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ASIEN/751: Karsais Ratsversammlung ohne Mandat und Legitimation (SB)


Handverlesenes Gremium folgt Empfehlungen des Präsidenten


Wenngleich die Erfordernisse künftiger Kriegsführung den sukzessiven Abzug US-amerikanischer Kampftruppen aus Afghanistan zwingend erfordern, ist ein Ende des Besatzungsregimes am Hindukusch nicht in Sicht. Eine Reihe waffenstarrender Stützpunkte soll die Präsenz an diesem geostrategischen Vorposten ab unabsehbare Zeit gewährleisten, so daß sich die proklamierte Übergabe der Verantwortung an die Marionettenregierung in Kabul als Farce zur Befriedung des wachsenden Widerstands der Bevölkerung gegen die ausländischen Streitkräfte erweist. Wie von Washington gefordert produziert Präsident Hamid Karsai Zustimmung zu einem strategischen Abkommen über die langfristige Zusammenarbeit mit den USA, die freilich jeder Legitimation entbehrt.

Würde der afghanische Statthalter der Besatzungsmächte seine Landsleute fragen, was sie von diesem Ansinnen halten, wäre die Antwort eine klare Absage. Zehn Jahre Krieg haben die Lebensverhältnisse in dem ohnehin bitter armen Land weithin verschlechtert, weshalb heute nur noch eine Minderheit von Profiteuren die fortgesetzte Präsenz ausländischer Truppen befürwortet. Umfragen in jüngster Zeit haben gezeigt, daß die Bevölkerung deren sofortigen Abzug mit deutlicher Mehrheit verlangt, wobei Experten davon ausgehen, daß dies insbesondere in den Paschtunengebieten in allen Bevölkerungsschichten so gesehen wird.

Um der Mehrheitsmeinung zum Trotz ein Pseudovotum für das Abkommen mit Washington zu erwirtschaften, hat Karsai die Große Ratsversammlung einberufen. Deren Zusammensetzung spricht jedoch den traditionell mit der Loya Jirga assoziierten Prinzipien einer angemessenen Repräsentanz aller Regionen und Fraktionen Hohn, was scharfe Kritik auf den Plan gerufen hat. Die Taliban stufen die Zusammenkunft grundsätzlich als Kollaboration mit den Besatzern ein und haben das Versammlungszelt im vergangenen Jahr mit Raketen beschossen, die den Präsidenten nur knapp verfehlten.

Um erneute Angriffe zu verhindern, wurden diesmal die Sicherheitsmaßnahmen noch einmal massiv verschärft: Man sperrte Straßen weiträumig ab und schloß vier Tage lang die meisten Geschäfte und Büros in Kabul. Die Loya Jirga kam nicht wie üblich in einem Zelt, sondern in einer eigens dafür errichteten Halle zusammen, die größeren Schutz bot. Karsai legte den kurzen Weg zwischen Präsidentenpalast und Versammlungsort stets im Hubschrauber zurück, wobei ihm vier Maschinen zur Verfügung standen, um mögliche Angreifer zu täuschen. [1] Obgleich es nur zu einem unbedeutenden Raketenbeschuß kam, der keinen nennenswerten Schaden anrichtete, werfen die exzessiven Vorkehrungen doch ein bezeichnendes Licht auf die Sicherheitslage in der Hauptstadt. Nur mit gewaltigem Aufwand, dessen zweifellos immense Kosten in krassem Widerspruch zur Armut der Bevölkerung stehen, läßt sich die Illusion vorhalten, man habe den Widerstand gegen die Okkupation in die Defensive gedrängt.

Der Großen Ratsversammlung wurde auch deshalb jede Berechtigung abgesprochen, weil rund 90 Prozent der sogenannten Delegierten von Karsai und dessen Beratern handverlesen waren. Von einem Mandat der Versammlungsmitglieder kann daher nicht die Rede sein. Dies führte dazu, daß diverse Parlamentarier, prominente Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft und die politische Opposition die Zusammenkunft boykottierten. Hinzu kam das grundsätzlich ungeklärte Verhältnis der Loya Jirga zum Parlament. Insbesondere monierten jene Abgeordneten, die sich dennoch zur Teilnahme entschlossen hatten, das Timing des Präsidenten. Der Vorsitzende des Ausschusses für innere Sicherheit, Mohammad Naim Hamidzia, obzwar ein Befürworter des Abkommens mit den USA, bezeichnete die Loya Jirga als illegal und verfassungswidrig, weil sie während der Sitzungsperiode des Parlaments abgehalten wurde. Wie Hamidzia kritisierte, versuche die Regierung, das Parlament zu unterlaufen.

Warum Karsai diesen Zeitpunkt gewählt hat, liegt auf der Hand. Er wollte im Vorfeld der Afghanistankonferenz am 5. Dezember in Bonn seine Doppelstrategie unterfüttern: Einerseits den langfristigen Rückhalt der USA besiegeln, von dem sein politisches Überleben abhängt, und andererseits den Eindruck erwecken, die Amerikaner zögen ab, während die Kabuler Regierung Zug um Zug die Kontrolle übernimmt. Obgleich ein Widerspruch in sich, entspricht diese Schizophrenie Karsais Existenz als Werkzeug ausländischer Intervention, das nach allen Seiten Profil zeigen muß, um seine Pfründe zu sichern und sich unentbehrlich zu machen.

Wie der Präsident den mehr als 2.000 Mitgliedern der Großen Ratsversammlung versicherte, werde er jede ihrer Resolutionen unterstützen. Das fiel ihm nicht schwer, da die Loya Jirga wie erwartet bei ihren insgesamt 76 Beschlüssen in fast allen Fällen seinen Empfehlungen folgte. Insbesondere befürwortete die Zusammenkunft Verhandlungen über eine strategische Partnerschaft mit Washington, die eine langfristige Militärpräsenz der USA sichern sollen.

Um sich nicht allzu offensichtlich als Lakai der Amerikaner zu erkennen zu geben, sondern sich als Interessenvertreter seines Volkes darzustellen, hatte sich Karsai für enge Begrenzungen künftiger militärischer Aktivitäten der US-Truppen ausgesprochen. So forderte er insbesondere ein Ende der weithin verhaßten nächtlichen Überfälle durch Spezialkommandos, die in der Bevölkerung massive Ablehnung der Besatzer hervorrufen. Während die US-Militärs darin ihre erfolgreichste Strategie zur Aufstandsbekämpfung sehen, auf die sie keinesfalls verzichten wollen, lehnt eine überwältigende Mehrheit der Afghanen diese die eigene Ohnmacht und Rechtlosigkeit aufs Schärfste zu Tage treten lassende Aggression der ausländischen Soldaten ab. Wenn Türen eingetreten, die Bewohner aus dem Schlaf gerissen und willkürlich getötet, mißhandelt oder verschleppt werden, zeigt das Besatzungsregime seine Übermacht und Grausamkeit auf die denkbar unverhohlenste Weise.

Wie um dieses von den Afghanen zutiefst abgelehnte Übel zu unterstreichen, wurden am letzten Tag der Ratsversammlung in Ghazni zwei afghanische Polizisten von US-Soldaten getötet. Nach der von den amerikanischen Streitkräften veröffentlichten Version hatten die beiden das Feuer auf einen Kontrollposten eröffnet, der mit US-amerikanischen und afghanischen Soldaten besetzt war. Hingegen erklärte der Sicherheitschef der örtlichen Polizei, ein Spezialkommando der Amerikaner habe die beiden Polizisten im Zuge eines nächtlichen Überfalls erschossen.

Das zweite zentrale Thema der Loya Jirga versandete erwartungsgemäß im Nebel, da die Frage zur Debatte stand, wie man Friedensgespräche mit den Taliban wiederaufnehmen könnte. Wenngleich inzwischen wohl niemand mehr bestreiten dürfte, daß der Krieg in Afghanistan nicht allein mit militärischen Mitteln beigelegt werden kann, enden damit auch schon die Gemeinsamkeiten. So beließ es die Große Ratsversammlung von Karsais Gnaden denn auch bei einem Bekenntnis zur Versöhnung, die unter afghanischer Führung herbeigeführt werden müsse. Konkrete Pläne oder auch nur diesbezügliche Absichtserklärungen erwartete man vergeblich, was allerdings auch kein Wunder war, berücksichtigt man die nicht vorhandene Legitimation der Zusammenkunft.

Fußnote:

[1] http://www.nytimes.com/2011/11/20/world/asia/afghan-delegates-endorse-karzai-on-troop-extension.html

21. November 2011