maoistische Guerilla wurde ihr auch von antimilitaristischen und gewaltfrei-libertären Gruppen der Vorwurf gemacht, in ihren Aktionsstrategien Gewalt als Mittel des Widerstands nicht mehr kategorisch auszuschließen. So hatte sie bereits Januar 2010 anläßlich der Dreijahreskonferenz der War Resisters' International (WRI) im indischen Ahmedabad in einer Rede nicht nur den indischen Staat aufgrund des genozidalen Kriegs gegen die eigene indigene Bevölkerung an den Pranger gestellt, sondern auch die Frage aufgeworfen, ob der gewaltfreie Widerstand weiterhin die einzige Antwort und Option sein könne. Seit der Veröffentlichung ihres Berichts prüfen die hindunationalistische BJP-Regierung und die Polizei des Bundesstaates Chattisgarh, Arundhati Roy unter den seit 2005 bestehenden Anti-Terror-Gesetzen anzuklagen.

Daß in den Dschungeln Zentralindiens seit 1986 Krieg gegen die Urbevölkerung geführt wird, der mehr Menschenleben gekostet hat, als der Guerilla zur Last gelegt werden, und bereits vor dem Besuch Arundhati Roys eine polizeilich-militärische Repressionswelle ("Operation Green Hunt") in dieser Region anlief, findet in den Medien der westlichen Welt kaum Beachtung. Jeder Adivasi, der im befreiten Gebiet der Guerilla lebt und angetroffen wird, gilt automatisch als Naxalit und damit als vogelfrei.

Arundhati Roy schildert in ihren Erfahrungen einen von unzähligen Vorfällen, bei dem Sicherheitskräfte bis zu Tausend-Mann-Stärke nächtens eine Dorfsiedlung der Bevölkerungsgruppe der Gond umzingelten, Einwohner des Dorfes, die in der Dämmerung auf die Felder gingen, gefangennahmen und bei ihrem Sturm auf die Hütten als menschliche Schutzschilde benutzten, um so die versteckten Sprengfallen rund um das Dorf aufzuspüren.

Daß dabei geplündert, vergewaltigt und Massaker begangen werden, ist der Regelfall in dem Planspiel des Staates, den Dschungel unter seine Kontrolle zu bringen und die Urbevölkerung, sofern sie überleben, zwangsumzusiedeln oder schlichtweg zu vertreiben. Ziel dieser auch verfassungswidrigen Operationen, denn die Adivasi genießen zumindest auf dem Papier garantierte Siedlungsrechte, ist, die Errichtung von Bergwerken, Aluminiumfabriken und Staudämmen voranzutreiben und so die Bodenschätze der Region auszubeuten. Die indischen Medien unterstützen die Überfälle und Erschießungen auf ihre Art, indem sie die Guerilla unisono als blutrünstige Mörderbande verunglimpfen und die ums Leben gekommenen Adivasi als Opfer von bewaffneten Kampfhandlungen zwischen Polizeikräften und Naxaliten hinstellen.

In ihrem Bericht tritt Arundhati Roy dieser verzerrten Sicht der Dinge entgegen, indem sie, vielleicht von den tiefen Gefühlen der solidarischen Verbundenheit zwischen den Naxaliten und der Urbevölkerung mitgerissen, ihre Beobachtung an einigen Stellen mit der ihr eigenen poetischen Kraft etwas überzeichnet. Wenn der unbedingte Zusammenhalt in einer Kriegsregion, vor der Übermacht nicht zu weichen, in der die Gegenseite mit der Brachialgewalt ihrer überlegenen Waffen und logistischen Mobilisierung kein Erbarmen kennt und wahllos mordet, bei Zivilisten, die nur die soziale Überlebenskonkurrenz kennengelernt haben, auf Anerkennung stößt, dann kann das nicht verwerflicher sein als die Begeisterung, die das Kinopublikum packt, wenn der die realen Kämpfe dieser Erde auf andere Planeten entsorgende, als dreidimensionales Augenspektakel zum Konsum aufbereitete Abglanz antikolonialistischen Widerstands in Blockbustern wie "Avatar" cineastisch Furore macht.

Zudem ist Arundhati Roy in ihren Schilderungen weitgehend nüchtern und analytisch geblieben. Die Absicht hinter ihrer Reise war nicht, die Stärke der Guerilla zu idealisieren, was ihr von konservativen wie auch anarcho-pazifistischen Gruppierungen zum Vorwurf gemacht wurde, sondern die Auswüchse des innerindischen Imperialismus mit eigenen Augen zu sehen und in Gesprächen zu erfahren, wenn er weder vor Massenvertreibung noch Massenmord an den indigenen Bevölkerungsgruppen in Zentralindien Halt macht.

Die simple Unterstellung, Arundhati Roys Idealisierung des Guerilla-Krieges sei nicht mit der friedliebenden Adivasi-Tradition vereinbar, verkehrt die Frage des Aggressors in diesem Zufeldeziehen geradezu ins Lächerliche und stellt zudem selbst die rassistische Aushöhlung einer Kultur dar. Sollen sich die Adivasi etwa so zahm und primitiv geben, daß sie sich lieber abschlachten lassen, als das Prosabild des friedfertigen und edlen Wilden zu verletzten? Sowohl nach juristischen Richtlinien als auch nach archaischen Geboten der Wehrhaftigkeit ist die Verteidigung und der Selbstschutz gegen einen feindlich gesinnten Eindringling ein selbstverständliches Recht, um Leben, Hab und Gut und die Integrität der Gemeinschaftsmitglieder zu schützen. Gewaltlosigkeit ist ein politisches Konzept, das seine Bewandtnis verliert, wenn ein Feind mit einem Bajonett auf einen zustürmt. In diesem Sinne nehmen die Adivasi im Waffenbündnis mit den maoistischen Naxaliten ein Urrecht in Anspruch, das keiner Kodifizierung noch Gesetzesnovelle bedarf, weil es als elementar vorausgesetzt ist.

Ob dabei die politische Ideologie der Naxaliten, deren Verständnis von einem revolutionären Kampf, anders als bei Karl Marx' klassenkämpferischen Industrieproletariat, bei den Kleinbauern und der Landbevölkerung ansetzt, geeignet ist, den Existenzkampf der Adivasi zu organisieren, ist vor dem Hintergrund des Krieges, der in den Stammeslanden seit Jahrzehnten wütet, irrelevant. Wer mein Haus verteidigt, ist mein Freund. Zu Irritationen in der Frage der angewandten Mittel zur Abwehr eines Feindes kann es lediglich dann kommen, wenn der Umstand des Kriegsfalls aus der sicheren Distanz des Beobachters geleugnet wird. Daß Männer, aber auch Kinder oder Jugendliche, Frauen und Greise gezwungen werden, die Unverletztlichkeit des Lebens, die in allen Kulturen heilig ist, zu Kriegszeiten zu brechen und der aggressorischen Gewalt entsprechend Maßnahmen zu ergreifen, die nicht anders als unmenschlich sein können, weil Leben genommen wird, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß in Zentralindien keine überschaubare Fehde, sondern ein Vernichtungskrieg geführt wird.

Je länger ein Krieg andauert, desto grausamer werden die Mittel. Daß jede Guerilla, unabhängig von Ideologie und Zielsetzung, oder ein Volk im Verteidigungszustand zuweilen anti-emanzipatorische Strategien und straffe hierarchische Kommandostrukturen, wie sie in jeder Militärtradition üblich sind, entwickelt, um den blutigen Krieg zu überstehen, gilt nur dann als verwerflich, wenn man einen sauberen Krieg postuliert. Wenn schon aus keinem anderen Grund, dann sollte man der PLGA zumindest zugute halten, daß sie - bis auf einen Fall - keine Praxis der Entführungen kennt, um Lösegeld für Politiker oder Touristen zu erpressen, nicht in den Drogenhandel involviert ist und die Bevölkerung in den befreiten Territorien nicht ausplündert. Junge Adivasi, die in der maoistischen Befreiungsarmee kämpfen, sind unterdessen keine Kindersoldaten, rekrutiert auf der Basis des Zwangs, sondern Angehörige eines Volkes, das sich zur Wehr setzt, um nicht ein Dasein im heimatlosen Elend führen zu müssen oder tatenlos zuzusehen, wie die vertraute Lebenswirklichkeit unter den Stiefeln von Armeesoldaten und Paramilitärs zertrampelt wird.

Arundhati Roy beschreibt diese Realität nicht aus einer blinden romantischen Faszination heraus, da klebt kein Rosenduft an der Tinte ihres Berichts, sie maßt sich jedoch nicht an, die Rebellion gegen die eigene Auslöschung aus einer warmen Stubengemütlichkeit heraus zu bekritteln oder Menschenrechtskonventionen mit dem erhobenen Zeigefinger anzumahnen, wo doch die kriegführende Koalition, also alle entfernt oder unmittelbar an der Vertreibung der Adivasi profitierenden Interessengruppen, bereits mit dem ersten Gewehrschuß oder Vertragsabschluß zum Bau eines Aluminiumwerks alle Menschlichkeit fahren ließen. Es ist betrüblich, daß ehemalige Milizionäre oder Kinder in Kriegswirren schwerst traumatisiert sind und den Wechsel in ein ziviles Leben ohne Alpträume und therapeutische Hilfe nicht mehr bewerkstelligen können, aber das seelische Leid haben jene zu verantworten, die ihren Fuß mit feindseliger Absicht in die Lebensbereiche anderer Menschen setzten.

"Was hält sie alle im Gange, trotz allem, was sie mitgemacht haben? Ihr Glaube und ihre Hoffnung - und Liebe - für die Partei. Ich begegne dem immer wieder, auf die tiefste und persönlichste Weise" [5], so Arundhati Roy in ihrem Erfahrungsbericht, weshalb ihr der Vorwurf gemacht wurde, eine Art Kadavergehorsam in erschreckender Kritiklosigkeit ins Schwärmerische zu färben. Was aber ist die Partei in den Augen der Adivasi? Eine avantgardistische Ideologie? Eine Bibel in rot? Nein. Arundhati Roy drückt sich in diesem Punkt sicherlich ungeschickt aus und überträgt dabei eigene Erklärungsmuster, wie es nicht selten auch Ethnologen tun, auf Motivationsantriebe anderer Völker oder Lebenszusammenhänge. Für die Adivasi ist, was mit Partei verballhornt wurde, nichts anderes als das intensiv erlebte und urvertraute Gefühl, in diesem Streit nicht allein zu sein. Parteigängerschaft ist etwas anderes.

Vorgeworfen wurde Arundhati Roy auch, daß sie die Verwendung von selbstgebauten Explosivladungen zur Dorfverteidigung nicht mit Blick auf die Landminenkonvention geächtet habe, wohl aber die Verbrechen der Polizeikräfte unter Verweis auf die UN-Konvention zum Schutz der Menschenrechte in aller Deutlichkeit anprangerte. Wenn die Adivasi in diesem innerindischen Bürgerkrieg die Erfahrung machen mußten, daß ihre Stammesbrüder schlafend in ihren Betten hingemeuchelt wurden, kann es dann verwundern, daß sie ihre Nachtruhe vor Heimtücke schützen?

In jedem bewaffneten Konflikt kommt es weit über die zivilgesellschaftlichen Normen hinaus zu eklatanten Brüchen zwischen dem Selbstwert als Mensch und der perfiden Tötungsmaschinerie namens Krieg. Grenzen werden überschritten und Fehler begangen, die nie wieder ungeschehen zu machen sind. Das gilt auch für die Volksgerichte der Gebietskomitees und die gegen gefangenengenommene Polizisten und SPOs [Special Police Officer/Adivasi im Dienst der Spezialstreitkräfte] ausgesprochenen Todesurteile. Das Volk entscheidet, ob es künftig das Risiko eingehen will, dieser Person zu vertrauen oder nicht. Das ist keine willkürliche Justiz oder blutrünstige Rache am Feind, sondern ein schreckliches Abwägen zwischen Risiko und Vergebung.

Inzwischen hat der Terror in den Stammesgebieten auch die indische Justiz erreicht. Nach Klagen von Menschenrechtsgruppen und Privatpersonen hat Indiens oberster Gerichtshof am 5. Juli 2011 die Salwa-Judum-Miliz, Söldner im Dienst der Großgrundbesitzer und lokaler Patriarchen, und den Einsatz lokaler Hilfspolizisten (SPOs) verboten. In der Urteilsbegründung stellten die Richter auch Indiens neoliberales Entwicklungsmodell in Frage und machten es für den in Chattisgarh seit Jahrzehnten andauernden Bürgerkrieg verantwortlich. Diese Wirtschaftsform verstoße gegen die Grundsätze der indischen Verfassung, die allen Bürgern "soziale, wirtschaftliche und politische Gerechtigkeit, Meinungs- und Glaubensfreiheit, Ebenbürtigkeit und Chancengleichheit" garantiert. Der Neoliberalismus hingegen fördere "räuberische Formen des Kapitalismus" und nähre sich "von Plünderung und Diebstahl der natürlichen Ressourcen". "Die Verfassung selbst verlangt in unmissverständlichen Worten, dass der Staat sich ohne Unterlass bemüht, die Brüderlichkeit zwischen allen seinen Bürgern zu fördern" [6], heißt es im Urteilsspruch. Unberührt davon blieben allerdings die gewaltsamen Übergriffe der regulären Polizeikräfte und Paramilitärs.

Die Zentralregierung in Neu Delhi erwägt inzwischen den Einsatz des Militärs zur Niederringung der naxalitischen Guerilla. Das Morden im zentralindischen Dschungel wird weitergehen, und sobald die Naxaliten aus dem Weg geräumt sind, werden die Konzerne und das internationale Finanzkapital nachrücken, um sich die begehrten Bodenschätze unter den Nagel zu reißen. Die Lieder der Adivasi werden dann für immer im Staub der Geschichte verstummt sein.

Arundhati Roys Reise zur maoistischen Guerilla hat keinen neuen Erkenntnisprozeß hervorgerufen und auch nie einen solchen beabsichtigt, sondern sie mehr noch als früher darin bestärkt, den gewaltlosen Weg des Widerstands weiterzugehen als Aktivistin der Armen und gegen die Monopolisierung des Reichtums. Gewaltlosigkeit zu praktizieren, auch wenn es widersinnig erscheint angesichts der Schreckgestalt der herrschenden Kräfte, bedeutet nicht, auch noch die andere Backe hinzuhalten, sondern daß es dafür keine Beispiele, Vorgaben oder Richtlinien gibt. Es reicht zu wissen, daß bereits die kleinste Silbe einer Repression geradewegs in jene Gewaltverstrickung zurückführt, die dem Blutvergießen seit jeher Vorschub leistete. Diese Art grundsätzlicher Positionierung dient nicht dazu, sich über die Geschichte leidiger Konkurrenz unter Menschen mittels humanistischer Prinzipien hinwegzutäuschen, sondern mit der Entschlossenheit ihres Verzichts das Bedingungsgefüge der verletzten Souveränität in allen Lebensbereichen aufzubrechen. Als Stimme des gewaltfreien Widerstands ist Arundhati Roy so ernst zu nehmen wie stets, gerade weil sie die Legalisten der kapitalistischen Moderne mit dem Mut ihrer Stellungnahmen herausfordert.

Fußnoten:

[1]‍ ‍http://www.lebenshaus-alb.de/magazin/001796.html

[2]‍ ‍http://zmag.de/artikel/Die-neue-korporative-Befreiungstheologie

[3]‍ ‍http://zmag.de/artikel/Die-Macht-der-Zivilgesellschaft-in-einer-imperialen-Zeit

[4]‍ ‍http://zmag.de/artikel/Wie-tief-sollen-wir-graben

[5]‍ ‍http://www.info.libertad.de/story/2010/04/arundhati-roy-wanderung-mit-den-genossen

[6]‍ ‍zitiert unter: http://www.monde-diplomatique.de/pm/2011/11/11.mondeText.artikel,a0054.idx,14


22.‍ ‍April 2012