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ASIEN/652: NATO täuscht Willen zum Abzug aus Afghanistan vor (SB)


NATO täuscht Willen zum Abzug aus Afghanistan vor

Talinn-Gipfel legt Grundlage für Dauerstationierung am Hindukusch


Das Engagement in Afghanistan bereitet der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO), die sich rühmt, die mächtigste Militärallianz der Weltgeschichte zu sein, die größte Krise ihrer Geschichte. Was ein Monat nach den Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001 als Jagd auf deren mutmaßlichen Drahtzieher Osama Bin Laden begann - trotz der erklärten Bereitschaft der Führung der damals in Kabul regierenden Taliban, den Chef des Al-Kaida-"Netzwerkes", zwecks strafrechtlichen Prozesses an ein neutrales Drittland auszuliefern -, hat sich inzwischen zu einer scheinbar niemals endenden Aufstandsbekämpfungskampagne mit starkem neokolonialistischem Beigeschmack entwickelt. Schlimmer noch, neuneinhalb Jahre nach dem Einmarsch der ersten NATO-Soldaten hat man den Eindruck, daß die Ergreifung des angeblichen Hauptverantwortlichen für die rund 3000 Opfer der Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon überhaupt keine Rolle mehr spielt. In der laufenden Diskussion um den Afghanistan-Einsatz ist der Name Bin Laden jedenfalls lange nicht mehr gefallen.

Und weil man den gefährlichsten "Terroristen" der Welt nicht gefangen hat und vielleicht niemals wirklich fangen wollte, mußte man für den Afghanistan-Einsatz, der inzwischen Tausenden Menschen - NATO-Soldaten, NGO-Mitarbeitern, Angehörigen der afghanischen Armee und Polizei, Aufständischen sowie Zivilisten - das Leben gekostet hat, eine ganz andere Begründung finden. Man sei gekommen, um das Land zu stabilisieren, erklärte man 2002 bei der Verkündung der NATO-Mission der International Security Assistance Force (ISAF). Acht Jahre später ist in Afghanistan von der in Aussicht gestellten "Sicherheit und Stabilität" wenig zu spüren. In weiten Teilen des Landes, vornehmlich in den paschtunischen Rebellengebieten im Süden und Osten an der Grenze zu Pakistan, wird erbittert, und zwar täglich, gekämpft. In den anderen Teilen, darunter auch in der von der Regierung Hamid Karsais kontrollierten Hauptstadt Kabul, kommt es immer wieder zu Bombenanschlägen und Überfällen. Auf den größeren Verbindungsstraßen müssen Verkehrsteilnehmer inzwischen ebenso viel Angst haben, durch eine versteckte Bombe der Taliban in die Luft gejagt wie durch verängstigte Soldaten eines NATO-Konvois über den Haufen geschossen zu werden.

2006 haben die Taliban, die niemals verschwunden waren, aber offenbar einige Jahre gebraucht hatten, um den "Regimewechsel" und ihre Vertreibung aus Kabul wegzustecken und sich zu reorganisieren, zu einer regelrechten Offensive angesetzt. Angesichts der ständig steigenden Verlustzahlen am Hindukusch warf zwei Jahre später Barack Obama in seiner Rolle als demokratischer Bewerber um die US-Präsidentschaft der republikanischen Regierung George W. Bushs vor, mit dem Einmarsch in den Irak und aufgrund der daraus erwachsenen, gewaltigen Beanspruchung der amerikanischen Streitkräfte Afghanistan aus den Augen verloren zu haben, und versprach für den Fall, daß er das Rennen um den Einzug ins Weiße Haus gewinnt, ein energischeres Vorgehen. Das Versprechen hat Obama als Präsident eingehalten. In weniger als zwei Jahren hat sich die Zahl der amerikanischen Soldaten in Afghanistan von rund 28.000 auf mehr als 100.000 fast vervierfacht. 2009 ließ Obama per CIA-Drohnen mehr Raketen auf Talibanziele im pakistanischen Grenzgebiet abfeuern als Bush jun. während seiner gesamten achtjährigen Amtszeit.

Das Ergebnis der Eskalationsstrategie Obamas ist verheerend: drastisch ansteigende Verlustzahlen und eine immer selbstbewußter auftretende Taliban-Bewegung, deren Reihen trotz Verlusten sich durch die wachsende Schar der Besatzungsgegner ständig füllen - von der zunehmenden Destabilisierung des Atomstaats Pakistan ganz zu schweigen. Die gestiegene ausländische Truppenpräsenz, gepaart mit der offensiven Strategie der NATO, welche die Taliban entweder zur Kapitulation oder zur Teilnahme an Friedensverhandlungen zu westlichen Bedingungen zwingen will, fordert zunehmende Opfer unter der Zivilbevölkerung, die sich in der Folge verstärkt mit den Aufständischen solidarisiert.

In einem Artikel, der am 26. April unter der Überschrift "Elite U.S. Units Step Up Effort in Afghan City Before Attack" erschienen ist, berichteten Thom Shanker, Helene Cooper und Richard A. Oppel jun. in der New York Times von den aktuellen Bemühungen der US-Spezialstreitkräfte, im Vorfeld der bevorstehenden NATO-Großoffensive um die Taliban-Hochburg Kandahar - die vom Pentagon und Weißen Haus gleichermaßen zur "Entscheidungsschlacht" hochstilisiert wird - so viele mutmaßliche Führungsmitglieder des Aufstands wie möglich im Rahmen von Nacht-und-Nebel-Aktionen unschädlich zu machen. Shanker, Cooper und Oppel jun. zitierten anonym einen US-Militär, der an der Planung der Kandahar-Offensive beteiligt ist, dahingehend, daß die Schattenkrieger des ISAF-Oberkommandierenden General Stanley McChrystal in den letzten Wochen "eine große Anzahl der führenden Aufständischen in und um Kandahar entweder gefangen oder getötet" hätten.

Doch was sich zunächst wie eine taktische Erfolgsmeldung der NATO anhört, entpuppt sich im nächsten Moment eventuell als strategisches Eigentor beim erklärten Ringen der westlichen Streitkräfte um die "Köpfe und Herzen" der Zivilbevölkerung. In derselben Ausgabe der New York Times berichtete Alissa J. Rubin aus Kabul, am 25. April hätte in der Provinz Logar, rund 50 Kilometer östlich der afghanischen Hauptstadt, eine aufgebrachte Menschenmenge aus Verärgerung über die gemeinsamen nächtlichen Razzien der westlichen Truppen und der afghanischen Armee zwölf Lastwagen in Brand gesetzt, die Treibstoff zu einem NATO-Stützpunkt im Osten Afghanistans transportieren. Rubin zitierte Mohammed Sharif, einen Lehrer aus Pul-i-Alam, der Provinzhauptstadt von Logar, mit folgender Erklärung für den Überfall auf die Treibstofftransporter: "Die Leute haben diese Nachtrazzien und die willkürlichen Operationen satt. Die dringen nachts in die Häuser ein und töten unschuldige Menschen. Manchmal töten sie auch Mitglieder der Opposition, aber in der Regel fügen sie einfachen, unschuldigen Menschen Schaden zu."

Bereits am 23. April war es in Talinn, der Hauptstadt Estlands, zum Treffen der NATO-Außenminister gekommen. Angesichts der schwierigen Lage in Afghanistan und des schwindenden Rückhalts der Bevölkerung in den NATO-Mitgliedsstaaten für das militärische Engagement am Hindukusch wurde ein Plan verabschiedet, der den Eindruck erwecken sollte, man beabsichtige keine Dauerstationierung, sondern bereite jetzt schon den Abzug vor. Bereits Anfang des Jahres hatte Obama der US-Öffentlichkeit seine Truppenaufstockung als "Einstieg in den Ausstieg" verkauft und sogar Mitte 2011 als Datum für den Beginn des Abzuges genannt. Nach den Vorstellungen von Obama und McChrystal sollen die Taliban bis dahin entweder bezwungen oder dermaßen geschwächt worden sein, daß man mit der Übergabe der Aufgabe der Gewährleistung von Sicherheit an die neue Afghanische Nationalarmee (ANA) und Afghanische Nationalpolizei (ANP) anfangen könnte.

Unter dem wachsamen Auge von McChrystal und Obamas Chefdiplomatin Hillary Clinton hielten sich in Talinn die NATO-Außenminister an dieses Skript. Vor dem Hintergrund des bevorstehenden Abzuges der kanadischen Truppen und des Auseinanderfallens der niederländischen Regierung wegen Streits in der Afghanistanfrage waren alle bemüht, unbändigen Siegeswillen zu demonstrieren. Die NATO dürfe gegen die Taliban nicht verlieren, also werde sie nicht verlieren, so die tautologische Generalparole. Fogh Rasmussen, der ehemalige dänische Premierminister und amtierende NATO-Generalsekretär, betonte auf der Pressekonferenz, es würde keine "Flucht Richtung Ausgang" geben; man werde die afghanische Armee und Polizei solange vor Ort unterstützen, bis sie in der Lage seien, die alleinige Verantwortung für Frieden und Ordnung zu übernehmen. Auf dem Talinner Außenministertreffen hatte Kim Sengupta von der Londoner Zeitung Independent - siehe den Artikel "Allies to turn blind eye to corruption as Afghan exit strategy agreed - Troops will remain in place 'for decades' after handover to support local forces" vom 24. April - einen NATO-Diplomat nach seiner Einschätzung gefragt, wie lange dies dauern könnte. Die anonym gegebene Antwort des Gesprächspartners Senguptas: "Jahrzehnte."

26. April 2010