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ASIEN/639: Mudschaheddin im Dienst der Okkupation Afghanistans (SB)


Auslagerung der Kriegsführung läßt Warlords wiedererstarken


Die Fragmentierung Afghanistans in unterschiedliche Volksgruppen und die gesellschaftliche Organisation weiter Teile des Landes in einer traditionellen Stammesstruktur mit ausgeprägt wehrfähigen Zügen konfrontiert imperialistische Mächte mit Hindernissen, an denen bislang alle Invasoren gescheitert sind. Nicht anders ergeht es den Vereinigten Staaten und ihren NATO-Verbündeten, die inzwischen im neunten Jahr gegen wachsenden Widerstand verschiedener Fraktionen kämpfen, die der Haß auf die fremden Aggressoren und deren Besatzungsregime verbindet. Da die Nation am Hindukusch über keine Zentralregierung verfügt, die ihren Einfluß in allen Regionen durchsetzen kann, stößt die klassische Strategie imperialer Mächte, zu teilen und zu herrschen, offenbar an ihre Grenzen, weil Afghanistan seit jeher unterteilt ist, ohne deswegen in seiner Gesamtheit beherrschbar zu sein.

Das Kalkül der Invasoren, sich dauerhaft in Stützpunkten festzusetzen und damit das ganze Land zu kontrollieren, jedoch den Blutzoll der Herrschaftssicherung auf einheimische Kräfte abzuwälzen, geht bislang nicht auf. Weder war die Marionettenregierung in Kabul in der Lage, ihren Einfluß auf die Regionen auszuweiten, noch gelang es, die einheimischen Fraktionen derart aufeinander zu hetzen, daß sie den Kampf gegen die Okkupanten vollends vergaßen und sich mehrheitlich kaufen ließen. Daher verfallen die Besatzer fast zwangsläufig auf eine alte Strategie, die als einzige von Erfolg gekrönt war, der freilich nur befristeter Natur sein konnte. Wie sie bei ihrem Angriff vor mehr als acht Jahren die Taliban mit Hilfe lokaler Kriegsherrn zügig zurückgedrängt und besiegt haben, nur um danach mit den erstarkten Gruppierungen der Mudschaheddin ihre liebe Not zu bekommen, nach deren Eindämmung wiederum die Taliban auf den Plan traten, wird nun dasselbe Rad ein weiteres Mal gedreht.

Da weder die Besatzungstruppen, noch die einheimische Armee und Polizei den Widerstand wirksam bekämpfen können, verfällt man einmal mehr auf die Mudschaheddin als einzige Kraft, der man zutraut, mit den Taliban fertig zu werden. Dank ihrer langjährigen Erfahrung im Kampf gegen die sowjetischen Truppen und später gegen die Taliban haben die lokalen Milizen alle Vorteile auf ihrer Seite, die nicht ortsansässigen Sicherheitskräften und um so mehr ausländischen Soldaten fehlen. Die Mudschaheddin sind Teil der Bevölkerung und verfügen über Verbindungen untereinander, die reaktiviert werden können. Sie besitzen nicht nur Ortskenntnisse, sondern können sich auch rasch darüber Aufschluß verschaffen, wer in ihrem Umfeld für die unterschiedlichen Fraktionen aktiv wird. [1]

Bezeichnenderweise fordert Präsident Hamid Karzai diese Vorgehensweise bereits seit drei Jahren, doch stieß er damit bis vor kurzem bei den Besatzungsmächten auf taube Ohren. Diese fürchten zu Recht eine Rückkehr der mächtigen Kriegsherrn, die zu den größten Drogenhändlern des Landes gehören und die Bevölkerung drangsalieren. Unterstützt man die Mudschaheddin, erzielt man möglicherweise kurzfristig Erfolge im Kampf gegen den Widerstand, ruft aber langfristig unweigerlich die alten Regionalmachthaber auf den Plan.

Dies ist vor allem deshalb nahezu unvermeidlich, weil man die Milizen völlig nach eigenem Gutdünken und fern jeder Kontrolle oder gar mandatierten Auftragslage vom Zügel läßt. Hinzu kommt der Umstand, daß die Erfolge der Mudschaheddin gegen hochgerüstete und kampferprobte Gegner nicht ohne die Versorgung mit Waffen, Logistik und finanziellen Mitteln möglich sind. So werden die Milizen im Norden des Landes von den Special Forces des US-Streitkräfte unterstützt und vom afghanischen Geheimdienst geführt. In ihren offiziellen Verlautbarungen bestreiten die US-Militärs zwar, Waffen an die Milizen weiterzugeben, doch ist bekannt, daß diese von den afghanischen Sicherheitskräften aufgerüstet werden. Letztere stellen zudem Transportmittel bereit, sorgen für die Kommunikation und leisten medizinische Hilfe, so daß man von einer Art Auslagerung der Kriegsführung sprechen kann.

Der Sinneswandel der Besatzungsmächte hinsichtlich einer Einbindung und Unterstützung der Mudschaheddin hängt unmittelbar mit dem Erstarken des Widerstands im Norden Afghanistans zusammen, den man im kommenden Frühjahr endgültig zu verlieren droht, sofern man nicht im Winter die Oberhand gewinnt. Seit die Taliban Anfang 2008 begannen, verstärkt in dieser Region zu operieren, kam es zu Spannungen mit den usbekischen und tadschikischen Volksgruppen, die den Paschtunen traditionell mit Mißtrauen begegnen. Als die Regierung in Kabul die Durchführung der Präsidentschaftswahl im August nach ihren Maßgaben zu realisieren trachtete, begann sie verstärkt, Mudschaheddin und andere lokale Milizen zu reaktivieren und einzubinden. Während es dem afghanischen Geheimdienst in gewissem Umfang gelang, sich existierende Feindseligkeiten und Konflikte zunutze zu machen, sind paschtunische Bevölkerungsteile weit weniger bereit, gegen die Taliban zu Felde zu ziehen.

Welch verheerende Folgen die Strategie der westlichen Mächte zeitigt, den Bodenkrieg in die ihnen allenfalls sporadisch zugänglichen Regionen zu tragen, dokumentiert auch der jüngste Anschlag in Pakistan, bei dem mehr als 90 Menschen getötet wurden. Wenngleich sich noch niemand zu diesem Angriff bekannt hat, geht man nach ersten Erkenntnissen davon aus, daß er einem örtlichen Bündnis gegen die Taliban galt. In der nordwestlichen Grenzprovinz forderte die Explosion auf einem Sportplatz des Ortes Shah Hasan Khan nahe der Stadt Lakki Marwat 93 Todesopfer und etwa 100 Verletzte. In Lakki Marwat war eine Stammesmiliz gegründet worden, die nach dem Abzug der pakistanischen Sicherheitskräfte die Rückkehr der Taliban verhindern soll. Offenbar handelt es sich bei dem Anschlag um einen Racheakt von Kräften des Widerstands aus der angrenzenden Provinz Waziristan. [2]

Anmerkungen:

[1] Afghans Answering the Call to Fight (03.01.10)

New York Times

[2] Böses Erwachen (02.01.10)

Telepolis

4. Januar 2010